Waschzwang: Ein Ratgeber für Betroffene (Teil 1)

Von Martin Niebuhr, Dr. med. vet. Elke Atzpodien und PD Dr. Susanne Fricke


Lösen Bakterien, Viren, Krankheitserreger, Schadstoffe oder Schmutz bei dir ein großes Unbehagen, Angst oder Ekel aus? Würdest du die Berührung mit diesen Dingen am liebsten völlig vermeiden? Befürchtest du, dass dir oder anderen Menschen durch Kontamination großer Schaden zugefügt werden könnte? Und fühlst du dich deswegen dazu gedrängt, dich selbst und deine Umgebung durch ständiges Waschen, Duschen, Putzen oder Desinfizieren zu säubern? Wenn das auf dich zutrifft, dann könntest du unter einem Waschzwang leiden. Mithilfe verhaltenstherapeutischer Verfahren sind Waschzwänge heutzutage sehr gut therapierbar.

Das Bild von Waschzwängen in den Medien entspricht nur sehr oberflächlich dem, was du als Betroffener wirklich durchmachst. Denn Waschzwänge sind weder die Freude an Sauberkeit noch ist es einfach die bloße Furcht vor Kontamination durch Krankheitserreger, Verschmutzung oder Schadstoffe. Waschzwänge sind viel mehr als Händewaschen, Duschen, Putzen oder Desinfizieren.

Reinigungsrituale machen dir wirklich keinen Spaß. Das Gegenteil ist der Fall: Sie sind zeitintensiv, mit extremem Leidensdruck verbunden und sehr anstrengend. Mit einem Waschzwang fühlst du dich ständig angespannt - ein Zustand, den du kaum auszuhalten weißt und der dich um den Verstand bringt.

Du spürst vermutlich großen Schmerz, weil dich deine Waschzwänge davon abhalten, ein freies und sinnerfülltes Leben zu führen. Wegen deiner Befürchtungen musst du auf so Vieles im Leben verzichten. Vielleicht kannst du bestimmte Räume in deiner Wohnung nicht mehr betreten. Oder du kannst bestimmte Gegenstände nicht mehr benutzen, hast sie bereits in den Müll geworfen oder musst sie immerzu reinigen. Oder du und deine Angehörigen müssen immer die Kleidung wechseln, wenn ihr von draußen in die Wohnung kommt. Eventuell ist deine Haut durch das permanente Waschen oder Desinfizieren inzwischen schmerzhaft gerötet, rissig oder blutig geworden. Körperkontakt oder Intimität ist für dich vielleicht schon völlig undenkbar geworden.

Jeder Toilettengang kann für dich zur Qual werden, jede Türklinke zu einer neuen Herausforderung und jeder Besuch zu einem Risiko. Wie auch immer dich dein Waschzwang plagt - er verursacht einen extremen Leidensdruck: Sicherlich hast du dir dein Leben anders vorgestellt.

Waschzwänge und Kontaminationsbefürchtungen sind vielschichtig und komplex. Aus diesem Grund wollen wir dir in dieser Artikel-Serie zeigen, was es genau mit Waschzwängen auf sich hat - und wie du sie mit wissenschaftlich nachgewiesenen Strategien nachhaltig überwinden und in ein freies Leben zurückfinden kannst.

Diese dreiteilige Artikel-Serie wurde mitverfasst von PD Dr. Susanne Fricke und Elke Atzpodien. Susanne Fricke ist Verhaltenstherapeutin, Spezialistin für Zwangsstörungen und Autorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen: Hilfe zur Selbsthilfe*. Elke Atzpodien ist Wissenschaftlerin, EX-IN (Peer)-Genesungsbegleiterin und war ehemals selbst von langjährigen, zunehmend lebenseinschränkenden Kontaminationsbefürchtungen und einem Waschzwang betroffen. Unsere Botschaft an dich: Waschzwänge können mit den richtigen Strategien erfolgreich überwunden werden.

Was sind Waschzwänge?

Waschzwänge, Reinigungszwänge oder Putzzwänge sind ein Subtyp der Zwangserkrankung. Sie zeichnen sich durch eine ständige Furcht vor Ansteckung oder vor Verschmutzung aus. Häufig befürchten Betroffene, sich selbst oder anderen Menschen durch eine Krankheitsübertragung oder durch Schadstoffe erheblichen Schaden zuzufügen. Diese Befürchtungen werden durch ein ständiges Gefühl der Anspannung begleitet, wodurch ein starker Leidensdruck entsteht. Bei anderen Betroffenen steht mehr der Ekel vor Kontamination im Vordergrund, ohne Ängste vor konkreten Krankheiten oder Giftstoffen. Sie empfinden vieles als eklig, „schmuddelig" oder „unhygienisch" und leiden darunter.

