Kognitive Therapie: Erkenne die tückischen Tricks des Zwangs

Von Martin Niebuhr und Burkhard Ciupka-Schön


Die kognitive Therapie hilft dir zu erkennen, welche falschen Glaubenssätze deinen Zwang am Leben halten. Wir stellen dir hier zunächst einige typische zwanghafte Mythen vor. Hast du erst einmal diese zwanghaften Mythen durchschaut, kannst du deinem Zwang besser auf Augenhöhe begegnen und anfangen, dich endlich gegen ihn zu wehren. Die zwanghaften Mythen, die wir hier vorstellen, finden erfahrene Therapeuten immer wieder bei Menschen, die unter Zwängen leiden. Über diese verbreiteten Mythen hinaus hat wohl jeder Betroffene seine ganz eigenen falschen Glaubensätzen entwickelt, die automatisch und unbewusst ablaufen.

Experten haben heute erkannt, dass sich einzelne Betroffene sehr stark in ihrer Distanz zum Zwang, in ihrer Krankheitseinsicht und Motivation voneinander unterscheiden. Vermutlich gehörst du zu den Betroffenen mit einer überdurchschnittlichen Einsicht, sonst hättest du nicht recherchiert und würdest nicht diese Zeilen lesen.

Einsicht ist nicht selbstverständlich, weil wohl die meisten Betroffenen einer Zwangserkrankung nie Rat und Hilfe suchen oder in völlig ungeeigneten Hilfeangeboten landen, dann aber leider zu wenig tun, um für sich die richtige Hilfe zu finden. Also, herzlichen Glückwunsch zu deiner Krankheitseinsicht, sie ist die wichtigste Voraussetzung, um im Kampf gegen deinen Zwang erfolgreich zu sein.

Wie fast alle Betroffenen, die diesen Blog lesen, bist auch du dir vermutlich bewusst, dass deine Zwangsgedanken und Zwangshandlungen übertrieben sind.1 Dass du sie nicht abstellen kannst, liegt aber höchstwahrscheinlich auch an zwanghaften Mythen und falschen Glaubenssätzen, die du über deinen Zwang hast. Eine genaue Erkenntnis und Auflösung dieser Fehlbewertungen helfen dir, die emotionale Wucht deiner Zwangsgedanken zu mindern und ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Neben der Aufdeckung dieser Fehlbewertungen, hilft dir die kognitive Verhaltenstherapie, die Dinge zu akzeptieren, die du nicht ändern kannst und dich den Dingen zu stellen, die dir langfristig Besserung verschaffen. Auch wenn dir die in diesem Artikel vorgestellten Strategien der kognitiven Therapie bereits Linderung verschaffen, ist ihr Hauptanliegen dennoch, dir Mut, Motivation und Durchhaltevermögen für die anschließende Verhaltenstherapie mit Expositionen zu geben. Durch kognitive Therapie, d.h. durch die Aufdeckung von Fehlbewertungen, alleine sind nur die wenigsten Zwänge verschwunden.2 Die Kombination mit Expositionen und Reaktionsverhinderung kann jedoch den großen Durchbruch bewirken, wenn du durch bessere Bewertungsmuster und viel Motivation gestärkt ins Rennen gehst.3

Wenn du deinen Zwang durchschaut hast und ihm auf Augenhöhe begegnest, fällt es dir leichter, zu erkennen, wann du dich gegen ihn wehren und wann du ihn ignorieren solltest. Vielleicht kennst du den Gelassenheitsspruch der Anonymen Alkoholiker: „Gib mir die Gelassenheit, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden." Dieses Zitat gilt auch in vielen Bereichen der kognitiven Verhaltenstherapie bei Zwängen.

