Zwangsgedanken in der Schwangerschaft und nach der Geburt

Von Sarina Kühne, PD Dr. Susanne Fricke und Martin Niebuhr


Hast du große Angst davor, dass deinem neugeborenen Baby durch deine Unachtsamkeit oder Fehler etwas Schlimmes passieren könnte? Achtest du als Schwangere übermäßig darauf, dein ungeborenes Kind im Bauch vor jeglichem Schaden zu bewahren? Oder leidest du vielleicht unter unerwünschten Gedanken, deinem Baby etwas anzutun? Falls du dich als werdende Mutter oder frischgebackener Elternteil darin wiedererkennst und durch diese Gedanken und Ängste sehr belastet bist, könntest du unter einer Zwangserkrankung leiden. Mithilfe verhaltenstherapeutischer Verfahren sind Zwangserkrankungen heutzutage sehr gut therapierbar.

Das Entstehen neuen Lebens ist wohl eines der alltäglichsten, aber dennoch faszinierendsten Wunder, das wir als Mensch erleben können. Überall hört man glückliche Eltern von ihren Kindern schwärmen und auch mit der Schwangerschaft scheint für viele werdende Eltern endlich ein Traum wahr zu werden.

Ob das Kind noch im Bauch oder schon auf der Welt ist - das Elternglück scheint perfekt zu sein. Natürlich hört man ab und zu von den stressigen und schwierigen Zeiten, die so ein Neugeborenes mit sich bringt, aber sollte das nicht beim Anblick der funkelnden Augen des Nachwuchses vergessen sein? Schwangerschaft und Elternglück als größter Traum: Vielleicht hast du es dir auch so vorgestellt - und dennoch findest du dich plötzlich in großer Verzweiflung über permanente Ängste und aufdringliche Gedanken rund um dein Baby wieder.

Zwangsgedanken rund um ein geborenes oder ungeborenes Baby können verschiedene Formen annehmen. Vielleicht kannst du dein Kind keine Sekunde aus den Augen lassen - aus Angst, ihm könnte etwas Schlimmes passieren. Und selbst wenn es schläft, findest du keine Ruhe, weil du unbedingt noch einmal kontrollieren musst, ob das Fenster wirklich geschlossen ist.

Oder du analysierst in der Schwangerschaft jeden einzelnen Inhaltsstoff von Lebensmitteln, um wirklich sicherzugehen, dass nichts enthalten ist, was dem Baby schaden könnte. Selbst Leitungswasser könnte plötzlich eine Gefahr darstellen.

Vielleicht fürchtest du auch, dass du dein Kind oder dich durch mangelnde Hygiene oder den Kontakt mit Gefahrenquellen krank machen könntest. Um dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen, vermeidest du Kontakt zu anderen Menschen oder Dingen. Und kommst du trotzdem mal in Kontakt, versuchst du den Schmutz durch aufwendige und zeitraubende Wasch- und Putzaktionen ganz sicher zu entfernen. Aber kaum ist die eine Gefahr gebannt, kommen dir neue Befürchtungen über Kontaminations- und Gefahrenquellen, die du noch nicht bedacht hast.

Möglicherweise suchen dich auch erschütternde Gedanken und Ängste heim, dass du dein Kind durch aggressives Schütteln verletzen oder beim Windelwechseln ungewollt sexuell missbrauchen könntest. Ständig fragst du dich, ob du nicht eine Gefahr für dein Baby darstellst und im Inneren nicht vielleicht ein abgrundtief schlechter Mensch bist.

Und bei der ganzen psychischen Belastung, die auf dir liegt, fragst du dich dann vielleicht sogar noch vorwurfsvoll, ob du dein Kind überhaupt wirklich liebst. Denn lieben nicht alle Eltern ihre Kinder? Verzweifelt suchst du nach dem Gefühl von Liebe - aber je mehr du suchst, desto mehr entgleitet es dir. Und wieder stellst du dir die Frage: Was bist du nur für ein Mensch, der nicht mal sein Kind liebt?

