Medikamente bei Zwangsstörungen: Das musst du wissen!

Von Martin Niebuhr und Dr. med. vet. Elke Atzpodien


Auch wenn die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement der Goldstandard und erste Wahl für die Therapie von Zwangserkrankungen ist, werden seit Jahrzehnten auch bestimmte Medikamente (SSRI, TZA) als Ergänzung eingesetzt. Ihr positiver Effekt wurde in einer Vielzahl an Studien belegt. Falls auch du schon mal über die Einnahme von Medikamenten nachgedacht hast, beantwortet dir dieser Artikel deine wichtigsten Fragen.

An dieser Stelle wollen wir betonen, dass dieser Artikel kein ärztlicher Rat und kein Ersatz für einen ärztlichen Rat ist. Dieser Artikel soll einen groben Überblick über die Anwendbarkeit von Medikamenten bei Zwangsstörungen vermitteln. Solltest du unter einer psychischen Erkrankung leiden, wende dich bitte an einen Arzt oder Psychologen.

Wieso überhaupt Medikamente bei Zwangsstörungen?

Von allen namhaften Spezialisten und Organisationen (DGZ, SGZ, aktueller Forschungsstand) wird die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Exposition und Reaktionsmanagement als Therapie der ersten Wahl bei Zwangserkrankungen empfohlen. Obwohl sie die Therapie der ersten Wahl ist, kann es in einigen Fällen Sinn machen, auch Medikamente bei Zwangsstörungen einzusetzen.

Die S3-Leitlinie Zwangsstörungen empfiehlt die alleinige Gabe von Medikamenten, wenn die kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionsübungen nicht verfügbar ist, sie vom Patienten abgelehnt wird, sie wegen der Schwere der Erkrankung nicht durchgeführt werden kann, zu lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz bestehen oder wenn es dem Betroffenen hilft, sich überhaupt auf die kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionsübungen einzulassen.

Doch Patienten können auch von einer Kombinationsbehandlung aus kognitiver Verhaltenstherapie und Medikamenten profitieren. In der stationären Behandlung oder bei schweren Fällen wird häufig direkt zu Beginn diese Kombination eingesetzt - schlicht, weil der Leidensdruck so hoch ist oder weil man schnell (auch aus Kostengründen) Behandlungserfolge erzielen möchte. Einige Betroffene nehmen aber auch nach erfolgreicher Verhaltenstherapie dauerhaft Medikamente, weil sie die Zwangssymptome darüber hinaus reduzieren.

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Hilfreich kann eine medikamentöse Therapie insbesondere auch dann sein, wenn Patienten wegen ihrer Zwangserkrankungen zusätzliche Depressionen entwickelt haben. Die bei Zwangsstörungen verschriebenen Medikamente (Antidepressiva) wirken in erster Linie auch bei Depressionen (und Angststörungen), weshalb Betroffene häufig mehrfach profitieren.

Was bewirken Medikamente bei Zwangsstörungen?

Die gegen Zwangserkrankungen verschriebenen Antidepressiva (SSRI als erste Wahl, Clomipramin als zweite Wahl) helfen, die Symptome von Depressionen sowie Angst- und Zwangsstörungen zu reduzieren. Bei knapp der Hälfte der mit SSRI behandelten Betroffenen von Zwangsstörungen kommt es zu einem Rückgang der Zwangssymptome, wobei die Wirkung insgesamt nur mäßig ausgeprägt ist. Im Vergleich dazu reduziert eine alleinige kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsmanagement die Zwangssymptome im Durchschnitt um 50-70%. Dementsprechend gilt die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement als Goldstandard und erste Wahl für die Therapie von Zwangsstörungen.

Was genau bewirken Medikamente bei einer Zwangsstörung?

Bessere Toleranz von Ungewissheit
Intoleranz von Ungewissheit ist das zentrale Merkmal der Zwangserkrankung. Ständig drängen sich Zweifel und Befürchtungen auf, die dich verunsichern und die du kontrollieren möchtest. Während gesunde Menschen solche Art von Gedanken einfach ziehen lassen können, gelingt das Betroffenen von Zwangserkrankungen nur sehr schwer. Medikamente können dir dabei helfen, Ungewissheit besser ertragen zu können, ohne mithilfe von Zwangsritualen etwas dagegen unternehmen zu wollen.