Zwanghafte Mythen: Sichtbarmachung und Korrektur von weit verbreiteten zwanghaften Fehlbewertungen

Betroffene haben oft eine verzerrte Wahrnehmung von Dingen, die sich deutlich von der Wahrnehmung normaler Menschen unterscheidet. Die folgende Liste enthält die häufigsten Fehlbewertungen (es gibt aber noch viele mehr):4

1. Intoleranz von Ungewissheit und anderen unangenehmen Gefühlen wie Angst, Scham, Schuld, Unvollständigkeit, Ekel, etc.
Du kannst es beispielsweise nicht ertragen, eine bestimmte Sache nicht genau zu wissen oder absichern zu können. Du glaubst, dass deine Anspannung nicht sein darf und in eine Katastrophe führt. Negative Anspannung und diese Fehlbewertung einer Katastrophe trifft bei fast allen Betroffenen zu und ist in der Regel das zentrale Merkmal der Zwangserkrankung. Negative Anspannungen machen den Zwang zum Zwang. Ohne negative Anspannungen hätten wir es lediglich mit spleenigen Hobbies, ungewöhnlichen Gewohnheiten oder einfach nur mit notwendigen Routinehandlungen zu tun. Betroffene müssen akzeptieren, dass sie eine hundertprozentige Sicherheit nicht erreichen können. Die Suche nach dieser Gewissheit und die Intoleranz gegenüber Ungewissheit und anderen negativen Anspannungen stärken langfristig deinen Zwang. (Hinweis: mehr zur Akzeptanz bei Zwangsstörungen findest du in unserer 10-teiligen Artikelreihe).

2. Schwarz-Weiß-Denken
Bei deinem Zwangsthema kennst du keine Graustufen: Für Betroffene mit hypermoralischen Vorstellungen kann beispielsweise jede Art von Lüge gleich schlecht sein - bedienst du dich auch nur ein einziges Mal einer Notlüge, betrachtest du dich auf der gleichen Stufe wie einen notorischen Betrüger. Betroffene müssen lernen, dass sich die meisten Dinge in unseren Leben in einer Grauzone bewegen und ihr individuelles Zwangsthema keine Ausnahme dessen sein sollte.

3. Verpflichtung zur Gedankenkontrolle
Einschießende Zwangsgedanken, Impulse oder Bilder können weder bewusst kontrolliert noch unterdrückt werden.5 Diese Gedanken - auch wenn sie dir noch so abstrus, pervers oder gefährlich vorkommen sollten - sind ein Teil der menschlichen Kreativität und völlig normal.6 Untersuchungen zufolge haben ca. 90% aller Menschen solche Gedanken.7 Das Paradoxe: Je stärker du versuchst, deine Gedanken zu kontrollieren oder zu unterdrücken, desto häufiger treten sie auf.

Mit Blick auf unser Dreieck aus Gedanken, Gefühlen und Handlungen, dass wir in Kapitel 3. vorgestellt habe, können wir neue Gedanken und Handlungen entwickeln, die die unerwünschten Zwangsgedanken immer blasser erscheinen lassen. Damit umgehen wir das Problem, dass sich unerwünschte Gedanken und Gefühle, die durch einen Trigger ausgelöst werden, nicht einfach abschalten lassen.

4. Überbewertung der eigenen Gedanken / Verschmelzung von Gedanken und Handlungen
Unter dieser Fehlbewertung leiden insbesondere Betroffene mit aggressiven, religiösen und sexuellen Zwangsgedanken, die ständig mit ungewollten, abstoßenden Gedanken konfrontiert werden. Deine Befürchtung könnte sein, dass diese Gedanken tatsächlich etwas über dich aussagen oder dass du sie in die Tat umsetzt. Die kognitive Verzerrung ist, dass du deine Gedanken bereits auf eine Stufe stellst wie die Ausführung dieser Gedanken.8 Beispielsweise denkst du: „Ich könnte in der heiligen Messe aufstehen und einen lauten Fluch gegen Gott ausstoßen". Eine Verschmelzung bedeutet, dass ich diesen Gedanken als Hinweis bewerte, dass ich das tatsächlich auch tue. Und schließlich glaube ich ein schlechter, verdammungswürdiger Christ zu, der mit dem Teufel im Bund steht, weil dieser Gedanke und die damit verbundene Anspannung (Schuld) als „Beweis" für meinen sündigen Charakter werte.