Stress, Schlafmangel, Unruhe, Depressionen und in sehr seltenen Fällen sogar Psychosen - all das kann die Geburt eines Babys mit sich bringen. Vielleicht hast du schon von postpartalen Stimmungskrisen gehört. Vielleicht hast du deine psychischen Symptome recherchiert und vermutet, dass du unter einer Wochenbettdepression oder gar postnatalen Psychose leiden könntest. Woher sonst sollten diese ganzen schrecklichen Gedanken sonst kommen? Die Antwort könnte aber eine ganz andere sein: Du leidest unter Zwangsgedanken.

Zwangsgedanken während der Schwangerschaft oder bis zu einem Jahr nach der Geburt stellen einen spezifischen Subtyp der Zwangsstörung dar. Bei diesem Subtypen leiden Betroffene unter aufdringlichen und beängstigenden Gedanken und Befürchtungen, die sich auf die Schwangerschaft, die Geburt oder das Neugeborene beziehen. Diese Zwangsgedanken führen bei Betroffenen zu einer großen Beunruhigung, auf welche sie mit Zwangshandlungen wie Waschen und Reinigen, Kontrollieren, Vermeiden oder zwanghaftes Grübeln reagieren - mit dem Ziel, Beruhigung und Sicherheit zu erlangen. Im englischsprachigen Raum wird diese Form von Zwangsstörung auch als “Perinatal OCD” oder “Postpartum OCD” bezeichnet.

Symptome von Zwangsgedanken während der Schwangerschaft und nach der Geburt

Eine Zwangsstörung betrifft etwa zwei bis drei von 100 Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt. Dabei kann eine bereits vorhandene Zwangssymptomatik schlimmer werden oder eine Zwangsstörung erstmals bzw. erneut auftreten. Zudem können Zwangsgedanken im perinatalen und postnatalen Zeitraum gleichzeitig mit einer Wochenbettdepression auftreten. Etwa eine von sieben Frauen hat nach der Schwangerschaft eine Wochenbettdepression. Studien zeigen, dass etwas weniger als die Hälfte der Frauen mit einer Wochenbettdepression auch unter aufdringlichen und andauernden Gedanken darüber, dass sie ihrem Kind absichtlich oder aus Versehen Leid hinzufügen könnten, leiden.

Dass sich eine (werdende) Mutter um das Wohlergehen ihres Kindes Gedanken macht oder ab und zu Ängste rund um das Baby hat, ist etwas ganz Normales. Schließlich löst eine Schwangerschaft erhebliche Hormonschwankungen aus, und sich um ein neues Leben zu kümmern, bringt eine enorme Verantwortung mit sich. Außerdem gelten in der Schwangerschaft und nach der Geburt teilweise andere Regeln, die z. B. die Ernährung oder die Hygiene betreffen und die sinnvollerweise beachtet werden müssen. Dennoch lässt sich eine Grenze zwischen gewöhnlichem Besorgnis und Zwangsgedanken ziehen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen sind im Vergleich zu dem, wie Gesunde denken und handeln, deutlich übertrieben. Sie weichen außerdem davon ab, was Expertinnen (z. B. die Frauenärztin) empfehlen. Auch frischgebackene Väter sind gar nicht so selten von Zwangsgedanken betroffen, hier handelt es sich dann eher um aggressive oder sexuelle Zwangsgedanken.

Die Symptome einer Zwangserkrankung während der Schwangerschaft und nach der Geburt können wie folgt aussehen:

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Beispiele für Zwangsgedanken

Zwangsgedanken sind aufdringliche Gedanken, Gefühle, Impulse und Zweifel, die eine ständige Anspannung verursachen. Diese können sich um jedes Thema bezüglich deiner Schwangerschaft oder deines Babys drehen.

Die Inhalte von Zwangsgedanken während der Schwangerschaft und nach der Geburt gehen üblicherweise mit einer spezifischen Angst oder einer spezifischen Zwangs-Thematik des Betroffenen einher. Das heißt konkret: Nicht jeder hat auch die gleichen oder ähnliche Zwangsgedanken. Die Formen, die der Zwang annimmt, hängen ganz von den individuellen Ängsten der Betroffenen ab. So kämpft eine betroffene Mutter vielleicht mit aufdringlichen Kontaminationsängsten, während ein anderer betroffener Vater befürchtet, sein Kind missbrauchen zu können. Auch eine Kombination verschiedener Befürchtungen ist möglich.

