Kontrollzwang: Ein Ratgeber für Betroffene

Von Sarina Kühne, Martin Niebuhr und PD Dr. Susanne Fricke


Hast du den unwiderstehlichen Drang, mehrfach zu kontrollieren, ob deine Türen und Fenster wirklich geschlossen und deine Elektrogeräte ausgeschaltet sind? Oder schaust du beim Autofahren ständig im Rückspiegel, ob du unwissentlich jemanden überfahren hast? Zweifelst du an deiner eigenen Wahrnehmung und befürchtest, aufgrund deiner Nachsichtigkeit eine schwerwiegende Katastrophe auszulösen? Falls das auf dich zutrifft, könntest du unter einem Kontrollzwang leiden. Mithilfe verhaltenstherapeutischer Verfahren gelten Zwangsstörungen heutzutage als sehr gut therapierbar.

“Vorsicht ist besser als Nachsicht” - diesen Spruch hat wohl jeder schon mal zu hören bekommen, wenn es um riskante Situationen im alltäglichen Leben ging. Nicht ohne Grund hat sich das Sprichwort bewährt: Es ist unheimlich frustrierend, wenn durch die eigene Unachtsamkeit eine unangenehme Situation entsteht, die eigentlich hätte verhindert werden können. Deshalb ist es immer besser, auf Nummer sicher zu gehen - oder?

Vorsichtiges Verhalten gilt als Tugend und auch bei dir hat vermutlich alles mit einer guten Absicht begonnen. Vielleicht hat bei dir alles mit einem kurzen Blick auf den Herd oder einem kurzen Rütteln an der Türklinke angefangen, aber nun verbringst du mehrere Stunden damit, deine Wohnung vor dem Verlassen auf mögliche Gefahrenquellen zu untersuchen. Heute fällt es dir unendlich schwer, deine Ängste und Sorgen zu ignorieren, obwohl du eigentlich weißt, dass dein Verhalten irgendwie übertrieben ist. Und wäre es nicht auch unverantwortlich, alles zu unternehmen, um eine große Katastrophe zu verhindern?

Vielleicht beschränken sich deine Sorgen gar nicht auf den eigenen Haushalt: Wenn du auf der Straße Glas oder andere scharfe Gegenstände liegen siehst, lässt dich die Sorge nicht mehr los, dass dadurch unschuldige Kinder zu Schaden kommen könnten oder diese sich in einen Autoreifen bohren, der später auf der Autobahn platzt - mit tödlichen Folgen und einem vermeintlich eindeutigen Schuldigen: Du, der diese Katastrophe hat kommen sehen, aber nicht verhindert hat.

Möglicherweise hast du auch selbst große Angst, jemanden im Straßenverkehr zu verletzen und kontrollierst ständig im Rückspiegel, ob du jemanden unwissentlich überfahren hast und nun Fahrerflucht begehst. Weil du deiner Wahrnehmung nicht traust, fährst du sicherheitshalber nochmal zur “Unfallstelle”, oder kontrollierst dein Auto auf mögliche Unfallspuren. Du kannst kein Indiz für einen Unfall finden - aber wirklich sicher fühlst du dich nicht. Vielleicht checkst du nochmal die Nachrichten zu Unfällen mit Fahrerflucht in deiner Gegend oder rufst sogar bei der Polizei an, um endlich Gewissheit zu bekommen.

Womöglich sorgst du dich aber auch darum, aus Versehen etwas Unangemessenes in einer E-Mail an deinen Vorgesetzten zu schreiben oder wichtige Unterlagen mit katastrophalen Fehlern abzugeben. Anfangs hast du sie nur kurz nochmal kontrolliert. Aber jetzt liest du jedes einzelne Wort penibel Korrektur und auch nach dem Abschicken schaust du mehrfach nach Fehlern.

Egal, um worauf sich dein Drang zur Kontrolle bezieht: Möglicherweise bist du nicht einfach nur “übervorsichtig” oder ein “Kontrollfreak”, sondern Betroffener eines Kontrollzwangs - ein weit verbreiteter Subtyp der Zwangserkrankung.

Als Betroffener eines Kontrollzwangs hast du große Angst davor, dass durch deinen Fehler oder deine Unvorsichtigkeit ein schlimmer Unfall, ein großer Schaden oder eine andere, nicht rückgängig zu machende, Katastrophe entsteht. Diese befürchtete Katastrophe versuchst du durch mehrfaches, zeitintensives Kontrollieren und Überprüfen um jeden Preis zu verhindern.

“Normales” Kontrollieren vs. Kontrollzwang

Vielleicht fragst du dich jetzt, woran du überhaupt erkennen kannst, ob es sich bei deinen Kontroll-Aktivitäten noch um gewöhnliches Kontrollieren oder schon um eine Zwangserkrankung handelt. Die Übergänge von einer vorsichtigen zu einer zwangserkrankten Person sind zwar fließend, aber es gibt einige Merkmale, an denen sich ein Kontrollzwang klar erkennen lässt.

1. Deine Motivation zum Kontrollieren ist keine gewöhnliche Vorsicht, sondern Angst.

Durch deine große Angst, eine mögliche Katastrophe zu verschulden, verspürst du einen unangenehmen, aufdringlichen Drang, diese Katastrophe durch wiederholtes und zeitintensives Kontrollieren um jeden Preis zu verhindern. Dafür hast du klar ausgearbeitete Kontroll-Routinen, die dir Gewissheit verschaffen sollen. Eine Person ohne Kontrollzwang hat diese starken Ängste und den überwältigenden Drang nach Gewissheit durch lange Kontroll-Routinen nicht. Führst du keine Kontroll-Routinen durch, belasten dich große Sorgen und eine ständige Anspannung, die du nicht einfach abschütteln oder ignorieren kannst.