Verbessertes Vollständigkeitsgefühl
Betroffene von Zwangserkrankungen haben ständig das Gefühl, als wäre ihre Sorge und Befürchtung ungelöst, ihre (Zwangs)-Handlung noch nicht oder gar nicht von ihnen selbst abgeschlossen. Bei Betroffenen von Zwangserkrankungen ist dieses Vollständigkeitsgefühl oft aus dem Ruder geraten und sie empfinden ein quälendes Unvollständigkeitsgefühl. Medikamente helfen dabei, dass das Vollständigkeitsgefühl, also auch das Gefühl, eine Handlung abgeschlossen bzw. selbst ausgeführt zu haben, schneller wiederhergestellt wird.

Zwangsgedanken leichter ziehen lassen
Als Betroffener prasseln vermutlich ständig aufdringliche, wiederkehrende Gedanken, Zweifel, Fantasien, Vorstellungen, Gefühle, Bilder, Impulse usw. auf dich ein - und dir fällt es schwer, sie ziehen zu lassen. Medikamente können dabei helfen, dass dich diese Zwangsgedanken weniger häufig belästigen und es dir leichter fällt, sie zu ignorieren und ihnen zu widerstehen.

Distanz zu Zwangsgedanken
Deine Zwangsgedanken haben sicherlich einen großen Einfluss auf dein Wohlergehen. Sie dringen ständig in dein Bewusstsein ein und lösen unangenehme Gefühle und Anspannung aus. Verständlicherweise fühlst du dich daher sehr wenig distanziert von ihnen und du fühlst dich von ihnen direkt bedroht. Mit Medikamenten kann es dir leichter fallen, deine Zwangsgedanken als das zu sehen, was sie sind: einfach nur Gedanken, also „Meldungen" deines Gehirns.

Weniger innere Unruhe, Anspannung und Angst
Die gegen Zwänge verwendeten Medikamente werden auch häufig bei Angststörungen eingesetzt. Zwangsstörungen sind generell den Angsterkrankungen sehr ähnlich. So profitieren auch beide Betroffenengruppen bei der Einnahme von Medikamenten von einer geringeren inneren Unruhe, Anspannung und Angst.

Bei Depressionen: Mehr Antrieb und verbesserte Stimmung
Die gegen Zwänge verwendeten Antidepressiva kommen auch bei der Behandlung von Depressionen zum Einsatz. Betroffene von Depressionen können hier also zusätzlich von den positiven Effekten der Medikamente auf Depressionen profitieren - vor allem sind das mehr Antrieb und eine verbesserte Stimmung.

Wie funktionieren Medikamente bei Zwangsstörungen?

Bei Zwangserkrankungen werden in erster Linie bestimmte Antidepressiva verschrieben - sogenannte Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Diese Medikamente wirken, wie der Name schon sagt, bei Depressionen, aber auch bei Zwangs-, Angst- und Panikstörungen. Bei diesen Erkrankungen geht man davon aus, dass bestimmte Hirnregionen mit dem Botenstoff (Neurotransmitter) Serotonin unterversorgt sind.

SSRI verstärken die Effekte des Serotonins im Gehirn. Dabei erhöhen sie nun nicht direkt das Serotonin, sondern sie sorgen dafür, dass Serotonin in diesen Regionen weniger stark wieder aufgenommen wird - daher auch der Name Serotonin-Wiederaufnahmhemmer. Infolgedessen liegt in diesen Gehirnregionen nun wieder mehr Serotonin vor und es kommt über mehrere Wochen zu verschiedensten Anpassungen im Gehirn (mehr auf Wikipedia). Daher setzt die Wirkung von SSRI auch erst nach einigen Wochen ein: Bei Depressionen sieht man oft schon eine Wirkung ca. 2-4 Wochen nach Beginn der Einnahme. Bei Zwangsstörungen setzt die Wirkung in der Regel erst nach ca. 6-8 Wochen ein. Die maximale Wirkung bei Zwangsstörungen entfaltet sich sogar erst nach 8-12 Wochen.