Hier ein paar Beispiele für Zwangsgedanken während oder nach der Schwangerschaft:

  • Du hast starke Befürchtungen, dass du dein ungeborenes Kind durch das Konsumieren von Lebensmitteln oder Getränken vergiften könntest, z. B. übertriebene Angst vor Schadstoffen im Leitungswasser oder Angst, etwas aus dem Kühlschrank zu essen, weil dort auch ein verpackter Rohmilchkäse liegt (Kontaminationsängste).
  • Du hast übertriebene Ängste, deinem ungeborenen Baby durch Krankheitserreger zu schaden, z. B. Befürchtungen, an Toxoplasmose zu erkranken, nachdem du eine Freundin mit einer Katze besucht hast (Kontaminationsängste).
  • Du befürchtest, nicht “genug” Glücksgefühle und Liebe für dein Kind zu empfinden und fühlst dich schuldig, wenn du stattdessen genervt oder gestresst bist (ROCD). Hinweis: ROCD bezieht sich i.d.R. auf romantische Beziehungen, kann sich aber auch auf Freundschaften, Verwandtschaften, Haustiere oder wie in diesem Fall auf die Eltern-Kind-Beziehung beziehen. Der verlinkte Artikel sollte entsprechend aus dieser Perspektive gelesen werden.
  • Du hast Angst davor, dein Kind z. B. beim Windeln wechseln sexuell zu missbrauchen oder sexuelle Erregung im Zusammenhang mit dem Kind zu empfinden (Pädophile Zwangsgedanken).
  • Du befürchtest, dass dein Baby eine schlimme Krankheit haben könnte und achtest akribisch auf jedes mögliche Anzeichen (Zwangsgedanken über die Gesundheit).
  • Du hast ungewollte Gedanken und Bilder darüber, wie deinem Kind körperliche Gewalt oder anderes Leid angetan wird oder du selbst ihm Leid zufügen könntest (Aggressive Zwangsgedanken).
  • Du hast Angst, dass dein Baby durch Bakterien, Viren und andere Erreger krank werden könnte, weil du nicht aufgepasst hast, z. B. weil du den Schnuller nicht ausreichend abgekocht hast (Kontaminationsängste).
  • Du hast Angst, dass dein Baby durch Schadstoffe krank wird, weil du nicht aufmerksam und sorgfältig genug warst, z. B. weil du die Flasche nicht ausreichend ausgespült hast und Geschirrspülreiniger an der Flasche war (Kontaminationsängste).
  • Du befürchtest, dass deinem Baby durch deine Verantwortung (z. B. offen gelassene Fenster oder Türen) etwas Schlimmes passieren könnte (Zwangsgedanken, einen Fehler zu machen).
  • Du möchtest um jeden Preis alles perfekt machen, um zu verhindern, eine “schlechte Mutter” oder ein “schlechter Vater” zu sein (Zwanghafter Perfektionismus).

Du siehst: Den Zwangsgedanken in der Schwangerschaft und nach der Geburt unterliegen in der Regel konkrete Befürchtungen. Diese können - je nach Thema, um das sich die Zwangsgedanken drehen - unterschiedlich sein. Mehr dazu findest du in den Blog-Artikeln zum jeweiligen Subtypen.

Beispiele für Zwangshandlungen

Auf die Zwangsgedanken reagierst du mit Zwangshandlungen. Darunter versteht man wiederholte physische Handlungen, Grübeleien (sogenannte “mentale Zwangshandlungen”) und Vermeidungen, die das Ziel haben, deine Befürchtungen um jeden Preis zu verhindern und deine Zwangsgedanken und Anspannung loszuwerden. Auch die Zwangshandlungen sind im Vergleich zu dem, wie sich Gesunde verhalten oder was Experten raten, deutlich übertrieben. Zwangshandlungen können je nach Befürchtung beispielsweise so aussehen:

