Mut zur Exposition: Dem Zwang Kontra geben

Von Martin Niebuhr und Burkhard Ciupka-Schön


Bei Expositionen lernst du, dich deinen Ängsten und Befürchtungen zu stellen, ohne zu neutralisieren, zu vermeiden, zu grübeln oder irgendwelche anderen Zwangshandlungen auszuführen. Dieser Artikel zeigt dir, wieso und wie dieser zunächst unerwartete Ansatz funktioniert.

Die Verhaltenstherapie einschließlich Exposition und Reaktionsverhinderung darf in keinem ernstzunehmenden Therapieprogramm gegen Zwänge fehlen.1 In dieser Form der Therapie geht es darum, sich seinen Befürchtungen, Ängsten, Zwangsgedanken und anderen Triggern zu stellen, ohne seinen gewohnten Zwangshandlungen nachzugehen. Vermutlich löst dieser Vorschlag direkt Bedenken bei dir aus, ob dieser Ansatz funktionieren kann - schließlich hattest du bis heute genau das Gegenteil getan. Auch wenn du Bedenken hast, überzeugt dich dieser Artikel hoffentlich davon, Expositionen in deine Therapie und in dein späteres Leben mit aufzunehmen.

Habituation - Gewöhnung durch wiederholte Exposition

Expositionen ist, wenn du dich absichtlich mit dem konfrontierst, was du fürchtest und daher meidest. Formen von Exposition werden nicht nur bei der Therapie von Zwängen angewendet, sondern können auch bei Ängsten, Phobien, Sucht oder Magersucht zum Einsatz kommen. Bei Exposition handelt sich also um ein sehr bewährtes Therapieverfahren, wo du mit keiner Komplikation oder Nebenwirkung rechnen musst. Voraussetzung ist, dass du dich auch wirklich auf eine Exposition einlässt, dann kann hier kaum etwas schiefgehen.

Bei der Therapie von Hundephobien können sich Betroffene beispielsweise Schritt für Schritt mit ihrer Angst vor Hunden konfrontieren. Zu Beginn könnte das beispielsweise nur das Betrachten von Hundefotos sein, später das Begegnen von Hunden in der Öffentlichkeit, ohne die Straßenseite zu wechseln. Das Therapieziel könnte schließlich sein, einen Hund zu streicheln und zu füttern.

Der Grund, weshalb Expositionen funktionieren, ist die Habituation.2 Unter Habituation verstehen wir in der Verhaltenstherapie die Gewöhnung des gesamten Organismus gegenüber Reizen (wie Zwangsgedanken oder furchtauslösenden Triggern), denen du dich lang genug und wiederholt aussetzt. Stell es dir vor wie deine erste Achterbahnfahrt: Vor der Fahrt warst du nervös und während der Fahrt vielleicht sehr angespannt. Spätestens nach der zehnten Fahrt hast du dich aber nur noch gelangweilt. Das gleiche Verfahren funktioniert auch bei der Therapie von Ängsten und Zwängen. Eigentlich ist Exposition nicht Neues für dich, sondern eine Selbstverständlichkeit. Jeder Mensch hatte in seiner Lebensgeschichte bereits unterschiedlichste Erfahrungen mit Expositionen, egal ob es sich nun um die Angst beim ersten Schwimmen, Achterbahnfahren oder beim ersten Laufen handelte. Ohne Überwindung der Angst hättest du als Kind wohl nie Laufen gelernt. Den Zweifel, ob Expositionen tatsächlich funktionieren, können wir bei dir so sicher ausschließen.

Deine Anspannung steigt, bevor sie anschließend fällt

Exposition ist bedingt mit einem Besuch beim Zahnarzt vergleichbar. Ähnlich wie der Besuch beim Zahnarzt ist die Exposition unvermeidlich; je länger du damit wartest, desto schlimmer wird es. Jeder Zahnarzt versucht, die Behandlung so erträglich wie möglich zu gestalten: Eine Spritze zur Betäubung hält die Schmerzen der Behandlung in Grenzen. Leider ist dieser Punkt bei der Exposition ganz anders. Ziel der Exposition ist, dass dein Anspannungslevel nach oben schießen wird. Denn es geht bei der Exposition darum, dass du dich mit deiner Anspannung konfrontierst und eine neue Einstellung zu deiner Anspannung entwickelst.

Die Auslösereize bei Zwängen (Schmutz, Messer, Tod, Blut...) sind beliebig und austauschbar. Was allen Zwängen gemeinsam ist, ist eine als nicht ertragbar definierte, negativ bewertete Anspannung, bei der die Betroffenen fest davon überzeugt sind, dass diese Anspannung unbedingt neutralisiert werden müsse, andernfalls geschehe etwas Schlimmes. Angenommen, deine Anspannung würde sich bei Konfrontationen mit deinen Triggern oder Zwangsgedanken verringern, würdest du entsprechenden Situationen nicht mit Vermeidungen und Zwangshandlungen begegnen und du hättest keinen Zwang.