Welche Medikamente werden bei Zwangsstörungen eingesetzt?

Als Medikamente der ersten Wahl sollen laut Behandlungsleitlinie SSRI verschrieben werden. Diese SSRI werden in Deutschland unter den Namen Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin vertrieben. In anderen Ländern haben diese Medikamente häufig andere Handelsnamen.

Das trizyklische Antidepressivum (TZA) Clomipramin ist vergleichbar wirksam wie hohe Dosen der genannten SSRI, hat aber höhere Abbruchraten und mehr Nebenwirkungen und soll laut Leitlinie daher nicht als Medikament der ersten Wahl angeboten werden.

Folgende Medikamente der Substanzklassen SSRI* und TZA** werden zur Behandlung von Zwängen in Deutschland eingesetzt (Link zur Quelle):

Medikament Substanzklasse Tägliche Maximaldosis
Erste Wahl
Fluvoxamin SSRI 300 mg
Paroxetin SSRI 60 mg
Fluoxetin SSRI 80 mg
Sertralin SSRI 200 mg
Citalopram SSRI 40 mg
Escitalopram SSRI 20 mg
Zweite Wahl
Clomipramin TZA 225 mg

* SSRI = Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, ** TZA = Trizyklische Antidepressiva

Vielleicht stellst du dir die Frage, warum es nun verschiedene SSRI für die Behandlung von Zwängen gibt. Der Grund ist, dass Patienten sehr unterschiedlich auf die verschiedenen SSRI reagieren können. Generell gibt es zwei verschiedene Skalen: Wirksamkeit und Verträglichkeit. Man kann vorab nie sagen, wie gut ein Medikament bei einem individuellen Patienten wirkt und wie gut er es von den Nebenwirkungen oder in Kombination mit anderen Medikamenten verträgt. Es gibt daher eine breite Auswahl. Im Zweifel muss der Patient zusammen mit dem behandelnden Arzt über einen längeren Zeitraum ausprobieren, welches Medikament ihm am besten hilft. Generell gibt es keine eindeutigen Hinweise darauf, dass ein bestimmtes SSRI anderen überlegen ist.

Häufige Fragen zu Medikamenten gegen Zwangsstörungen

Wenn du es geschafft hast, diesen Artikel bis hierhin zu lesen, hast du sicherlich noch einige offene Fragen. Die wichtigsten Fragen versuchen wir nun zu beantworten.

Ich habe eine Zwangsstörung und möchte Medikamente ausprobieren. An wen muss ich mich wenden?
Antidepressiva müssen von einem Arzt verschrieben werden. Deine erste Anlaufstelle für deine Entscheidung sollte dein Hausarzt sein. Viele Hausärzte verschreiben auch Antidepressiva - im Idealfall solltest du dich aber an einen Psychiater überweisen lassen, der Erfahrung mit der Behandlung von Zwangsstörungen hat. Denn insbesondere hinsichtlich des Wirkungseintritts gibt es im Vergleich zur Behandlung von Depressionen einige Feinheiten zu beachten.

Solltest du dich in Psychotherapie befinden, solltest du deine Fragen zu Medikamenten unbedingt auch mit deinem Therapeuten besprechen - auch wenn er keine Medikamente verschreiben darf (Ausnahme: er ist auch Arzt).

Welche Dosis sollte ich einnehmen?
Für Zwänge liegt die verschriebene Dosis von SSRI häufig höher als bei anderen psychischen Erkrankungen, bei denen SSRI eingesetzt werden. Nicht selten liegt die Dosis bei der maximal zugelassenen Dosis - manchmal sogar darüber. Die Dosis wird von deinem Arzt festgelegt und sie sollte von dir niemals ohne Rücksprache mit deinem Arzt selbstständig erhöht oder verringert werden!