  • Du vermeidest bestimmte Lebensmittel und Getränke oder kontrollierst mehrfach deren Inhaltsstoffe, um mögliche gesundheitliche Folgen für dein ungeborenes Kind zu verhindern.
  • Oder du vermeidest diese Lebensmittel und Getränke, damit dein Kind durch das Stillen keinen Schaden nimmt. Hierbei geht es nicht um vernünftige Richtlinien (z. B. kein Genuss von rohem Fisch während der Schwangerschaft), sondern um übertriebene Verhaltensweisen oder Vermeidungen, die andere Schwangere oder Stillende nicht befolgen.
  • Du versuchst, die Liebe zu deinem Kind zu “messen” und vergleichst dich mit anderen Eltern, um sicherzustellen, dass du keine “schlechte” Mutter bzw. kein “schlechter” Vater bist. Du schaust dir beispielsweise Social Media-Beiträge von anderen Eltern an und vergleichst dich oder suchst das Gespräch mit anderen Eltern, um unterschwellig nach deren Liebe zu ihrem Kind zu fragen.
  • Du wechselst die Windeln deines Babys nur noch im Beisein deiner Partnerin - aus Angst, es sonst sexuell missbrauchen zu können oder eine unerwünschte Erregung zu spüren.
  • Du kontrollierst dich auf Anzeichen sexueller Erregung beim Stillen deines Kindes, um sicherzustellen, dass du keine pädophilen Neigungen hast.
  • Du recherchierst jedes Anzeichen auf Missempfinden bei deinem Kind, um sicherzustellen, dass es keine tödliche Krankheit hat.
  • Du vermeidest, mit deinem Kind allein zu sein - aus Angst, ihm versehentlich oder absichtlich körperliche Gewalt zuzufügen.
  • Du putzt, wäschst und reinigst alles im Übermaß, um eine Infektion deines Kindes mit Erregern zu verhindern.
  • Du kontrollierst mehrfach, ob du Fenster und Türen wirklich geschlossen hast und ob der Herd und alle Kerzen aus sind, um fatale Fehler durch deine Verantwortung zu verhindern.
  • Du kannst dein Kind keine Sekunde aus den Augen lassen - aus Angst, ihm könnte sonst etwas zustoßen. Möglicherweise bekommst du dadurch kaum Schlaf.
  • Du holst dir regelmäßig bei Ärzten Rückversicherung ein, dass dein Baby auch wirklich gesund ist, um deiner Angst vor Krankheiten entgegenzuwirken.
  • Du googelst Artikel über Gewalt an Babys durch Mütter, um dir die Beruhigung zu holen, dass du so etwas nicht machen würdest.
  • Du holst dir bei Familienmitgliedern, Freunden oder deinem Partner Rückversicherung ein, dass du keine schlechte Mutter bzw. kein schlechter Vater bist.

Helfen Zwangshandlungen dabei, dir Gewissheit zu verschaffen und deine Anspannung loszuwerden? Darauf haben wir eine klare Antwort, die sich vermutlich mit deiner Erfahrung deckt: Der Zwang hält nicht, was er verspricht, sondern verursacht meistens sogar das genaue Gegenteil.

Mentale und physische Rituale beruhigen (wenn überhaupt) nur kurzfristig, aber steigern deine Anspannung und Unsicherheit immer weiter. Aber jetzt die gute Nachricht: Es gibt hocheffektive therapeutische Verfahren, mit denen man Zwangsgedanken überwinden kann.

Therapie bei Zwangsgedanken während der Schwangerschaft und nach der Geburt

Die Therapie der ersten Wahl für alle Subtypen der Zwangsstörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsmanagement.

Bei dieser effektiven Form der Psychotherapie lernst du, dich Schritt für Schritt angstauslösenden Situationen und Gedanken zu stellen (Exposition) ohne zu versuchen, die ausgelöste Anspannung mithilfe von problematischen Bewältigungsstrategien wie Zwangshandlungen, Vermeidungen oder Rückversicherungen zu verringern (Reaktionsmanagement).

Mithilfe solcher Expositionen machst du die Erfahrung, dass du zwangsauslösende Situationen und Gedanken aushalten kannst und deine Anspannung sogar nachlässt, wenn du nichts dagegen unternimmst. Dadurch, dass du dir Schritt für Schritt beibringst, auf deine Anspannung auf eine neue Art zu reagieren, geht deine Zwangssymptomatik zurück und die Anspannung lässt langfristig nach.