2. Die Beschäftigung mit Kontroll-Routinen ist belastend und zeitintensiv.

Für die Diagnose einer Zwangsstörung ist der Zeitaufwand und die emotionale Belastung entscheidend. Wenn du mehr als eine Stunde am Tag mit deinen Sorgen und Kontroll-Ritualen verbringst, diese deinen Alltag erheblich beeinträchtigen und eine große emotionale Belastung von ihnen ausgeht, spräche dies nicht mehr für ein normales, vorsichtiges Verhalten, sondern für einen Kontrollzwang.

3. Du traust deiner Wahrnehmung nicht.

Betroffene eines Kontrollzwangs zweifeln an ihrer Wahrnehmung und trauen dieser nicht. Jemand ohne Kontrollzwang fühlt nach einem kurzen Nachschauen die Gewissheit, dass das Bügeleisen wirklich ausgeschaltet ist. Im Gegensatz dazu reicht das einmalige Nachschauen bei einer zwangserkrankten Person im Verlauf der Erkrankung nicht mehr aus. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall: Je häufiger du kontrollierst, desto weniger vertraust du deiner eigenen Wahrnehmung.

4. Dir ist bewusst, dass deine Sorgen und dein Verhalten eigentlich übertrieben sind.

In der Regel sind sich Betroffene eines Kontrollzwanges bewusst, dass ihre Rituale und Ängste “nicht normal” und übertrieben sind. Oft beschreiben zwangserkrankte Personen ihren Gefühlszustand so, als würden sie bei vollem Verstand verrückt werden und als wären sie ihren Ängsten hilflos ausgeliefert. Wenn du zum zwanzigsten Mal die Tür kontrollierst, weißt du selber, dass das, was du gerade machst, eigentlich irrational ist. Du kannst dem Drang aber trotzdem nicht widerstehen, weil dich deine Sorgen und Ängste sonst noch viel länger und intensiver belasten würden.

Du erkennst dich wieder? Dann bist du nicht einfach nur übervorsichtig, sondern leidest womöglich unter einem Kontrollzwang.

Symptome von Kontrollzwängen

Entgegen der weitverbreiteten Vorstellung versteht man unter einem Kontrollzwang nicht das Kontrollieren von anderen Menschen, sondern das wiederholte “Checken” von Gegenständen und Erinnerungen - mit der Absicht, absolute Gewissheit herzustellen und damit die eigenen Sorgen und Ängste loszuwerden.

Wie genau sieht ein Kontrollzwang nun aus? Das kann von Person zu Person unterschiedlich sein und richtet sich immer nach den individuellen Ängsten und Befürchtungen des Betroffenen.

Unabhängig von der Befürchtung weisen alle Formen der Zwangserkrankungen einerseits Zwangsgedanken und andererseits Zwangshandlungen auf. Zwangsgedanken sind aufdringliche Gedanken, Gefühle, Impulse und Zweifel, die eine ständige Anspannung auslösen. Bei dir ist das vielleicht der Gedanke, jemand könnte in dein Haus einbrechen, weil du die Tür nicht abgeschlossen hast. Zwangshandlungen sind wiederholte physische Handlungen, Grübeleien und Vermeidungen, die das Ziel haben, deine Befürchtungen zu verhindern und deine Zwangsgedanken und deine Anspannung aufzulösen. Zwangshandlungen sind übertrieben und stehen in keinem Verhältnis zu dem, was angemessen ist.

Typische Zwangsgedanken bei Kontrollzwängen

Kontrollzwänge drehen sich in den meisten Fällen um alltägliche Gebrauchsgegenstände wie Fenster, Türen, Wasserhähne oder Elektrogeräte wie den Herd, können sich aber auch auf andere Aktivitäten wie das Autofahren, Kochen oder Schreiben beziehen. Die Ängste von Betroffenen fallen meist in die Kategorien Sicherheitsbedenken oder Angst vor Katastrophen aufgrund von eigenem unangemessenem oder fehlerhaftem Verhalten.

Wichtig ist dabei noch, dass es je nach Thema einen vernünftigen Anteil an Kontrolle und einen Zwangsanteil geben kann. Beispielsweise ist es vernünftig, eine wichtige Mail vorm Abschicken einmal durchzulesen, ob sie fehlerfrei ist. Aber es ist übertrieben, in einer wichtigen Mail viele Male Buchstabe für Buchstabe zu überprüfen, ob alles richtig ist.

Typische Zwangsgedanken, bei denen sich der Kontrollzwang auf Sicherheitsbedenken bezieht:

  • Die Angst, dass du die Fenster oder Türen nicht richtig abgeschlossen hast und ein Dieb in die Wohnung gelangt
  • Die Befürchtung, dass du den Herd, den Ofen, das Bügeleisen oder andere beheizbare Haushaltsgegenstände nicht ausgeschaltet hast und das Haus abbrennt
  • Die Angst, dass du unbemerkt jemanden mit dem Auto überfahren hast und Fahrerflucht begehst
  • Die Befürchtung, dass du die Gas- und Wasserhähne nicht abgedreht hast und eine Überschwemmung oder Gasvergiftung auslöst
  • Die Angst, dass dein Firmenlaptop gestohlen wird, weil du ihn nicht sicher weggestellt hast
  • Die Angst, dass du beim Kochen versehentlich giftige Substanzen ins Essen gemischt hast
  • Die Angst davor, dass sich Kinder durch deine Unachtsamkeit verletzen (etwa, weil du nicht alle harten Kanten an den Möbeln bedeckt hast)
  • Die Angst, dass du eine potentielle Gefahr nicht erkennst (bspw. lose Kabelenden an einem Trockner) und damit einen großen Schaden auslöst
  • Die Angst, dass wichtige Dinge gestohlen werden oder zu Schaden kommen (bspw. das eigene Auto)
  • Die Angst, Medikamente offen stehen zu lassen, die deine Kinder finden und einnehmen
  • Die Angst, dass du die Handbremse bei deinem Auto nicht festgezogen hast und das Auto sich in Bewegung setzt