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Unser Vorschlag ist, zu akzeptieren, nicht genau wissen zu können, welche Bedeutung deine Gedanken haben und alle möglichen Interpretationen zu akzeptieren.9 Eines steht allerdings fest: Alle normalen Menschen haben solche Gedanken und diese Gedanken sind weder Impulse noch unterdrückte Wünsche.10 Der Unterschied zu normalen Menschen ist, dass du denkst, deine Gedanken würden etwas über dich aussagen, während jeder andere sie als Hirngespinst abtut und sie oft nicht einmal bemerkt. Und je stärker du diese Gedanken ablehnst oder versuchst zu unterdrücken, desto stärker werden sie. Experten sprechen hier vom „Rebound-Effekt" oder von „Paradoxical Effort".11

5. Emotionale Beweisführung
„Es fühlt sich so an (bspw., dass ich Schuld habe, dass ich mich unsicher fühle, etc.), also muss es wahr sein". Wenn du das in Bezug auf deinen Zwang denkst, dann ist es gut möglich, dass dich deine Emotionen fehlleiten. Die korrigierte Version müsste heißen: „Es fühlt sich so an, also kann es wahr sein".

Viel wahrscheinlicher ist bei Betroffenen von Zwängen hingegen sogar das Gegenteil: Menschen mit einer Zwangserkrankung sind meistens überdurchschnittlich freundliche Menschen. Gottlose können keinen religiösen Zwang entwickeln. Menschen mit einem pädophilen Zwangsgedanken sind Kindern gegenüber sehr fürsorglich, während verurteilte Pädophile nur selbstsüchtig ihrem Trieb gefolgt sind und schwere seelische Schäden bei ihren Opfern verursachen. Unsere Emotionen sind nur eins der vielen Signale, die wir Menschen in unserer Entscheidungsfindung berücksichtigen - neben beispielsweise unserem eigenen Verstand und allen anderen Sinnen. Gefühle schlagen gelegentlich falschen Alarm.12 Dein Zwang will dir vielleicht einreden, schuld zu sein, Angst haben zu müssen, oder dass etwas unvollständig oder nicht perfekt ist. Insbesondere wenn dir diese Emotionen bereits übertrieben vorkommen, ist eine gesunde Skepsis angebracht.

6. Übertriebenes Verantwortungsbewusstsein und Schuldgefühle
Betroffene entschuldigen sich viel häufiger als andere Menschen und zeigen damit auch Außenstehenden ein übertriebenes Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selbst, für andere und für ihre Umwelt. In der Regel führst Du eine doppelte Buchführung und legst zwei verschiedene Maßstäbe an: Von dir selbst erwartest du Perfektion, hundertprozentige Kontrolle und das maximal menschenmöglich Machbare - insbesondere, wenn es darum geht, deine Zwangsbefürchtung zu vermeiden. Gelingt dir etwas nicht, selbst wenn es außerhalb deiner Kontrolle lag, übernimmst du dafür die volle Verantwortung. Schuld ist für dich nicht zu ertragen. Deinen Mitmenschen gegenüber kannst du jedoch verständnisvoll sein und ihnen ihre Fehler verzeihen.

Mach den Test: Erwartest du von dir mehr als von einem guten Freund und fällt es dir schwer, eigene Fehler zu verzeihen, die du einem guten Freund verzeihen würdest? Falls ja, könnte dir dein übertriebenes Verantwortungsbewusstsein im Wege stehen. Dein Therapieziel könnte sein, an dich geringere Ansprüche anzulegen und dir auch mal erlauben, einen Fehler zu machen, dich weniger zu entschuldigen, mal eine kleine Lüge zu erzählen oder unverantwortlich zu handeln.13

Zahlreiche Übungen zur Überwindung der aufgezählten kognitiven Verzerrungen findest du als  PDF in unserem Mitglieder-Bereich

Akzeptanz von Ungewissheit

Neben der Aufdeckung von Fehlbewertungen hat die kognitive Therapie das Ziel, deine Akzeptanz von Ungewissheit sowie von negativen Emotionen und Gedanken zu fördern. Diese Akzeptanz stärkt wiederum deinen Mut und deine Motivation, deinen Zwangshandlungen und Grübeleien trotz Anspannung nicht mehr nachzugehen.