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Während einer Exposition wird sich deine Anspannung also zunächst erhöhen. Der Therapeut ist nicht der Helfer, der dich vor deiner Anspannung bewahrt, sondern er ist der Helfer, der dich durch die Anspannung hindurchführt, bis zu dem Zeitpunkt, wo du die Exposition auch für dich alleine schaffst. In der Vergangenheit hat diese Anspannung dich aber vermutlich dazu gebracht, gleiche oder ähnliche Situationen zu vermeiden oder Zwangshandlungen und Grübeleien zur Absicherung durchzuführen. Für den therapeutischen Prozess ist die Erhöhung der Anspannung während der Konfrontation jedoch nicht nur völlig normal, sondern sogar erwünscht.

Was für dich neu sein dürfte, ist die Erkenntnis, dass dein Anspannungslevel ab einem gewissen Punkt aufhört zu steigen und beginnt, abzufallen. Gelangst du an den Punkt der fallenden Anspannung macht dein Organismus zwei wichtige Erfahrungen: 1. Deine Anspannung steigt nicht unendlich an, wenn du dich deinen Befürchtungen stellst und 2. Auch wenn es hart klingt, kannst du die Emotionen tolerieren, die mit der Exposition einhergehen.

Diese beiden Erfahrungen3 sind gleichzeitig der Grund, weshalb du auf die nächste Exposition mit dem gleichen Trigger mit weniger Anspannung reagieren wirst. Es setzt somit bei ausreichender Dauer der Exposition und bei wiederholter Aussetzung der versprochene Gewöhnungseffekt ein.

Vielleicht erkennst du nun bereits den Grund, weswegen du deinen Zwang bisher noch nicht überwunden hast: Vermutlich hast du bisher auf furchtauslösende Trigger bereits im Bereich der steigenden Anspannung mit Vermeidung, Ablenkung oder Zwangshandlungen reagiert. Dein altes zwanghaftes Bewältigungsprogramm vermittelte damit deinem Organismus also das Gegenteil: Nämlich, dass deine Furcht immer weiter ansteigt, wenn du nichts dagegen unternimmst, und du diese Emotionen nicht in der Lage bist zu ertragen. Beides stärkt langfristig deinen Zwang.

Reaktionsverhinderung - Wieso Expositionen alleine nicht helfen

Erinnere dich, dass du zwei Möglichkeiten hast, auf deinen Zwang zu reagieren: Die eine Möglichkeit ist, deinem Zwang Folge zu leisten, indem du versuchst, seine übertriebenen Befürchtungen mit Zwangshandlungen und Vermeidungen zu verhindern. Dadurch stärkst du dein Zwangssystem und bestätigst immer wieder seine Daseinsberechtigung. Die Alternative, die wir dir vorschlagen, ist, zu akzeptieren, dass deine schlimmsten Befürchtungen eintreten können und du bewusst den Versuch aufgibst, diese um jeden Preis zu vermeiden.

Um am Leben teilzunehmen muss ich gewisse Risiken akzeptieren: Im Straßenverkehr geschehen Unfälle, jedes Leben endet irgendwann mit einer Krankheit und schließlich mit dem Tod. Menschen mit Zwängen leben nicht länger und sie leben auch nicht gesünder. Und auch der Straßenverkehr wird durch mein zwanghaftes Kontrollieren, während ich mein Auto steuere, nicht wirklich sicherer - genau im Gegenteil. Exposition ist lediglich eine neue Lernerfahrung mit meiner Anspannung. Sie steigert nicht meine Risiken im Leben.

Keine Exposition mit angezogener Handbremse!

Expositionen sind der entscheidende Schritt im therapeutischen Alternativprogramm. Dieser Schritt ist jedoch wenig hilfreich, wenn du auf der Parallelspur noch immer mithilfe von verdeckten Zwangshandlungen und Grübeleien versuchst, deine übertriebenen Befürchtungen und deine Anspannung zu bekämpfen - nach dem Motto, das sieht ja keiner, also ist es auch nicht so schlimm.

Vielleicht hast du durch die Exposition brav die Erwartung von Therapeut oder Familienmitgliedern erfüllt, die dann erst einmal zufrieden gestellt waren. Wenn du Expositionen statt mit offenen Ritualen mit verdeckten Neutralisierungen beantwortest, hast du den Effekt der Exposition aber wieder zunichte gemacht.

Für die Therapie von Zwängen ist daher nicht nur die Exposition, sondern auch die sogenannte Reaktionsverhinderung von allerhöchster Relevanz. Unter Reaktionsverhinderung versteht man das Abstellen von übertriebenen Zwangshandlungen, Grübeleien und Vermeidungen rund um dein Zwangsthema. Dazu gehören die offenen, sichtbaren genauso wie die verdeckten, unsichtbaren Neutralisierungen.