Typische Zwangsgedanken, bei denen sich der Kontrollzwang auf Angst vor Katastrophen aufgrund von eigenem unangemessenem und fehlerhaftem Verhalten bezieht:

  • Die Angst, dass du versehentlich unangemessene E-Mails oder SMS verschickst oder verschickt hast
  • Die Angst, gehackt zu werden oder sich einen Computer-Virus einzufangen, weil man im Internet oder in einer E-Mail auf einen falschen Link geklickt hat (häufig in Verbindung mit der Befürchtung, einen großen wirtschaftlichen Schaden für den Arbeitgeber auszulösen)
  • Die Angst, in eine normale WhatsApp-Nachricht aus Versehen ein Schimpfwort oder ein Tabuwort eingefügt zu haben
  • Die Befürchtung, dass du in einem Gespräch aus Versehen beleidigende Dinge sagst oder gesagt hast
  • Die Angst, dass du wichtige Gegenstände wie dein Handy, deine Hausschlüssel oder Unterlagen für die Arbeit verlierst
  • Die Angst, dass Du einen Termin oder eine Aufgabe vergessen könntest (auch wenn du weißt, dass du von allein daran denkst oder dass es nicht schlimm wäre, sie zu vergessen)
  • Die Angst, dass dir bei Geschriebenem oder Berechnetem grammatikalische oder mathematische Fehler unterlaufen
  • Die Angst, Firmengeheimnisse zu verraten, weil Du am Computer nicht aufmerksam warst
  • Die Angst, dass du jemanden ungewollt angerempelt hast
  • Die Angst, wichtige Gegenstände zu vergessen oder vergessen zu haben
  • Die Angst, einen wichtigen Termin nicht in deinen elektronischen Kalender eingetragen zu haben

Typische Befürchtungen bei Kontrollzwängen

Hinter den oben genannten Zwangsgedanken stehen in der Regel größere Befürchtungen - zum Beispiel die Furcht vor lebenslangen Schuldgefühlen, weil durch den eigenen Fehler oder die eigene Unvorsichtigkeit, ob bewusst oder unbewusst, ein schlimmer Unfall, ein großer Schaden oder eine andere, nicht rückgängig zu machende, unangenehme Situation entstanden ist. Diese Sorgen drehen sich meist um deine Mitmenschen, können aber auch dich selbst betreffen.

Hast du beispielsweise Angst, dass der Herd Feuer fängt, dann ist eine mögliche dahinterliegende Befürchtung, dass das Haus abbrennt, Menschen oder Haustiere sterben und du dein Leben lang mit dieser Schuld leben musst.

Betroffene mit Kontrollzwängen leiden typischerweise unter folgenden Befürchtungen:

  • Jemand stirbt oder kommt irreversibel zu Schaden
  • Gefängnisstrafen oder sozialer Ausschluss
  • Lebenslange Schuld und emotionales Leid
  • Große finanzielle Katastrophen

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Beispiele für Zwangshandlungen bei Kontrollzwängen

Mit Zwangshandlungen versuchst du, deine Befürchtungen um jeden Preis zu verhindern und deine Anspannung loszuwerden. Zwangshandlungen gaukeln dir zwar vor, deine Befürchtungen kontrollieren zu können, tun es in Wahrheit aber nur bedingt (wenn überhaupt). Langfristig führen sie dazu, dass du im Zwang gefangen bleibst.

Typische Zwangshandlungen bei Kontrollzwängen sind:

  • Du kontrollierst mehrmals die An/Aus-Schalter und Kabel an elektrischen Geräten.
  • Du ziehst nach Benutzung von Geräten oder vorm Verlassen der Wohnung alle Stecker, auch wenn es eigentlich nicht nötig wäre (z. B. von Lampen).
  • Du kontrollierst viel zu lange Wasser- und Gashähne, ob diese wirklich verschlossen sind.
  • Du machst Fotos von Gegenständen, die du kontrollierst (etwa von der Tür oder vom Herd).
  • Du vermeidest es, als letzter das Haus oder andere Gebäude zu verlassen.
  • Du gibst Verantwortung ab, z.B. bittest du deine Partnerin, die Tür abzuschließen, wenn ihr gemeinsam das Haus verlasst.
  • Bei Angst vor Fahrerflucht: Du schaust mehrfach in die Rückspiegel deines Autos um zu sehen, ob du einen Menschen überfahren hast. Du fährst an die vermeintliche “Unfallstelle” zurück, um zu kontrollieren, ob dort jemand liegt. Du hörst den Polizeifunk und die Nachrichten, um zu prüfen, ob du einen Unfall verursacht hast. Du kontrollierst dein Auto detailgenau auf Unfallspuren.
  • Bei Angst, jemanden unbemerkt angerempelt zu haben, der dann vor die U-Bahn gestürzt ist: Du kontrollierst die Nahverkehrs-App, ob die U-Bahnen an diesem Bahnhof Verspätung haben.
  • Du versuchst, jegliche Gefahrenquellen für andere zu beseitigen (z. B. Scherben oder Nägel auf der Straße oder im Supermarkt).
  • Du vermeidest jede Ablenkung, die zu Fehlern führen könnte, wenn du E-Mails schreibst oder wichtige Unterlagen bearbeitest (z. B. Musik hören oder andere Hintergrundgeräusche).
  • Du fragst andere Menschen nach Rückversicherung (z. B. “Du hast gesehen, wie ich die Tür abgeschlossen habe, oder?”)
  • Du vermeidest es generell, Dinge zu machen, bei denen dir Fehler unterlaufen könnten.
  • Du gehst bestimmte Ereignisse im Kopf immer wieder durch und versuchst dich detailgenau daran zu erinnern (z. B. das Ausschalten des Herdes).
  • Du kontrollierst deine E-Mails und SMS mehrfach bevor und nachdem du sie verschickst.
  • Du gehst abends im Bett mehrfach gedanklich den Tag durch, um herauszufinden, ob wirklich nichts Schlimmes passiert ist.
  • Du schreibst lange To-do-Listen, auf denen viel zu viele banale Punkte drauf stehen (z. B. Aufstehen, auf die Toilette gehen …), um nichts zu vergessen.
  • Du kontrollierst die To-do-Listen übertrieben, um sicherzugehen, dass du alles aufgeschrieben oder abgearbeitet hast.
  • Du ziehst immer wieder die Handbremse von deinem Auto an, sodass sogar die Gefahr besteht, dass diese kaputt geht.
  • Du gehst immer wieder zur IT-Abteilung in deiner Firma und holst dir Rückversicherung, dass du eine E-Mail oder einen E-Mail-Anhang von einem sicheren Absender öffnen darfst.
  • Du speicherst ein Dokument immer wieder, weil du Angst hast, es nicht gespeichert zu haben.
  • Du kontrollierst deinen elektronischen Kalender immer wieder darauf, ob du einen Termin richtig eingetragen hast.
  • Du gehst den bevorstehenden Tag immer wieder in Gedanken durch oder du zählst in Gedanken alle Aktivitäten auf, um sicherzustellen, dass du nichts vergisst.
  • Du sagst bestimmte Wörter oder Sätze wiederholt auf während du Kontrollrituale durchführst (bspw. "AUS, AUS, AUS" oder "1 aus, 2 aus, 3 aus").
  • Du setzt dir eine künstliche Grenze (bspw. zehn- oder zwanzigmal), wie oft du eine Kontrollhandlung durchführst, und zählst währenddessen mit. Mit dem Erreichen dieser Grenze erhoffst du, das erwünschte Gefühl der Sicherheit und "Vollständigkeit" zu erreichen.