Auch wenn die Therapie mit Expositionen als anstrengend gilt, so ist sie für Betroffene doch sehr lohnend: Zwangsstörungen zählen heute zu den psychischen Störungen mit den besten Therapieaussichten.

Wahrscheinlich stellst du dir nun die Frage, warum dir gerade Expositionen helfen sollen, besser mit deinen Befürchtungen und unangenehmen Gedanken und Gefühlen umzugehen - schließlich hast du doch bisher genau das Gegenteil gemacht. Wir verstehen deine Bedenken, aber wollen dich trotzdem inspirieren und motivieren, einen neuen Umgang mit deinen Sorgen zu erlernen.

Einen neuen Umgang lernen

Schwangerschaften, Geburten und Babys stellen ohnehin schon eine Herausforderung für alle (werdenden) Eltern dar. Die schrecklichen Gedanken und Zweifel, mit denen du konfrontiert bist, machen das Ganze dann noch schwerer. Hier kommt der Zwang ins Spiel.

Er überzeugt dich davon, dass du mit diesen schrecklichen Gedanken und Vorstellungen doch niemals ein guter Elternteil sein könntest - dabei ist das genaue Gegenteil der Fall. Diese Befürchtungen sind, wie bei anderen Subtypen von Zwangsstörungen, ein Hinweis auf die eigenen Werte und das, was einem wichtig ist. So sind gerade Eltern, die sich so sehr um ihr Kind Gedanken machen, die, die sich am meisten bemühen, gute Eltern für ihre Kinder zu sein. Vielleicht sogar schon etwas “zu gute” Eltern.

Es ist vollkommen naheliegend und verständlich, dass man als werdende oder frische Eltern in einer (Internet-)Welt voll mit perfekten und retuschierten Social-Media-Beiträgen, die nur so vor Elternglück strotzen, Zweifel an seiner eigenen Kompetenz und Würde als Mutter oder Vater bekommt. Genau dort greift der Zwang an.

Der Zwang liefert auf deine Zweifel den “passenden” Lösungsvorschlag: Wenn du nur lange genug kontrollierst, vermeidest, grübelst, Rückversicherungen einholst und andere Zwangshandlungen ausführst, dann wirst du deine zwanghaften Befürchtungen verhindern und deine Zwangsgedanken und Anspannung loswerden. Dieser Lösungsvorschlag hört sich zwar plausibel an, aber er hält nicht, was er verspricht - sondern verstärkt langfristig sogar deine Zwangssymptomatik.

Mit Zwangshandlungen versuchst du, dir hundertprozentige Gewissheit zu verschaffen - wirst diese jedoch nie erlangen. Stattdessen werden sie genau das Gegenteil vom erhofften Effekt bewirken: Deine Ungewissheit wird noch größer und wird sich noch dringlicher anfühlen. Dieser Effekt konnte auch in Studien nachgewiesen werden: Je häufiger man etwas kontrolliert, desto unsicherer wird man. Dieser Zusammenhang gilt sogar für gesunde Menschen, die keine Zwangsstörung haben. Es ist also nicht überraschend, dass dir keine deiner Zwangshandlungen bisher geholfen hat.

Damit ist klar, dass für eine langfristige Genesung ein anderer, effektiverer Lösungsansatz gewählt werden muss. Expositionen mit Reaktionsverhinderung haben sich als Goldstandard bei der Therapie von Zwangsstörungen erwiesen: Sie unterbrechen den Teufelskreis, der dich in den Zwangshandlungen und im Grübeln gefangen hält.

Verhinderst du deine Reaktionen (z. B. Vermeidung, Kontrolle, Rückversicherungen, Grübeleien) auf die Zwangsgedanken und Ängste, entziehst du ihnen die Macht über dich und reduzierst damit auf Dauer die Dringlichkeit der Zwangsgedanken. Du lernst, Ungewissheit zu tolerieren und dein Leben weiterzuleben, ohne eine hundertprozentige Gewissheit zu haben. Und bist du fähig, mit Ungewissheit zu leben, bist du auch fähig, deine Zwangshandlungen aufzugeben. Langfristig führt das Unterlassen von Ritualen zu einer Reduktion der Zwangssymptomatik und damit zu einer geringeren Anspannung und einer höheren Lebensqualität.