Wie lange dauert es bis die Medikamente wirken?
Es kursieren Gerüchte, SSRI würden sofort wirken. Wie oben beschrieben, bewirkt die Einnahme von SSRI jedoch im Gehirn einen längerfristigen Änderungsprozess, weswegen die Wirkung erst verzögert, also mehrere Wochen nach Beginn der Einnahme, eintritt. Bei Depressionen beträgt die Dauer bis zum Wirkungseintritt nur wenige Wochen - bei Zwängen vergehen jedoch 6-8 Wochen bis zum Eintreten der Wirkung und sogar 8-12 Wochen bis zur Entfaltung der maximalen Wirkung.

Wichtig ist, dass man erst 12 Wochen nach Beginn der Einnahme final beurteilen sollte, ob das Medikament wirkt. Mit Zwangsstörungen unerfahrene Ärzte kommen häufig schon nach wenigen Wochen zu dem Fehlschluss, ein Medikament würde nicht wirken und setzen es anschließend ab. Der Grund ist, dass fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass das Medikament bei Zwängen ähnlich schnell wirken würde wie bei Depressionen.

Wie lange muss ich Medikamente einnehmen?
SSRI können prinzipiell über viele Jahre hinweg eingenommen werden und gelten als gut verträglich. Sie müssen nicht ein Leben lang eingenommen werden - erst recht nicht dann, wenn ein Patient von einer parallelen Verhaltenstherapie profitieren konnte. Wie lange du Medikamente einnehmen möchtest, hängt in erster Linie von deiner Entscheidung ab, sollte aber immer in Abstimmung mit deinem Arzt (und Psychotherapeuten) erfolgen. Bedenke, dass bei 80-90% der Betroffenen nach Absetzen der Medikamente die Zwangssymptomatik wieder zunimmt, wenn keine parallele Verhaltenstherapie stattgefunden hat.

Wie setzt man die Medikamente wieder ab?
Weil SSRI einen längerfristigen Anpassungsprozess im Gehirn bewirken, müssen sie auch in kleinen Schritten über einen längeren Zeitraum von mehreren Monaten abgesetzt werden - sonst kann es zu unangenehmen Nebenwirkungen kommen. Da dein behandelnder Arzt die Dosis festsetzt, musst du eine Reduktion der Dosis oder ein Absetzen des Medikaments unbedingt mit ihm absprechen.

Wie werden die Medikamente eingenommen?
Wenn du eine medikamentöse Therapie, z.B. mit SSRI, bei deiner Zwangsstörung wünscht, sollten SSRI wegen der langen Zeit bis zum Wirkungseintritt nicht erst bei Bedarf eingenommen werden, sondern kontinuierlich. In der Regel werden SSRI täglich in Tablettenform eingenommen.

Welche Nebenwirkungen treten auf?
SSRI, die Medikamente der ersten Wahl, gelten generell als gut verträglich - allerdings treten insbesondere zu Beginn der Einnahme und während Dosisveränderungen Nebenwirkungen auf.

Typische Nebenwirkungen sind unter anderem:

  • Innere Unruhe
  • Kopfschmerzen
  • Schlafstörungen (intensives Träumen, Schlaflosigkeit)
  • Übelkeit
  • Verändertes Hungergefühl
  • Gewichtsabnahme oder -zunahme
  • Durchfall
  • Sexuelle Einschränkungen (bspw. verringerte Libido)

Nach regelmäßiger Einnahme verschwinden die meisten Nebenwirkungen wieder. Die einzige Ausnahme sind sexuelle Einschränkungen, bei denen eine Besserung häufig erst nach einer Reduktion der Dosis oder beim Absetzen des Medikaments eintritt. Neuere Studien legen außerdem eine Dämpfung von positiven Emotionen nahe.

Um Nebenwirkungen gering zu halten, wird die Dosis in der Regel zu Beginn der Einnahme niedrig gehalten und anschließend je nach Verträglichkeit weiter gesteigert. Mehr Informationen zu Nebenwirkungen bekommst du von deinem behandelnden Arzt und sie finden sich außerdem auf dem Beipackzettel des Medikaments.

Solltest du Nebenwirkungen feststellen, dann teile sie immer deinem behandelnden Arzt mit. Manche Betroffene vertragen ein bestimmtes SSRI nur schlecht. In diesem Fall kann der Arzt entscheiden, auf ein anderes SSRI auszuweichen, das vielleicht besser verträglich ist. Allerdings sollte auch nicht zu früh gewechselt werden, weil Nebenwirkungen üblich sind und der gewünschte Effekt erst mehrere Wochen nach Beginn der Einnahme eintritt. Im Einzelfall entscheidet der behandelnde Arzt.