Beachte, dass du nicht alle diese Zwangsgedanken, Befürchtungen und Zwangshandlungen haben musst, um einen Kontrollzwang zu haben. Auch wenn nur Weniges auf dich zutrifft oder deine spezifische Angst hier gar nicht aufgelistet ist, kann es sich um einen Kontrollzwang handeln. Zwänge beziehen sich immer auf die Dinge, die Betroffenen persönlich am wichtigsten sind. Und da jeder Mensch anders ist, ist auch jeder Kontrollzwang anders.

Teufelskreis Kontrollzwang: Wieso du nicht “einfach so” aufhören kannst

Ein Kontrollzwang ist für Betroffene nicht nur ein Zeit- und Energiefresser, sondern erzeugt auch großes emotionales Leid. Während Außenstehende dich vielleicht als “Kontrollfreak” abstempeln und nur schwer nachvollziehen können, wieso du nicht aufhören kannst, zu kontrollieren, ist für dich völlig klar, warum du das tust: Du möchtest dich und vor allem deine Mitmenschen beschützen und nicht daran Schuld sein, wenn ihnen Schlimmes widerfährt. Und genau damit hat dich dein Zwang in seine Falle gelockt.

Eine Zwangsstörung kann sich um alle möglichen Themen drehen: Sauberkeit, Ordnung, Moral, Existenz, Schwangerschaft, Beziehungen und vieles mehr. Die “Krankheit des Zweifelns” stürzt sich auf das, was dem Betroffenen selbst am wichtigsten ist - und bei dir ist das vermutlich das Wohlergehen deiner Mitmenschen. In Kombination mit einem überhöhten Verantwortungsbewusstsein hält dich der Zwang in seinem Teufelskreis aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gefangen: Kaum hast du durch langes Kontrollieren einen kurzen Moment der Sicherheit und Ruhe erlangt, kommt sofort der nächste Zweifel um die Ecke.

Typisch für Kontrollzwänge: Zweifel an der Wahrnehmung und die Suche nach Gewissheit

Bei Betroffenen von Kontrollzwängen bezieht sich dieser Zweifel häufig auf die eigene Wahrnehmung: Du siehst zwar, dass die Tür geschlossen ist, aber es fühlt sich einfach nicht so an. Vielleicht zweifelst du aber auch an deiner taktilen Wahrnehmung, also dem Tast- und Empfindungssinn. Du hast das Gefühl, deinen Sinnen nicht vertrauen zu können und dieses Gefühl lässt dich dem Teufelskreis Zwang nicht entfliehen: Woher kannst du wissen, dass die Tür wirklich zu ist? Warum “weißt” du das nicht, so wie andere Menschen auch? Und warum kannst du deinen eigenen Sinnen nicht vertrauen?

Auch wenn bei Betroffenen die individuellen Ängste von Person zu Person variieren, haben alle Zwänge eines gemeinsam: Die Suche nach absoluter Gewissheit. Durch Zwangshandlungen (z.B. Kontrollieren, Vermeiden, Rückversicherung) versuchst du kompromisslos sicherzustellen, dass du dir keine fatale Katastrophe zu Schulden kommen lassen.

Vielleicht kontrollierst du den Herd mehrfach, um die Gewissheit zu erlangen, dass dieser keinen Hausbrand auslöst und dein geliebtes Haustier nicht im Feuer verbrennt. Oder du suchst beim Fahren ständig nach Anzeichen, die auf einen Unfall hindeuten könnten, den du nicht bemerkt hast. Eigentlich weißt du, dass nichts passiert ist - du hättest es ja gemerkt. Aber ganz sicher fühlst du dich trotzdem nicht. Oder du kontrollierst deine E-Mails, weil du ganz sichergehen willst, dich nicht schrecklich zu blamieren oder an einem großen Fehler schuld zu sein.

Vollkommen unabhängig davon, was genau du kontrollierst: Das Bedürfnis nach absoluter Gewissheit ist der treibende Faktor hinter deiner Zwangsstörung.