Was auch immer dein individuelles Zwangsthema ist - du akzeptierst dort keine Ungewissheit und strebst nach der einhundertprozentigen Sicherheit. Hinter dieser Ungewissheit stecken fast immer eine oder mehrere Befürchtungen, die du versuchst, um jeden Preis zu vermeiden.14 Für jemanden, der ständig den Herd kontrolliert kann das beispielsweise der Versuch sein, um jeden Preis zu vermeiden, dass die eigene Wohnung abbrennt und damit einhergehend die eigene Familie.

In der Therapie geht es darum, diese Befürchtungen aufzudecken und zu akzeptieren, dass man sie nicht mit hundertprozentiger Sicherheit verhindern kann.15 Dabei geht es keineswegs darum, diese Befürchtungen herunterzuspielen - oft stellen sie ein Szenario dar, das für die meisten Menschen eine Katastrophe sein würde. Nur akzeptieren normale Menschen - meist völlig unbewusst - die Ungewissheit, dass genau dieser Fall eintreten kann.

Beim Umgang mit deinem Zwang stehst du immer vor dem folgenden Zielkonflikt: Auf der einen Seite willst du deine Befürchtungen um jeden Preis vermeiden, auf der anderen Seite willst du aber auch kein Getriebener deines Zwanges mehr sein und hast keine Lust, deine Zwangshandlungen stundenlang durchzuführen - es ist ja nicht so als hättest du Spaß daran.

Die kognitive Verhaltenstherapie stellt dich nun vor die Wahl: Versuche weiterhin vergeblich deine Befürchtungen zu einhundert Prozent zu verhindern und leide weiterhin unter deinem Zwang oder akzeptiere, dass deine Befürchtung wahr werden kann und gib deine Zwangshandlungen auf. Niemand sagt, dass das einfach ist - für viele Betroffene ist dieser Schritt der schwerste. Ohne diese Akzeptanz wird dir aber die Motivation für Expositionen in der Verhaltenstherapie fehlen: Wie sollst du dich deinen Befürchtungen stellen, wenn du noch nicht akzeptiert hast, dass du sie nicht mehr zu einhundert Prozent kontrollieren willst?

Mehr zur Akzeptanz bei Zwangsstörungen erfährst du in unserer 10-teiligen Artikelreihe.

„Was wäre, wenn..."-Methode

Zu Förderung der Akzeptanz bedient sich die kognitiven Therapie nun verschiedener Methoden. Zwei bekannte - und effektive - Methoden sind die „Was wäre, wenn..."-Methode und die Kosten-Nutzen-Analyse.

Bei der „Was wäre, wenn..."-Methode16 fragst du dich nach der Befürchtung, die du zwanghaft versuchst zu vermeiden. Anschließend gehst du noch einen Schritt weiter und fragst dich, was dann noch Schlimmeres passieren kann. Diese Schritte wiederholst du so lange, bis dir kein schlimmeres Szenario mehr einfällt - das ist dann deine schlimmste Befürchtung. Diese Szenarien beinhalten oft Elemente wie den Tod eines geliebten Menschen, sozialen Ausstoß oder ein Leben mit Schuld und Scham. Bedenke dabei, dass es sich dabei nur um ein Szenario handelt. Wie oben beschrieben haben Gedanken keinen Einfluss auf die Realität.