Ich habe Angst vor Nebenwirkungen und dauerhaften Schäden!
Mit dieser Angst bist du nicht allein und insbesondere unter Betroffenen von Zwangserkrankungen ist diese Angst besonders stark ausgeprägt. Betroffene haben häufig ein übertriebenes Verantwortungsgefühl und wollen auch bei dieser Entscheidung jeden Fehler vermeiden - aus Angst, sich hinterher selbst diesen Fehler vorwerfen zu müssen und für potenzielle Schäden selbst verantwortlich zu sein.

Wie bei allen anderen zwanghaften Befürchtungen gilt auch hier: eine einhundertprozentige Gewissheit kann nicht erzielt werden und man sollte versuchen, nicht die perfekte, sondern die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Die Vorteile von Medikamenten sollten daher sorgfältig gegen Nebenwirkungen und andere Nachteile abgewogen werden. Dein Arzt und dein Therapeut können dich bei diesem Entscheidungsfindungsprozess unterstützen und auf deine Bedenken und Rückfragen antworten.

Machen SSRI abhängig?
Ein Suchtverhalten, wie beispielsweise bei einer Substanzabhängigkeit, ist bei der Einnahme von Antidepressiva nicht zu befürchten. Konkret heißt das, dass man keinen Drang entwickelt, diese Medikamente zu nehmen, wie ihn beispielsweise Drogenabhängige kennen. Zudem entwickelt man keine Toleranz gegenüber den Medikamenten, weswegen keine Dosissteigerungen über die Zeit notwendig sind. Allerdings können nach Absetzen von SSRI Entzugssymptome und eventuell eine vorübergehende Verstärkung der Zwangssymptome auftreten.

SSRI sind ganz klar abzugrenzen von Beruhigungsmitteln, wie Benzodiazepinen. Benzodiazepine haben eine beruhigende, angstlösende, schlaffördernde Wirkung, die sehr schnell einsetzt. Benzodiazepine haben ein hohes Suchtpotential und damit auch das Potential zur Abhängigkeit und zum Missbrauch. Sie werden von Ärzten daher nur für kurze Zeiträume und sehr kontrolliert eingesetzt. SSRI wirken hingegen erst nach mehreren Wochen und können über lange Zeiträume eingenommen werden.

Meine Zwänge machen es mir schwer, Medikamente zu nehmen!
Häufig entwickeln Betroffene von Zwangsstörungen starke Ängste, Medikamente einzunehmen. In diesem Fall sei erstmal gesagt, dass du damit nicht allein bist und diese Bedenken üblich sind. Zudem wird auch niemand gezwungen, Medikamente zu nehmen. Als Betroffener hat man selbst immer das letzte Wort darüber, welche Behandlung man wahrnehmen möchte. In jedem Fall gilt, dass du alle deine Bedenken gegenüber deinem Arzt und deinem Therapeuten erwähnen solltest. Beide haben sehr viel Erfahrung mit Patienten, die Medikamente nehmen, und können zu deinen Bedenken konkrete Aussagen machen. Generell möchten wir dir ans Herz legen, die Entscheidung für oder gegen die Einnahme von Medikamenten gemeinsam mit deinem behandelnden Arzt zu treffen.

Das ist doch Chemie!
Das ist richtig - SSRI sind wie die meisten anderen Medikamente kein natürliches Produkt. Sie werden jedoch bereits seit Jahrzehnten eingesetzt, ihre Anwendung und Zulassung ist reguliert und sie können nur von einem Arzt verschrieben werden. Insbesondere nach einigen Wochen sind SSRI auch relativ gut verträglich. Mit der kognitiven Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement als Therapie der ersten Wahl besteht eine hervorragende, sehr wirkungsvolle, chemielose Alternative.