Unvollständigkeitserleben bei Kontrollzwängen

Viele Betroffene einer Zwangsstörung leiden unter einem quälenden Gefühl der Unvollständigkeit. Bei Kontrollzwängen kann sich das dahingehend äußern, dass sich beispielsweise das Einrasten des Türschlosses nicht ganz richtig anfühlt. Häufig beginnen Kontrollrituale mit einer Katastrophenbefürchtung (bspw. Angst vor Einbruch), allerdings kann das Unvollständigkeitsgefühl der Hauptgrund sein, wieso du mit den Kontrollritualen nicht aufhören kannst.

Vielleicht kennst du auch ein Gefühl der Selbstentfremdung und Unwirklichkeit während du Kontrollhandlungen durchführst. Du fühlst dich wie in Trance, spürst dich nicht richtig oder hast das Gefühl, roborhaft zu handeln oder neben dir zu stehen. Das Gefühl, während der Durchführung von Kontrollhandlungen nicht ganz da zu sein, verstärkt wiederum den Zweifel am erfolgreichen Abschluss deiner Kontrollhandlung und an deiner Wahrnehmung.

Techniken des Kontrollzwangs: Täuschung und Manipulation

Zur Überwindung von Zwangserkrankungen ist es nötig, dass du erkennst, dass du von deiner Zwangsstörung auf mehreren Ebenen grandios getäuscht und manipuliert wirst. Diese Täuschungen führen zur langfristigen Aufrechterhaltung und Verstärkung der Störung.

Zum einen ist dein Verhalten kein Dienst an anderen, sondern dient in erster Linie deiner eigenen Beruhigung. Vielen Betroffenen ist das nicht bewusst, da sich der Zwang unter dem Deckmantel der Tugend verbirgt: Er lässt dich glauben, dein vorsichtiges Verhalten dient vor allem der Sicherheit deiner Mitmenschen. Vielleicht warst du auch zu Beginn deiner Erkrankung noch vor allem dadurch motiviert. Aber das ist nach und nach in den Hintergrund geraten. Inzwischen willst du nur noch den quälenden Zustand nicht endender Anspannung beenden - auch wenn es nur für kurze Zeit ist.

Dazu kommt, dass dein Zwang dich glauben lässt, du würdest dich nur dann sicher und beruhigt fühlen, wenn du für ausreichend Gewissheit gesorgt hast. Auch das ist eine Illusion: Tatsächliche und gefühlte Gewissheit sind zwei verschiedene Dinge, die zwar meistens einander entsprechen - häufig aber auch nicht. Alle Hochzeitspaare fühlen sich sehr sicher, dass sie für immer mit ihrem Partner zusammen bleiben, aber in der Realität lassen sich 50% aller Paare scheiden. Andersherum kann ein Ereignis auch sehr unwahrscheinlich sein (beispielsweise, dass der Herd Feuer fängt, obwohl der Stecker gezogen ist), aber trotzdem kann es sich für dich ungewiss anfühlen. Betroffene einer Zwangsstörung haben eine besonders hohe Intoleranz für diese Ungewissheit, die vermutlich auch genetisch bedingt ist.

Weiterhin gaukelt dir dein Zwang vor, dass es so etwas wie absolute Gewissheit wirklich gibt und du diese auch erreichen kannst, wenn du dich nur genug anstrengst. Aber auch das ist eine Lüge: Absolute Gewissheit gibt es nicht und ist eine Illusion. Du kämpfst also mit allen Mühen einen Kampf, den du nur verlieren kannst.

Und zuletzt sind deine Kontroll-Rituale keine langfristigen Lösungen, sondern die Hauptursache für die Aufrechterhaltung deiner Zwangsstörung. Mit Zwangshandlungen versuchst du, dir absolute Gewissheit zu verschaffen - wirst diese jedoch nie erlangen. Stattdessen passiert das Gegenteil von dem, was du dir erhofft hast: Deine Ungewissheit wird noch größer und wird sich noch unerträglicher anfühlen. Dieser Effekt konnte sogar bei Nicht-Betroffenen in Studien nachgewiesen werden: Je häufiger man etwas kontrolliert, desto unsicherer fühlt man sich. Es ist also nicht überraschend, dass dir keine deiner Zwangshandlungen bisher langfristig geholfen hat.

Damit ist klar, dass für eine langfristige Genesung ein anderer, effektiverer Lösungsansatz gewählt werden muss.

Therapie bei Kontrollzwängen

Die Therapie der ersten Wahl für alle Subtypen der Zwangsstörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsmanagement.

Bei dieser effektiven Form der Psychotherapie lernst du, dich Schritt für Schritt angstauslösenden Situationen und Gedanken zu stellen (Exposition) ohne zu versuchen, die ausgelöste Anspannung mithilfe von problematischen Bewältigungsstrategien wie Zwangshandlungen, Vermeidungen oder Rückversicherungen zu verringern (Reaktionsmanagement).

Mithilfe solcher Expositionen machst du die Erfahrung, dass du zwangsauslösende Situationen und Gedanken aushalten kannst und deine Anspannung sogar nachlässt, wenn du nichts dagegen unternimmst. Dadurch, dass du dir Schritt für Schritt beibringst, auf deine Anspannung auf eine neue Art zu reagieren, geht deine Zwangssymptomatik zurück und die Anspannung lässt langfristig nach.

Auch wenn die Therapie mit Expositionen als anstrengend gilt, so ist sie für Betroffene doch sehr lohnend: Zwangsstörungen zählen heute zu den psychischen Störungen mit den besten Therapieaussichten.

Um dich effektiv vom Zwang zu lösen, ist es also nötig, genau das Gegenteil von dem zu machen, was dir deine Ängste und deine Intuition sagen: nicht übertrieben zu kontrollieren. Eine Zwangserkrankung lebt vom Zusammenspiel aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Indem du deine Zwangshandlungen (übertriebenes Kontrollieren, Vermeiden usw.) unterlässt, brichst du den Zwangs-Teufelskreis an der einzigen Stelle, an der du tatsächlich etwas ändern kannst.