Mithilfe von exzessiven Reinigungsritualen und Vermeidungen versuchen Betroffene, ihre Befürchtungen oder ihren Ekel zu verringern und ihre Anspannung loszuwerden. Auch wenn dies zu einer kurzzeitigen Erleichterung führt, stellt sich langfristig kein zufriedenstellendes Gefühl der Gewissheit oder Sauberkeit ein.

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Betroffene mit konkreten Befürchtungen sind sich der Unsinnigkeit ihrer aufdringlichen Gedanken und ihrer Reinigungsrituale größtenteils bewusst, sehen aber meist keinen anderen Weg als ihre unangenehmen Emotionen und Befürchtungen durch Vermeidungen und Zwangsrituale zu lindern.

Betroffene, bei denen ein starker Ekel im Vordergrund steht, leiden ebenso sehr unter den Zwangshandlungen und dem Vermeidungsverhalten. Sie wissen, dass sie im Vergleich zu anderen „pingeliger" sind und wundern sich häufig, dass andere Menschen vieles nicht als so eklig wie sie einstufen.

Motive hinter Waschzwängen: Zweifel und Ungewissheit

Wie bei anderen Subtypen der Zwangsstörung spielen auch bei Waschzwängen Zweifel und Ungewissheit eine zentrale Rolle: Durch deine Kontaminationsbefürchtungen oder dein Ekelgefühl fühlst du dich oft gedrängt, ganz genau wissen zu müssen, ob etwas mit hundertprozentiger Sicherheit beschmutzt ist oder nicht.

Solange auch nur ein winziges bisschen Zweifel bleibt, führst du „für alle Fälle" sicherheitshalber doch lieber nochmals ein Zwangsritual aus. Und auch wenn es zunächst scheint, dass das Ritual deine Anspannung reduzieren konnte, weil du beispielsweise eben zum fünften Mal geduscht hast, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis dir erneut Zweifel und Befürchtungen kommen.

Als Betroffener von Waschzwängen hast du nicht einfach nur eine starke Abneigung gegenüber Bakterien oder Schmutz. Oft verbirgt sich hinter Waschritualen die Angst, dass aufgrund einer Ansteckung dir selbst oder anderen Menschen erheblicher Schaden entstehen könnte, beispielsweise durch eine leidvolle, tödliche Krankheit. Möglicherweise befürchtest du, dass du oder eine andere Person durch Kontakt mit einer krebserregenden Substanz vielleicht in 30 Jahren an Krebs erkranken. Ungewollte Gedanken an ein solches Schreckensszenario kommen dir immer wieder und du fühlst dich dadurch gedrängt, mit Zwangsritualen entgegenzuwirken.

Andere Betroffene müssen sich hingegen genau x-mal die Hände zu waschen, um ein mögliches Unheil zu verhindern („magische Zwänge") oder fühlen sich „emotional kontaminiert", wenn sie an bestimmte Personen denken oder ihnen begegnen. Wieder andere Betroffene befürchten, dass irgendwann alles mit etwas „Ekligem" kontaminiert ist.

Vielleicht quält dich auch die Befürchtung, dass du das aufdringliche Gefühl der Anspannung, des Ekels oder der Unvollständigkeit niemals loswirst: Du hast Angst, die Kontrolle über deine emotionale Verfassung zu verlieren, durchzudrehen oder den Verstand zu verlieren. Auch wenn du dir bereits stundenlang die Hände gewaschen hast, fühlst du dich einfach „nicht richtig" oder unvollständig. Mit Zwangsritualen versuchst du immer wieder, die Kontrolle über deine emotionale Verfassung zurückzugewinnen - vergeblich.

Die ständige Ungewissheit, nicht vielleicht doch beschmutzt zu sein, lässt dir keine Ruhe: Tag für Tag versuchst du, dich und deine Umgebung zu säubern. Trotz alledem hat sich ein klares Gefühl von Gewissheit nie eingestellt. Dich beunruhigt ständig, deine Reinigungsrituale vielleicht nicht gründlich genug ausgeführt zu haben. Und egal was du tust - nichts kann dir die finale, hundertprozentige Gewissheit geben, nach der du dich so sehr sehnst.