Verändern SSRI die Persönlichkeit?
Betroffene haben häufig die Befürchtung, dass SSRI die eigene Persönlichkeit verändern könnten oder dass man abstumpft. Für beide Aussagen gibt es keinen Nachweis. Während der Einnahme von SSRI bleibt man „man selbst". Tatsächlich ist es eher so, dass die Einnahme von SSRI einen positiven Effekt auf die Persönlichkeit haben kann: Wenn dich deine Zwänge und Ängste weniger belasten und sich deine Stimmung und dein Antrieb verbessern, gewinnst du an Selbstvertrauen und bist besser in der Lage, dein Leben nach deinen Werten und Vorstellungen zu leben.

Medikamente und Verhaltenstherapie - kommt sich das nicht in die Quere?
Es bestehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber, ob eine Kombinationstherapie nicht auch Nachteile mit sich bringen kann. Konkret steht in der S3-Leitlinie Zwangsstörungen:

„Es herrscht hierbei manchmal die Überzeugung, dass dies zu additiven Effekten führen könnte und damit den Patienten am besten geholfen wird. Es muss aber die Frage gestellt werden, ob die Kombination mehrerer wirksamer Komponenten tatsächlich eine weitere Steigerung der Effektivität mit sich bringt. Es ist vorstellbar, dass die Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie additiv wirkt, aber es ist auch nicht auszuschließen, dass die Einnahme von Medikamenten eventuell die Motivation zur Durchführung von therapeutischen Übungen bzw. die Selbstwirksamkeitsüberzeugung verringern, was geringere Lernerfolge zur Konsequenz haben könnte."

Die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsmanagement ist die Therapie der ersten Wahl - daher wollen wir dir auch entsprechend der Leitlinie empfehlen, diese Form der Therapie wahrzunehmen, bevor du dich für die Einnahme von Medikamenten entscheidest. Im Einzelfall solltest du diese Entscheidung zusammen mit deinem Therapeuten und Arzt fällen.

Fazit

Wir hoffen, wir konnten dir einen guten Überblick über den Einsatz von Medikamenten bei Zwangsstörungen geben und deine wichtigsten Fragen beantworten. Mit diesem Artikel wollen wir weder für noch gegen die Einnahme von Medikamenten plädieren. In erster Linie wollen wir einen ausgewogenen Überblick über den aktuellen Forschungsstand und die Einschätzung von Spezialisten vermitteln. Die kognitive Verhaltenstherapie ist zwar die erste Wahl für die Therapie von Zwangsstörungen. In vielen Fällen gibt es aber berechtigte Gründe, eine medikamentöse Therapie (ergänzend) in Betracht zu ziehen.

Dieser Artikel wurde nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und orientiert sich in erster Linie an folgenden Quellen:

Wenn du mehr über Medikamente gegen Zwangsstörungen erfahren möchtest, können wir die Lektüre dieser Quellen sehr ans Herz liegen. Dein wichtigster Ansprechpartner für Medikamente ist und bleibt aber dein behandelnder Arzt.

Wenn du generell mehr über Zwangserkrankungen erfahren möchtest, dann wollen wir dich gerne ermuntern, weitere Artikel auf unserem Blog zu lesen (z.B. unsere Einführungs-Serie zu Zwängen oder unseren Ratgeber, wie du einen Therapeuten findest). Außerdem haben wir einen Instagram-Kanal, wo dich täglich nützliche Tipps und eine Community an Gleichgesinnten erwarten.

Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

Dr. med. vet. Elke Atzpodien

Elke Atzpodien ist Wissenschaftlerin in Basel und seit 2019 auch EX-IN (Peer)-Genesungsbegleiterin im Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie, Abteilung Verhaltenstherapie-stationär, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel. Bis zum Beginn ihrer Verhaltenstherapie im Sommer 2016 war sie selbst von einer langjährigen Zwangserkrankung betroffen. Als Peer an den UPK begleitet sie nun vor allem Menschen mit einer Zwangsstörung während deren Aufenthalts in der Klinik. Elke ist Moderatorin im Community-Forum, war zu Gast im Zwanglos-Podcast und ist außerdem Autorin auf dem OCD Land-Blog sowie im Buch Praxishandbuch Zwangsstörung*.