Aber wie soll das möglich sein? Vielleicht hast du bisher auch schon erfolglos versucht, deine Kontroll-Rituale zu unterlassen, hast dich aber immer wieder vom Zwang verunsichern und in seinen Teufelskreis zurückziehen lassen. Vielleicht sagen dir auch deine Mitmenschen wiederholt, dass du es “einfach” sein lassen sollst: “Die Tür ist doch zu!”. Solche Ratschläge sind keine Hilfe für dich - schließlich weißt du das eigentlich selbst.

Gewissermaßen haben deine Angehörigen Recht: Für die Überwindung eines Kontrollzwangs ist es langfristig notwendig, auf Kontroll-Rituale zu verzichten. Wir sind aber der Ansicht, dass es dafür mehr braucht als den verzweifelten Versuch, Dinge sein zu lassen, die man eigentlich sowieso nicht machen will. Was es braucht, ist ein tiefes Verständnis, warum dir bisher nichts geholfen hat, eine neue Perspektive und die richtige Motivation, ein freies, zwangloses Leben mit einer gewissen Ungewissheit und Restrisiko zu wagen.

Kontrollzwänge: Ungewissheit und Restrisiko wagen

Zuerst einmal haben wir eine Nachricht für dich, die du sicher nicht so gern hören möchtest. Zur Überwindung deines Kontrollzwangs wirst du etwas tun müssen, was für dich vermutlich sehr unangenehm ist: Ungewissheit und Restrisiko akzeptieren.

Ungewissheit ist die treibende Kraft hinter fast jedem Zwang. Betroffene mit Waschzwang können beispielsweise kaum ertragen, nicht zu wissen, ob sie nicht doch andere Menschen mit Krankheitserregern angesteckt haben. Als jemand mit Kontrollzwang fällt es dir hingegen schwer, nicht genau zu wissen, ob du alles getan hast, um eine vermeidbare Katastrophe zu verhindern.

Und genauso wie man jemandem mit Waschzwang nicht garantieren kann, dass seine Befürchtung zu 100% ausgeschlossen ist (das siehst du vermutlich genauso), kann auch dir niemand garantieren, dass deine Befürchtungen niemals eintreten werden.

Gewissheit ist ein Gefühl, kein Fakt. Bei Betroffenen von Zwangserkrankungen ist dieses Gefühl aus dem Gleichgewicht geraten. Wie bereits erwähnt, sind es aber die Zwangshandlungen, die diese Störung der Gefühlswelt am Leben erhalten. Sie helfen dir nicht nachhaltig, deine ersehnte Gewissheit herzustellen und deine Anspannung zu neutralisieren - im Gegenteil: Zwangshandlungen gaukeln dir vor, sicherer zu werden, führen langfristig aber zu noch höherer Verunsicherung. Wäre das nicht so, hätte sich dein Kontrollzwang von selbst aufgelöst und du würdest diesen Artikel nicht lesen.

Der erste Schritt zur Überwindung der Zwänge ist daher, sich bewusst dafür zu entscheiden, Ungewissheit und Anspannung tolerieren und akzeptieren zu lernen. Und wir wollen dir drei Gründe nennen, die dich bei dieser Entscheidung unterstützen.

1. Deine Kontroll-Rituale erfüllen ihren Zweck sowieso nicht

Du hast zwar das Verlangen, deine Befürchtungen vollständig zu verhindern, aber wenn du ehrlich zu dir bist, sind deine Rituale und Vermeidungen dazu nicht in der Lage. Auch nach stundenlangem Ausführen von Kontroll-Ritualen kommen schnell wieder Zweifel hoch: Kannst du dir trotz all deiner Rituale ganz sicher sein, dass du deine befürchtete Katastrophe wirklich verhindert hast? Warst du während deiner Kontroll-Rituale an der einen oder anderen Stelle vielleicht nicht doch etwas zu nachlässig?

Vermutlich kämpfst du schon seit langer Zeit den Kampf um absolute Gewissheit. Deine Zwangsrituale haben ihren Zweck aber nie dauerhaft erfüllt und werden es auch in Zukunft nicht tun. Mit deinem jetzigen Vorgehen wird sich dein Zwang nicht auflösen, sondern dein Leben immer weiter einengen.

2. Was wäre, wenn du es nicht wagst?

Der Zwang ist die „Krankheit des Zweifelns". Immer wieder konfrontiert er dich mit Schreckensszenarien und drängt dich dazu, diese zu verhindern. Dabei verlieren Betroffene oft aus dem Blick, was eigentlich das größte Risiko ist: Nicht selbstbestimmt im Hier und Jetzt zu leben und sich selbst nicht die Chance zu geben, Ungewissheit zu wagen und mit den hier vorgestellten Methoden von dieser heimtückischen Erkrankung zu genesen. Auch deine Mitmenschen werden dir danken, wenn du für sie wirklich da sein kannst, statt zu versuchen, sie vor Gefahren zu schützen, die höchstwahrscheinlich nie eintreten.

3. Motivation, Mut und Hoffnung auf ein normales Leben

Betroffene leiden oft so stark unter ihrem Zwang, dass sie sich ein normales Leben gar nicht mehr vorstellen können. Dabei haben es so viele mithilfe einer Therapie bereits geschafft, wieder ein erfülltes, freies und werteorientiertes Leben zu leben. Du kannst deine Motivation steigern, indem du dir die Aussichten einer erfolgreichen Therapie vor Augen hältst. Hier sind einige Beispiele:

  • Du kannst wieder ohne vorherige Kontrollrituale das Haus verlassen.
  • Du verschwendest keine Zeit mehr für nutzlose Rituale und hast Zeit für die Dinge, die dir wichtig sind.
  • Du wirst Zuversicht haben, mit Ungewissheit und Anspannung umgehen zu können, auch wenn in deinem Leben schwierige Situationen eintreten sollten.
  • Deine Anspannung wird nach der Therapie deutlich geringer sein.
  • Du bist wieder Herr über dich selbst und kannst dein Leben nach deinen Vorstellungen gestalten.
  • Du hast einen besseren Zugang zu dir, deinen Gefühlen, Zielen und Werten.
  • Du verbringst weniger Zeit mit Sorgen um Befürchtungen, die du sowieso nicht vollständig verhindern kannst.
  • Du hast mehr Zeit, die du mit Hobbies oder deiner Familie und Freunden verbringen kannst.