Bei jemanden mit Kontrollzwang könnte die erste Befürchtung beispielsweise sein, dass der angelassene Herd Feuer fängt. Dahinter verbirgt sich dann vielleicht die Furcht, dass die eigene Wohnung einschließlich des geliebten Haustieres und der Nachbarn abbrennt. Vielleicht handelt es sich hier bereits um die größte Furcht - vielleicht steht aber selbst dahinter noch die Befürchtung, für diese fahrlässige Handlung ins Gefängnis zu kommen. Führe diese Übung fort, bis dir kein schlimmeres Szenario mehr einfällt.

Wie gesagt geht es dabei nicht darum, dass man sich dieses Szenario nun wünscht oder es gutheißen würde. Es geht darum, überhaupt die Möglichkeit dieses Szenarios zu akzeptieren, dass man es nicht zu einhundert Prozent kontrollieren kann und man aufgrund dieser Akzeptanz sich bewusst dafür entscheidet, nicht mehr dagegen zwanghaft anzukämpfen.

Bei der „Was wäre, wenn..."-Methode handelt es sich übrigens bereits auch um eine Exposition. Vermutlich verspürst du während der Übung bereits eine hohe Anspannung. Deine identifizierte schlimmste Befürchtung kannst du später in der Verhaltenstherapie noch verwenden, um dich ihr gedanklich immer wieder zu stellen - bis du damit so vertraut bist, dass dich diese Befürchtung langweilt und du sie im schlimmsten Fall akzeptieren könntest.

Wenn du dich vor dieser Übung noch zu sehr fürchtest, mache sie zusammen mit deinem Therapeuten oder führe andere Expositionen durch, bis du dich später dazu bereit fühlst. Beachte jedoch, dass du aktuell vermutlich genau das Gegenteil von dieser Technik machst: Du versuchst alleine schon gedanklich, alle diese schlimmen Szenarien aus deinem Kopf zu verbannen. Langfristig hält diese Strategie deine Anspannung und deinen Zwang aufrecht.

Hinweis: In unserem Mitgliederbereich findest du ein Übungsblatt zur "Was wäre, wenn"-Methode (auch Pfeil-Abwärts-Methode genannt).

Kosten-Nutzen-Analyse

Die Kosten-Nutzen-Analyse17 soll dir helfen, dich gegen deinen Zwang zu entscheiden und stattdessen die Ungewissheit des Lebens zu akzeptieren und Expositionen zu wagen. Am Ende muss die Entscheidung gegen den Zwang deine eigene werden - dein Therapeut, falls du einen hast, und deine Familie, falls diese dir wirklich zuhört, können dich dabei nur unterstützen. Wenn du nicht selbst hinter der Therapie stehst, wird dir die Motivation für die anstehenden Expositionen fehlen und die Wahrscheinlichkeit ist erhöht, dass du auch nach kurzfristigen Erfolgen wieder in deine Zwangsmuster zurückfällst.18 Die Kosten-Nutzen-Analyse soll dir dabei helfen, langfristig Mut und Motivation gegen deinen Zwang zu entwickeln. Mach dir daher die Kosten und den Nutzen sowohl der Therapie als auch deines Zwangs bewusst und wage eine Entscheidung.

Kosten des Zwangs
Viele Kosten des Zwangs sind dir vermutlich mehr als bewusst: Er verursacht großes emotionales Leid, kostet viel Zeit, bringt dich aus dem Moment und entfernt dich von deinen Mitmenschen. Vielleicht schämst du dich auch für deinen Zwang, kannst deinen Job nicht richtig ausführen oder du kommst wegen deines Zwangs ständig zu spät. Schreibe im Detail alle Kosten auf, die dein Zwang verursacht.