Akzeptanz-Herausforderungen bei Zwangsgedanken rund um die Schwangerschaft

Vielleicht hast du nun bis hierher gelesen, aber bist immer noch nicht wirklich davon überzeugt, dass dir Expositionen bei deinen Sorgen helfen können. Denn bist du nicht sogar ein verantwortungsloser Mensch, wenn du dein Kind mit Expositionen vielleicht sogar in Gefahr bringst und Gefahrenquellen nicht mehr kontrollierst?

Dafür möchten wir dich auf ein Gedankenexperiment einladen.

Vielleicht schirmst du dein Kind jahrelang vor allen möglichen Erregern oder anderen gesundheitlichen “Gefahren” ab, um zu verhindern, dass es krank werden könnte. Die Folge: Ein schwaches Immunsystem, das möglicherweise sogar zu einem größeren Gesundheitsrisiko führt.

Vielleicht gehst du wegen aggressiver oder sexueller Zwangsgedanken auf Abstand zu deinem Kind. Du denkst, du tust deinem Kind damit etwas Gutes, da du ja eine (vermeintliche) Gefahr darstellst. Die Folge: Deinem Kind entgeht die körperliche Nähe seiner Eltern, auf die es für eine gute Entwicklung angewiesen ist.

Oder du hast so große Angst um dein Kind, dass du jegliche potentielle Gefahrenquelle entfernst und dein Kind nicht mehr nach draußen nimmst. Die Folge: Du nimmst deinem Kind die Möglichkeit, durch Fehler eigene Lernerfahrungen zu machen und verhinderst die Sozialisierung mit der Umwelt und anderen Menschen.

Oder du klammerst dich durch deine Angst vor “unzureichender” Liebe deinerseits zu sehr an dein Kind. Die Folge: Dein Kind entwickelt zu dir als Mutter oder Vater eine gestörte Beziehung, was möglicherweise in der Zukunft zu weiteren Sozialisierungs- und Beziehungsproblemen führt.

Wahrscheinlich bist du ständig so übervorsichtig und ängstlich, dass du jegliche Gelassenheit und Freiheit in deiner Eltern-Kind-Beziehung verlierst. Die Folge: Du bist ständig überfordert. Dein Kind nimmt durch dich als Vorbild die Welt als sehr bedrohlich wahr und entwickelt als Folge daraus vielleicht eigene Ängste.

All diese Beispiele zeigen: So sehr dir dein Zwang vorgaukelt, nur das Beste für dein Kind zu wollen, so sehr greifst du dadurch negativ in die Entwicklung deines Kindes ein. Das ständige Kontrollieren, Grübeln und Vermeiden kostet nicht nur Zeit und Nerven, sondern bewirkt langfristig genau das Gegenteil von dem, was du dir erhoffst. Der Zwang verhindert oder reduziert nicht deine größten Ängste, sondern lässt sie immer größer, stärker und einflussreicher werden. Gleichzeitig verhinderst du, dass dein Kind auf natürliche Art und Weise aufwächst.

Paradoxerweise wirst du dich auf lange Sicht mit dem genauen Gegenteil deiner bisherigen Vorgehensweise von deinem Zwang befreien können: mit der Akzeptanz. Indem du lernst zu akzeptieren, dass deine schlimmsten Befürchtungen zwar absolut unschön sind, aber nicht mit 100% Gewissheit ausgeschlossen werden können, kannst du dich vom Zwang distanzieren und ein neues Normalverhalten erlernen. Dieses wird dir und deinem Kind sowie allen anderen nahestehenden Liebsten, die wahrscheinlich auch genauso unter deinem Zwangsverhalten leiden, das Leben wesentlich entspannter und freier machen - auch wenn das heißt, die reizvolle Suche nach 100 % Gewissheit aufzugeben.

Wir möchten dich daher motivieren, dich mit Expositionen und Reaktionsverhinderung aus den Klauen des Zwangs zu befreien. Als kleine Orientierung, mit welchen Expositionen du deine ersten Schritte in Richtung eines freien Leben machen kannst, haben wir im nächsten Absatz einige Vorschläge und Ideen zu Expositionen für dich gesammelt.