Da dein bisheriges Verhalten bisher langfristig nicht geholfen, sondern deinen Zwang immer weiter verschlimmert hat, ist dir jetzt vermutlich klar, dass für eine nachhaltige Genesung ein anderer, effektiverer Lösungsansatz gewählt werden sollte. Expositionen mit Reaktionsverhinderung haben sich als Goldstandard bei der Therapie von Zwangsstörungen erwiesen: Sie unterbrechen den Teufelskreis, der dich in den Zwangshandlungen gefangen hält.

Verhinderst du die Reaktionen (z. B. Kontrollieren, Rückversicherungen) auf deine Ängste, entziehst du ihnen die Macht über dich und reduzierst damit auf Dauer die Dringlichkeit der Zwangsgedanken. Du lernst, Ungewissheit zu tolerieren. Und bist du fähig, mit Ungewissheit zu leben, bist du auch fähig, das Kontrollieren und andere Zwangshandlungen aufzugeben. Langfristig führt das Unterlassen von Ritualen zu einer Reduktion der Zwangssymptomatik und damit zu einer geringeren Anspannung und einer höheren Lebensqualität.

Uns ist selbstverständlich bewusst, dass eine solche Therapie mit viel Anstrengung und Mühe verbunden ist. Wenn du aber offen dafür bist, etwas in deinem Leben zu ändern und einen neuen und langfristig gesunden Umgang mit deinem Kontrollzwang zu erlernen, können dir Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie sehr dabei helfen. Mithilfe anstrengender, aber lohnenswerter Expositionen befreist du dich Schritt für Schritt aus den Klauen des Zwangs und findest in ein freies, selbstbestimmtes Leben zurück.

Beispiele für Expositionen bei Kontrollzwängen

Mithilfe von gezielten Expositionen und anschließender Reaktionsverhinderung (Abbau von Kontroll-Ritualen) kannst du dich deinen Zweifeln, Ängsten und Befürchtungen stellen - und sie endlich überwinden. Kurz gesagt trainierst du damit dein emotionales Gehirn darauf, vor deinen Befürchtungen weniger Angst zu haben und Ungewissheit akzeptieren zu können, ohne mit Zwangshandlungen darauf reagieren zu müssen.

Das Prinzip der Exposition wird nicht nur bei Phobien und Ängsten, sondern auch bei Zwangsstörungen sehr erfolgreich eingesetzt. Sie gelten als der Goldstandard für die Therapie von Zwangsstörungen und werden in der offiziellen Behandlungsleitlinie als Therapie der ersten Wahl empfohlen.

Aber wie sehen Expositionen nun in der Praxis aus? Genauso wie sich Zwangsgedanken und Zwangshandlungen von Person zu Person unterscheiden, müssen auch Expositionen individuell angepasst werden. Du solltest außerdem vorweg überlegen, welcher Anteil von deinen Kontrollhandlungen gesund ist (und damit bleiben kann) und welcher übertriebenen Zwangshandlungen entspricht (also weggelassen werden sollte). Bei der Planung ist es außerdem sinnvoll, mit leichteren Expositionen anzufangen und dann die Schwierigkeit zu steigern.

Bei Kontrollzwängen kommen dabei insbesondere situative, aber auch imaginative Expositionen zum Einsatz.

Hier findest du einige Inspirationen, die als situative Expositionen bei Kontrollzwängen eingesetzt werden können:

  • Hast du Angst davor, jegliche Art von Geräten anzulassen, schalte das Gerät schnell aus und drehe dem Gerät anschließend sofort und ohne weiteres Kontrollieren den Rücken zu. Gehe anschließend ins Bett oder zur Arbeit, ohne den An/Aus-Schalter vorher nochmal zu prüfen.
  • Hast du Angst davor, Türen oder Fenster offen zu lassen, wende dieselbe Strategie an und drehe dem Fenster oder der Tür direkt nach dem Schließen den Rücken zu.
  • Wenn du vorwiegend mit den Augen kontrollierst: Schließe die Augen während du (einmalig) das Gerät ausschaltest / die Tür schließt. Führe die Handlung in Zeitlupe aus. Mit langfristiger Übung kannst du damit gleichzeitig deine eigene Körperwahrnehmung und Handlungssicherheit verbessern.
  • Wenn du Angst hast, jemanden zu überfahren, fahre absichtlich in sehr belebten Gegenden wie der Stadt oder auf Parkplätzen und versuche, nicht ständig im Rückspiegel zu kontrollieren, ob du einen Unfall verursacht hast. Fahre nicht zur “Unfallstelle” zurück und laufe vom Auto direkt zu deinem Ziel, ohne dein Auto auf vermeintliche Unfallspuren zu kontrollieren.
  • Vermeidest du redende Beifahrer oder das laufende Radio, weil du denkst, dass diese Unfallwahrscheinlichkeit steigern, mache das Radio absichtlich an und setze eine redefreudige Person auf den Beifahrersitz.
  • Hindere dich daran, bei den Personen um dich herum nach Rückversicherung zu fragen (z. B. “Du hast gesehen, wie ich den Herd ausgemacht habe, oder?”).
  • Verlasse absichtlich das Haus als letzter.
  • Google keine Wahrscheinlichkeiten für Unfälle und vermeide Foren, in denen Betroffene von diesen Ängsten sich gegenseitig rückversichern.
  • Wenn du Angst vor Fehlern oder unangemessenen Inhalten in E-Mails, Briefen, Formularen etc. hast, lies sie nur einmal schnellstmöglich durch, bevor du sie abschickst und kontrolliere sie auch nach dem Abschicken nicht.
  • Schreibe auf deine To-do-Liste nur wichtige Dinge.