Viele Zwangshandlungen laufen unter dem Radar

Auch wenn du vielleicht denkst, dir wären alle deine Zwangshandlungen bewusst - vermutlich liegst du falsch.4 Viele Zwangshandlungen, Vermeidungen und Rückversicherungen laufen alleine im Kopf ab. Selbst wenn du beispielsweise einen Waschzwang hast und während einer Exposition deine Hände nicht wäschst, ist es sehr gut möglich, dass du auf rein mentale Rituale ausweichst. Zu diesen mentalen Ritualen zählen die Abwälzung der Verantwortung auf den Therapeuten, Ablenkung von der Exposition oder der Versuch, deine Gedanken oder Gefühle zu verdrängen.

Bedenke, dass das Ziel der Therapie ist, die Unsicherheit deiner Befürchtungen zu akzeptieren und deine negativen Emotionen zu ertragen. Wenn deine schlimmste Befürchtung ist, für die Erkrankung eines Familienmitglieds verantwortlich zu sein, dann ist die Abwälzung dieser Verantwortung auf den Therapeuten/Familienangehörigen eine Form der Vermeidung, die den Erfolg der Exposition mindert. Im Laufe der Verhaltenstherapie müssen daher versteckte Zwangshandlungen schrittweise aufgedeckt und ebenso abgestellt werden.

Reaktionsverhinderung muss ein Teil deines Alltags werden

Um deinen Zwang nachhaltig zu überwinden, muss die Akzeptanz deiner schlimmsten Befürchtungen, der Abbau von Vermeidungen, die Exposition mit deinen Ängsten und insbesondere die Verhinderung deiner Zwangshandlung zu einem Teil deines Alltags werden.5 Genauso wie du dein zwanghaftes Verhalten über lange Zeit erlernt hast, bringen dir die genannten Techniken bei, über die Zeit wieder einen normalen Umgang mit deinen zwanghaften Befürchtungen zu erlernen.

Eine halbherzige Umsetzung der Therapie wird allerdings keine nachhaltigen Änderungen mit sich bringen. Es reicht nicht nur, die Expositionen zu machen - sie müssen auch von der Reaktionsverhinderung begleitet werden. Es reicht auch nicht, nur während der Therapiezeiten an deinem Zwang zu arbeiten und zu Hause in alte Muster zurückzufallen.

Mit jeder Handlung entscheidest du dich, ob du deinen Zwang weiter stärken willst oder ob du größer bist als der Zwang. Jedes Mal, wenn du auf deine Trigger keine Zwangshandlungen ausführst, stärkst du den Glauben an dich, dass du deinen Zwang überwinden kannst. Expositionen mit Reaktionsverhinderung müssen daher ein Teil deines Lebens werden - ein Leben, das wieder lebenswert ist und in dem du auch in deinem Alltag mit deinen zwanghaften Befürchtungen normal umzugehen gelernt hast.

Du glaubst nicht, dass du jemals in der Lage sein wirst, dich deinen Expositionen zu stellen ohne Zwangshandlungen nachzugehen? Du bist nicht alleine - so geht es vermutlich jedem Betroffenen zu Beginn der Verhaltenstherapie. Auch wenn die Therapie anstrengend und hart ist, halte dir vor Augen, dass auch dein Zwang viel Mühe und Anstrengung erfordert und dich bis jetzt sehr viel Zeit und Lebensqualität gekostet hat.

Du hast bereits bis heute viel Mut bewiesen, in einem Leben mit Zwängen klarzukommen. Unterschätze nicht deinen Mut, dich Expositionen stellen zu können. Die positive Wirkung von Expositionen mit Reaktionsverhinderung sind wissenschaftlich bewiesen und die beste Therapieform gegen Zwänge, von denen bereits viele Betroffene profitieren konnten und mit der auch du dein Leben zurückgewinnen kannst. Vielleicht hilft dir auch deine Kosten-Nutzen-Analyse aus der kognitiven Therapie, wenn du einen Motivationsschub brauchst.

Lerne im nächsten Artikel, wie du Expositionen in die Praxis umsetzt.

  1. Vgl. Grayson (2014), S. 59
  2. Das Thema Habituation wird ausführlich in Grayson (2014), S. 62 ff., Ciupka-Schön (2020), S. 114 ff. und Fricke (2016), S. 224 ff. behandelt
  3. Es gibt noch weitere Erfahrungen, die dein Organismus macht. Dazu zählt beispielsweise der Beweis, dass deine Befürchtungen nicht zwangsläufig eintreten. Das Ziel der Expositionen sollte jedoch nie sein, dir zu beweisen, dass deine Befürchtungen niemals eintreffen werden. Grayson (2014) lehnt diese sogenannten Verhaltensexperimente für die Behandlung von Zwängen sogar komplett ab. Siehe Grayson (2014), S. 104.
  4. Grayson (2014), S. 64
  5. Die Wichtigkeit, Expositionen und Reaktionsverhinderung im Alltag zu integrieren, wird insbesondere von Ciukpa-Schön (2020) und Grayson (2014) hervorgehoben
Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.