Beispiele für Expositionen

Mithilfe von Expositionen lernst du, dich deinen Befürchtungen zu stellen und einen neuen Umgang mit ihnen zu erlernen. Bisher reagierst du auf zwangsauslösende Situationen vor allem mit großer Angst, Zwangshandlungen und Vermeidung. Mithilfe eines erfolgreichen Expositionstrainings verlierst du Schritt für Schritt die Angst vor der Angst, steigerst dein Selbstvertrauen und lernst, auf solche Situationen mit Mut und Zuversicht zu reagieren.

Die Expositionen sollten an die individuellen Befürchtungen und Zwangsgedanken des Betroffenen angepasst werden. So könnten Expositionen beispielsweise folgendermaßen aussehen:

  • Wechsle die Windeln deines Babys alleine und hole dir nicht deinen Partner dazu.
  • Versuche, Stück für Stück wieder Lebensmittel und Getränke auf normale Weise zu konsumieren.
  • Schreibe sogenannte Therapie-Skripte, in denen du genau beschreibst, was wäre, wenn deine schlimmste Befürchtung um dein Baby tatsächlich eintritt. Lies diese Skripte laut vor. Nimm sie auf ein Tonband-Gerät auf und höre sie solange an, bis sie dich langweilen.
  • Kontrolliere nicht mehrmals die Fenster und Türen.
  • Sag deinen Freunden und deiner Familie, dass sie dir keine Rückversicherung mehr geben sollen.
  • Besuche nicht übermäßig oft den Kinderarzt.
  • Suche möglichst oft Situationen auf, die dich besonders triggern (beispielsweise das Baby im Arm heben, wenn du Angst hast, es zu verletzen) und halte die Anspannung aus.

Mehr Expositions-Ideen zu den Subtypen der Zwangsstörung findest du in den entsprechenden Blog-Artikeln.

Hilfe bei Zwangsgedanken während der Schwangerschaft und nach der Geburt

Auf OCD Land findest du viele weitere nützliche Inhalte, die dich dabei unterstützen, deinen Zwang zu überwinden:

Weitere Informationen rund um das Thema Zwangsstörungen und wie du sie überwindest findest du auch im Buch Zwangsstörungen verstehen und bewältigen* von Susanne Fricke, der Co-Autorin dieses Blog-Artikels. Damit dein Partner dich gut bei deiner Genesung unterstützen kann, möchten wir außerdem das Buch Der Zwang in meiner Nähe* - ebenso von Susanne Fricke - empfehlen. Dieses Buch richtet sich explizit an Angehörige von Betroffenen einer Zwangsstörung.

Auch die Einnahme von Medikamenten hat bereits einigen Betroffenen mit dem Management ihrer Zwangserkrankung geholfen. Dazu findest du hier alles, was du über deren Effekt und Sicherheit wissen musst. Natürlich ist man besonders als Schwangere oder Stillende um die Sicherheit der Medikamente besorgt. Hierzu empfehlen wir die Seite Embryotox, auf welcher man wissenschaftlich fundierte Auskunft zur Sicherheit verschiedener Medikamente im ersten bis dritten Trimenon erhält. Für alle weiteren Rückfragen zu Medikamenten in der Schwangerschaft ist ein Psychiater die richtige Anlaufstelle.

Wenn du dich mit deinen Zwangsgedanken überfordert fühlst und Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, möchten wir dir außerdem dringend empfehlen, einen auf Zwangsstörungen spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen. Da es nicht leicht ist, einen solchen Spezialisten zu finden, geben wir dir in diesem Artikel konkrete Tipps.

Über die Autoren
Sarina Kühne

Sarina ist eine ehemalige Betroffene einer Zwangsstörung und setzt sich engagiert für die Aufklärung über Zwangserkrankungen ein. Unter anderem hat sie auf OCD Land einen Betroffenenbericht geschrieben und war zu Gast im Zwanglos-Podcast. Als Digital Marketing Manager erstellt Sarina für OCD Land informative und hilfreiche Artikel für unseren Experten-Blog, Instagram-Posts und YouTube-Videos. Sie ist außerdem Moderatorin im Community-Forum.

PD Dr. Susanne Fricke

PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.