Du kannst zu Übungszwecken auch mal etwas machen, was man normalerweise nicht macht, z. B.:

  • Wenn du Angst davor hast, ein großes Feuer auszulösen, lasse bewusst das Licht an oder den Stecker des Föns eingesteckt.
  • Gehe aus der Wohnung bei tropfendem Wasserhahn.
  • Hast du Angst, beim Kochen das Essen zu vergiften, stelle absichtlich potenziell gesundheitsschädigende Produkte wie Reinigungsmittel oder Pflanzenpestizide in die Nähe der Kochfläche.

Vielleicht kommt dir die eine oder andere genannte Exposition zu riskant vor. Das ist normal. Halte dir aber vor Augen, dass es sich bei unseren Vorschlägen um ganz normales (meist unbewusstes) Verhalten von Menschen ohne Kontrollzwang handelt. Wenn du daran zweifelst, dass eine Exposition geeignet ist, kannst du dich daher auch fragen, ob das eine Person ohne Kontrollzwang auch manchmal absichtlich oder unabsichtlich machen würde. Im Zweifelsfall kannst du auch deinen Psychotherapeuten oder Menschen mit neutralem Bezug zum Kontrollieren fragen.

Außerdem ist es wichtig, die Expositionen langfristig auch ohne das Beisein einer anderen Person durchzuführen. Die Präsenz anderer Personen kann ein verstecktes Rückversicherungsverhalten sein, indem du dich mit folgendem Satz beruhigst: “Wäre der Herd noch an, hätte die andere Person es ja gemerkt und ihn abgeschaltet”.

Bei imaginativen Expositionen stellst du dich gedanklich deinen Befürchtungen und gewöhnst dich langsam daran, weniger stark auf sie zu reagieren. Imaginative Expositionen können auch mit situativer Exposition kombiniert oder im Beisein eines Therapeuten angewendet werden.

Hier findest du einige Inspirationen, die als imaginative Expositionen bei Kontrollzwängen eingesetzt werden können:

  • Stelle dir detailliert das Desaster vor, das du befürchtest auszulösen, und gehe dabei genau darauf ein, wieso du selbst versagt hast, es zu verhindern, und wieso du es ausgelöst hast.
  • Schreibe auf, was passiert, wenn du beim Autofahren jemanden überfahren hast, derjenige jetzt tot ist und die Polizei dich mit einem Haftbefehl sucht. Vermeide anschließende mentale Zwangshandlungen, wie bspw. dir selber Rückversicherung zu geben.
  • Nimm deine genauen Befürchtungen auf ein Tonaufnahmegerät auf und höre sie immer wieder an.

Die Verwendung von situativen und imaginativen Expositionen zusammen kann beispielsweise so aussehen:

Paul hat Angst davor, dass er durch das Anlassen eines elektrischen Haushaltsgerätes einen Hausbrand verursachen könnte. Also lässt er alle Stecker eingesteckt, schaltet das Licht an und fährt dann in einen nahegelegenen Park. Dort stellt er sich gedanklich vor, wie das Haus abbrennt und wer und was dabei alles zu Schaden kommt. Außerdem geht er gedanklich intensiv auf das Schuldgefühl ein, das er damit davontragen würde. Anschließend geht er wie gewohnt zum Sport. Auf Zwangshandlungen wie Rückversicherung, (mentales) Kontrollieren oder Vermeidung verzichtet er dabei komplett.

Das Ziel von Expositionen ist es, dass das Gehirn lernt, dass du auch mit Ungewissheit deinen Alltag weiterleben und nachts schlafen kannst. Du lernst mit der Zeit, dass es nicht zu fatalen Katastrophen kommen muss, wenn du deine Zwangshandlungen nicht ausführst (auch wenn es keine absolute Garantie gibt). Expositionen helfen dir also, neue Erfahrungen zu machen. Durch diese neuen Erfahrungen nimmt die emotionale Intensität und Häufigkeit deiner Zwangsgedanken und Sorgen ab und du eroberst Schritt für Schritt dein freies und selbstbestimmtes Leben zurück.

Hilfe bei Kontrollzwängen

Auf OCD Land findest du viele weitere nützliche Inhalte, die dich dabei unterstützen, deinen Zwang zu überwinden:

Weitere Informationen rund um das Thema Zwangsstörungen und wie du sie überwindest findest du auch im Buch Zwangsstörungen verstehen und bewältigen* von Susanne Fricke, der Co-Autorin dieses Artikels.

Wenn du dich mit deinem Kontrollzwang überfordert fühlst und Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, möchten wir dir außerdem dringend empfehlen, einen auf Zwangsstörungen spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen. Da es nicht leicht ist, einen solchen Spezialisten zu finden, geben wir dir in diesem Artikel konkrete Tipps.

Über die Autoren
Sarina Kühne

Sarina ist eine ehemalige Betroffene einer Zwangsstörung und setzt sich engagiert für die Aufklärung über Zwangserkrankungen ein. Unter anderem hat sie auf OCD Land einen Betroffenenbericht geschrieben und war zu Gast im Zwanglos-Podcast. Als Digital Marketing Manager erstellt Sarina für OCD Land informative und hilfreiche Artikel für unseren Experten-Blog, Instagram-Posts und YouTube-Videos. Sie ist außerdem Moderatorin im Community-Forum.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

PD Dr. Susanne Fricke

PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.