Nutzen des Zwangs
Dein Zwang verursacht nicht nur Kosten, sondern hat auch einen subjektiven Nutzen: Gehst du deinen Zwangshandlungen nach, wird manchmal die Wahrscheinlichkeit deiner Befürchtungen geringer - er verschafft dir vorrangig eine Illusion von Sicherheit, aber manchmal auch echte Sicherheit und Kontrolle. Vielleicht verspricht der Zwang dir auch besseren Selbstwert, weil deine hohe, Moralvorstellungen, dein hohes Verantwortungsbewusstsein oder deine Gewissenhaftigkeit dir vorgaukeln, besser als andere Menschen zu sein. Vielleicht bist Du von Eltern, Lehrern und später von Vorgesetzten für deinen Fleiß und deine Disziplin gelobt und belohnt worden. Zwänge entwickeln sich meistens aus Tugenden und nützlichen Zielen, was es oft schwerer macht, sie zu entdecken. Dagegen weiß jedes Kind um die Gefahren von Suchtstoffen. Den Kontrollverlust bei Suchtstoffen bemerken wir meist viel früher.

Vielleicht helfen Zwänge dir auch, schwierige Zeiten zu überstehen, weil dich die Zwänge von bedrohlichen Gedanken und Gefühlen ablenken. Oder du bekommst Macht und Aufmerksamkeit im System deiner Familie, weil alle Mitglieder der Familie deine Tabus und Rituale einhalten.

Versuche dir, den Nutzen deines Zwangs vollständig bewusst zu machen. Diesen Nutzen musst du bewusst aufgeben, wenn du dich für die Therapie mit Expositionen und Reaktionsverhinderung entscheidest.

Hinweis: In unserem Mitglieder-Bereich findest du zahlreiche Beispiele und ein Übungsblatt zu den sogenannten "Funktionen" (Nutzversprechen) des Zwangs. 

Kosten der Therapie
Die Therapie ist langwierig, zeitintensiv und anstrengend. Falls du sie privat bezahlst, kommen vielleicht auch monetäre Kosten auf dich zu. Wenn du im Laufe der Therapie lernst, deine Zwangshandlungen zu unterlassen, riskierst du auch, dass deine schlimmsten Befürchtungen wahrscheinlicher oder gar wahr werden können. Mach dir die Kosten der Therapie vollständig bewusst, bevor du dich dafür entscheidest.

Neben den finanziellen Kosten verändert eine erfolgreiche Therapie immer auch die Beziehungssysteme unter verschiedenen Menschen. Eine Frau, die sich mit Hilfe ihres Waschzwanges von den sexuellen Annäherungen ihres Ehemannes abgrenzt, den sie nicht liebt, entscheidet sich nach einer erfolgreichen Verhaltenstherapie für eine Scheidung und muss dann überlegen, wie sie wirtschaftlich ohne ihren verhassten Ehemann klarkommen soll. Zwänge erzeugen ein Gefühl von Selbstentfremdung und eine Distanz zu „echten" eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Eine erfolgreiche Therapie macht liebes- und leistungsfähiger, zerstört aber auch häufig die Fähigkeit in einem miesen Job und in einer verhassten Partnerschaft zu verweilen.

Nutzen der Therapie
Das Nutzenversprechen der Therapie ist das Gegenteil von den Kosten des Zwanges: Nach erfolgreicher Therapie hast du mehr Zeit für dich und deine Geliebten, emotionale Freiheit, keine quälenden Rituale mehr und keine Scham für deinen Zwang. Gleichzeitig hilft dir die Therapie auch, komorbide Erkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen zu besiegen, für die der Zwang oft der Auslöser ist. Diese Liste kann sehr lang sein - stell dir einfach vor, wie dein Leben ohne Zwang aussehen würde. Was würdest du alles tun können?

Konntest du dich davon überzeugen, die Therapie gegen den Zwang fortzusetzen? Im Laufe der Therapie - insbesondere bei Expositionen - wirst du vermutlich irgendwann mit Zweifeln an dir Selbst und an der Therapie konfrontiert werden. Das ist normal. Der Schlüssel zum Therapieerfolg ist, trotz dessen am Ball zu bleiben und die Therapie fortzusetzen. Versuche daher, eine ausformulierte Version deiner Kosten-Nutzen-Analyse stets griffbereit zu haben, wenn du einen neuen Motivationsschub brauchst. Entscheide dich immer wieder neu dazu, mit deinem Zwang auf eine gesündere Art umzugehen und Ungewissheit in deinem Leben zu akzeptieren.