Wie du siehst, ist Waschzwang nicht gleich Waschzwang. Auch wenn sich Waschzwänge für Außenstehende immer in Form von exzessiven Reinigungsritualen äußern, können die Motive dahinter sehr unterschiedlich sein.

Das Kontaminationsgefühl bei Waschzwängen

Symptomatisch für Waschzwänge ist ein schier nicht aushaltbares Gefühl von Anspannung, Ekel, oder ein schwer zu beschreibendes, diffuses Gefühl des „Kontaminiert-Seins" und der Unvollständigkeit. Bei diesem sogenannten Kontaminationsgefühl handelt es sich um ein intensives Gefühl von Verschmutzung, Verseuchung, Infektion oder Gefahr. Wird dieses Gefühl durch direkten Kontakt mit bestimmten Gegenständen, Personen oder Orten ausgelöst, spricht man von Kontaktkontamination.

Das Kontaminationsgefühl kann auch ohne Kontakt ausgelöst werden. Eventuell fürchtest du dich davor, eine bestimmte Krankheit zu bekommen, wenn du nur an sie denkst oder darüber redest. Vielleicht vermeidest du auch, über einen Kranken zu reden, weil du befürchtest, dass das Erwähnen dieser Person jemand anderen krank machen könnte. Oder du hast Angst davor, einen Film über eine kranke Person anzusehen, weil du befürchtest, dich dadurch kontaminieren zu können. In diesem Fall spricht man von mentaler bzw. emotionaler Kontamination.

Eine Besonderheit bei Waschzwängen ist auch, dass sich die Kontamination für dich rasend schnell ausbreitet. Sie überträgt sich - oft auch ohne direkten Kontakt - von einem Gegenstand auf den nächsten, wird nie verdünnt. Und so versuchst du, wenigstens eine einzige ganz „reine Insel", zum Beispiel dein sauberes Bett, als letzten nicht kontaminierten Zufluchtsort der Ruhe in deiner Wohnung zu verteidigen.

Waschzwänge kosten viel Zeit

Oft beginnen die Zwangsrituale und Einschränkungen ganz allmählich, werden über Monate oder Jahre immer mehr, vielfältiger und langwieriger. Deine Welt schrumpft zunehmend, bis du deine Wohnung vielleicht nicht mehr verlassen und keiner Ausbildung und Arbeit mehr nachgehen kannst oder fast alle Kontakte abbrechen musst.

Nicht nur du als Betroffener leidest extrem, sondern oft auch deine Angehörigen. Sie müssen dir dabei helfen, die Wasch- und Reinigungsrituale auszuführen und sich nach den Regeln des Zwangs verhalten. Das strapaziert eure Beziehung. So kommt es nicht selten vor, dass Partnerschaften durch diesen Subtyp der Zwangsstörung auseinandergehen und Familien zerbrechen.

Kontaminationsbefürchtungen mit Waschzwängen können unglaublich zeitintensiv sein, weil du ständig damit beschäftigt bist, dich und dein Heim zu „entseuchen". Und nicht nur das kostet dich viel Zeit. Wahrscheinlich planst du auch stundenlang im Geiste, welche Gegenstände, Orte, Situationen und Menschen du vermeiden musst und keinesfalls berühren darfst, was du alles in welcher Reihenfolge durch Waschrituale „dekontaminieren" musst oder wann du was anfassen darfst, um eine bestimmte „Abstufung der Reinheit" einzuhalten. Von morgens bis spät in die Nacht drängen sich dir quälende Gedanken oder Bilder auf, dich oder andere zu kontaminieren oder bereits kontaminiert zu haben, dir eine Krankheit zuzuziehen oder diese eventuell zu verbreiten.

Waschzwänge: Verrücktwerden bei vollem Verstand

Du merkst selbst, dass du zwischen den Stühlen stehst: Du siehst, dass jedes Waschritual dich nicht weiterbringt, irgendwie übertrieben und nicht sinnvoll ist, aber aufhören kannst du durch diese Erkenntnis trotzdem nicht. Es ist zum Verzweifeln! Niemand versucht doch stundenlang, sich selbst und seine Umgebung um jeden Preis sauber zu halten - und andere Menschen kommen mit Verschmutzung und Kontamination anscheinend doch auch klar.