Hinweis: In unserem Mitgliederbereich findest du ein Übungsblatt zur Kosten-Nutzen-Analyse.

Fallstricke bei der Anwendung von kognitiven Techniken

Leider berichten Betroffene sehr oft, dass sie zwar eine Therapie gemacht haben, davon aber nicht profitieren konnten - selbst, wenn die Therapie von einem kognitiven Verhaltenstherapeuten durchgeführt wurde. Die traurige Realität ist, dass die Mehrzahl der Patienten, die sich zu einer Behandlung entschließen, nicht mit leitliniengerechten Therapieverfahren behandelt werden.19

Hinzu kommt, dass Therapeuten für die Behandlung von Zwängen häufig Therapiemethoden verwenden, die zwar bei anderen Diagnosen hilfreich sind, bei Zwängen aber sogar kontraproduktiv sein können.20 Oft führen Therapeuten - meist ohne es zu wissen - zusammen mit dem Patienten mentale Zwangshandlungen aus, indem sie beispielsweise versuchen, die Zwangsgedanken aufzulösen oder den Patienten davon zu überzeugen, dass seine Gedanken doch gar nichts bedeuten und er „nur katastrophisiert".21 Du weißt vermutlich selbst, dass deine Zwangsgedanken irrational und übertrieben sind. Beruhigen tut dich diese Erkenntnis aber trotzdem nicht.

Die Effektivität der Suche nach Ursachen von Zwängen in der Kindheit wird von ihrer Bedeutung sowohl von Betroffenen als auch von Therapeuten häufig weit überschätzt. Behandlung von Zwängen, das heißt die Exposition mit Reaktionsverhinderung, sollte da geschehen, wo auch der Zwang zuhause ist. Die meisten Zwänge ereignen sich in den eigenen vier Wänden oder am Arbeitsplatz. Therapeuten, die mit Zwängen sehr erfahren sind, weisen die Bereitschaft auf, ihre Praxis zu verlassen und einen Hausbesuch bei den Zwängen ihre Klienten durchzuführen.

Kognitive Techniken müssen auf Zwänge angepasst werden

Bei vielen psychischen Erkrankungen verspricht die kognitive Therapie, dass eine Neubewertung von Gedanken direkt zu einer Verbesserung der Stimmung führt. Bei der Therapie von Ängsten kann beispielsweise eine Neubewertung katastrophisierender Gedanken direkt zu einer Linderung führen, indem dem Betroffenen klargemacht wird, dass seine katastrophalen Vorstellungen weniger schlimm und wahrscheinlich sind als er eigentlich glaubt. Bei Zwängen funktioniert das leider in den meisten Fällen nicht: Betroffene sehnen sich nach der hundertprozentigen Gewissheit, dass die befürchtete Katastrophe nicht passiert. Diese Gewissheit kann jedoch mit einer solchen Technik nicht hergestellt werden.22

Bei Depressionen verwendet man hingegen oft den „Gedanken-Stopp". Hier wird versucht, den Depressiven daran zu hindern, in eine Negativspirale abzudriften. Auch das kann bei Depressionen helfen - Betroffene von Zwängen hingegen fällt es besonders schwer, auf die eigenen Gedanken Einfluss zu nehmen geschweige denn, sie zu stoppen. Der Gedanken-Stopp ist bei Betroffenen von Zwängen daher meist kontraproduktiv.23