Ein Teil von dir ist sich bewusst, dass deine Kontaminationsbefürchtungen und aufwändigen Reinigungsrituale übertrieben und sinnlos sind und du davon eigentlich nur noch in Ruhe gelassen werden möchtest. Deine Zwangshandlungen scheinen aber oft wie automatisiert abzulaufen oder fühlen sich nicht vollständig oder „richtig" durchgeführt an. Nach langen Waschritualen schaust du auf deine sichtbar saubere Hand und verstehst selbst nicht, wieso sie sich weiterhin kontaminiert anfühlt. Vermutlich kennst du das Gefühl nur zu gut, den Verstand zu verlieren und bei vollem Bewusstsein dabei zuzuschauen.

Am liebsten würdest du mit deinen einschränkenden Vermeidungen und qualvollen Ritualen selbst aufhören, wenn du nur könntest. Vermutlich hast du das sogar schon oft versucht - erfolglos, denn jeder solcher Versuche löst starke Emotionen wie Angst, Anspannung oder Ekel und vor allem Gefühle von Ungewissheit und Zweifel aus, die du kaum aushalten kannst. Deswegen fühlst du dich gezwungen, einmal mehr zum Waschbecken zu gehen und deine Hände zu waschen.

Vielleicht haben dir deine vielfältigen Zwangsrituale zu Beginn deiner Erkrankungen schon etwas geholfen und vermutlich verschaffen sie dir auch immer noch ganz kurz eine kleine Beruhigung. Langfristig haben deine Zwangsrituale jedoch keine Wirkung entwickelt und schon gar nicht deine Befürchtungen genommen oder deine Anspannung dauerhaft besiegt.

Bisher hat also nichts von allem, was du versucht hast, nachhaltig geholfen. Vermutlich sind deine Zwangsgedanken, Befürchtungen und auch die anstrengenden Zwangsrituale trotz dessen sogar immer stärker geworden. Ständig kamen von deinem Zwang neue Ideen, von welchen Quellen Gefahren ausgehen könnten und wie du diese Bedrohung am besten neutralisieren kannst. Du fühlst dich wie in einem Kampf, den du nicht gewinnen kannst.

Ein neuer Umgang

Findest du dich in diesem Artikel wieder und fühlst dich verzweifelt und hoffnungslos gegenüber dieser listigen Erkrankung, der anscheinend nichts entgegenzusetzen ist? Dann möchten wir dir an dieser Stelle schonmal Hoffnung zusprechen. Zum einen bist du nicht allein. Zwar sind Zwangsstörungen in der Öffentlichkeit kein großes Thema, jedoch leiden im deutschsprachigen Raum ca. 2-3 Millionen Menschen unter einer Zwangsstörung.

Außerdem sind Zwangsstörungen mithilfe der richtigen Strategien heutzutage sehr gut therapierbar - auch wenn du bisher vielleicht Gegenteiliges gelesen hast. Es gibt also allen Grund für Mut und Hoffnung und wir möchten dich daher ermutigen, auch die nächsten Teile dieser Artikel-Serie aufmerksam zu lesen.

Im nächsten Teil gehen wir anhand von konkreten Beispielen auf die Symptome von Waschzwängen ein. Du wirst verstehen, warum du durch das Zusammenspiel dieser Symptome deinem Zwang bisher machtlos ausgeliefert warst.

Im dritten Teil erfährst du anschließend, mit welchen wissenschaftlich fundierten therapeutischen Strategien viele Betroffene ihren Waschzwang bereits überwunden haben - und wie auch du zurück in ein freies und selbstbestimmtes Leben finden kannst.

Klicke HIER , um "Waschzwang: Symptome (Teil 2)" zu lesen.

Klicke HIER , um "Waschzwang: Therapie (Teil 3)" zu lesen.

Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

Dr. med. vet. Elke Atzpodien

Elke Atzpodien ist Wissenschaftlerin in Basel und seit 2019 auch EX-IN (Peer)-Genesungsbegleiterin im Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie, Abteilung Verhaltenstherapie-stationär, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel. Bis zum Beginn ihrer Verhaltenstherapie im Sommer 2016 war sie selbst von einer langjährigen Zwangserkrankung betroffen. Als Peer an den UPK begleitet sie nun vor allem Menschen mit einer Zwangsstörung während deren Aufenthalts in der Klinik. Elke ist Moderatorin im Community-Forum, war zu Gast im Zwanglos-Podcast und ist außerdem Autorin auf dem OCD Land-Blog sowie im Buch Praxishandbuch Zwangsstörung*.

PD Dr. Susanne Fricke

PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.