Die beiden genannten Beispiele sind nur eine kleine Auswahl an kognitiven Techniken, die von Therapeuten bei Zwängen oftmals falsch eingesetzt werden. Zwänge sind anders als andere psychische Erkrankungen: Das typische Heilsversprechen, dass logische Argumente Gefühle ändern können oder dass du aufgrund von logisch hergeleiteten Erkenntnissen deine irrationalen Gedanken einfach identifizieren und ausblenden kannst, funktioniert bei Zwängen nicht so einfach.24 Auf jede Rückversicherung und jedes logische Argument reagiert dein Zwang immer mit einem neuen „Aber was wäre, wenn..." und wirft dich zurück. Kein Wunder, dass unerfahrene Therapeuten Betroffene von Zwangsstörungen als anstrengend und schwierig und deren Behandlung als mühsam und wenig erfolgsversprechend erachten.25

Bei Zwängen kommen daher sehr spezifische Techniken zum Einsatz - wie beispielsweise die beiden bereits vorgestellten - oder Techniken für andere psychische Erkrankungen, die auf die Behandlung von Zwängen angepasst wurden.

Wenn du nicht sicher bist, ob eine Technik geeignet oder kontraproduktiv ist, stelle dir folgende Frage: Unterstützt dich die Technik dabei, Ungewissheit zu akzeptieren und dich Expositionen zu stellen oder versucht sie dich zu überzeugen, dass deine Befürchtungen, Gefühle und Gedanken unwahrscheinlich und irrational sind und du dir daher keine Sorge darum machen sollst? Eine Technik ist nur dann geeignet, wenn sie dir hilft, Ungewissheit zu akzeptieren und Expositionen durchzuführen.26 Und was es genau mit den Expositionen auf sich hat, erfährst du im folgenden Artikel.

  1. Der Anteil an Patienten mit fehlender Einsicht liegt bei 6 %. Vgl. DGPPN S3-Leitlinie (2022), S. 22
  2. „Remember, logic alone doesn't change feelings.", Grayson (2014), S. 102
  3. Die DGPPN empfiehlt bei Zwangsstörungen aufgrund der Studienlage eine Kombination aus kognitiver Therapie und Verhaltenstherapie einschließlich Exposition und Reaktionsmanagement. Vgl. DGPPN S3-Leitlinie (2022), S. 50
  4. Diese Liste wurde inspiriert von Grayson (2014), S. 98 ff., Fricke (2016), S. 131; Moritz und Hauschildt (2016)
  5. Ciupka-Schön (2019), S. 57
  6. Grayson (2014), S. 100
  7. Fricke (2016), S. 128
  8. Grayson (2014), S. 102
  9. Grayson (2014), S. 100
  10. Seif und Winston (2014), S. 154
  11. Ciupka-Schön (2029), S. 57; Seif und Winston (2014), S. 134
  12. Moritz und Hauschildt (2016), S.162
  13. Grayson (2014), S. 100, Ciupka-Schön, S. 95
  14. Grayson (2014), S. 29; Fricke (2016), S. 16 weist aber darauf hin, dass Zwangshandlungen nicht immer der Reduktion von Befürchtungen dienen müssen.
  15. Für Grayson (2014) stellt diese Akzeptanz die grundlegende Bedingung für die Exposition mit Reaktionsverhinderung dar.
  16. Die Methode, auch „Downward Arrow" genannt, ist angelehnt an Grayson (2014), S. 104 und Seif und Winston (2014), S. 140
  17. Die Methode ist angelehnt an Fricke (2016), S. 134 ff., S. 228 ff. und Grayson (2014), S. 114
  18. Das Thema Motivation für Expositionen wird ausführlich von Ciupka-Schön (2020) (u.a. auf S. 65 ff.) behandelt
  19. DGPPN S3-Leitlinie (2022), S. 48
  20. Grayson (2014), S. 62
  21. Mehr zu „Co-Compulsion" in Seif und Winston (2014), S. 159
  22. Grayson (2014), S. 102
  23. Fricke, S. 191
  24. Grayson (2014), S. 100 ff.
  25. Fricke (2016), S. 7
  26. Grayson (2014), S. 102
Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.