Die 5 Gemeinsamkeiten aller Zwänge

Von Burkhard Ciupka-Schön und Martin Niebuhr

Die Zahl 5 auf der Straße.

Die verwirrende Vielfalt an Zwangsgedanken, Anspannungen und Zwangshandlungen trüben leicht den Blick für das Wesentliche, das hinter den Erscheinungen der verschiedenartigen Zwangsstörungen steht. Gerüchteweise ist von Betroffenen und Profis immer wieder davon zu hören, dass einige Formen des Zwanges leichter oder schwerer behandelbar sind. Unseres Erachtens überwiegen aber eindeutig die Gemeinsamkeiten der Zwänge. Mit dem Konzept der „Big Five of OCD“ beschreiben wir fünf wesentliche Merkmale, die wir bei jeder Variante der Zwangsstörung antreffen. Damit wollen wir Verwirrungen, Unstimmigkeiten oder selbsterfüllenden Prophezeiungen („Mein Zwang ist so ungewöhnlich, da lässt sich bestimmt nichts machen!“) vorbeugen. Die Big Five liefern interessante Ansätze für Therapie und Selbsthilfe auf der Lebensbühne.

Nach dem Vorbild der Yale-Brown-Obsessive-Scale (Y-BOCS), dem immer noch gültigen Goldstandard der Diagnostik von Zwangsstörungen, haben wir im Artikel "Habe ich eine Zwangsstörung?" eine aktuelle Symptom-Checkliste der uns bekannten Zwangsgedanken und Zwangshandlungen vorgestellt, die wir nach verschiedenen Formen negativer Anspannung (Schuld, Scham, Angst, Ekel, …) getrennt haben.

An Aktualität und Umfang haben wir unser Vorbild Y-BOCS sicher übertroffen. Eine vollständige Auflistung aller Zwänge können und wollen aber wir wohl nie erreichen. Wir beobachten einen dynamischen Prozess, in dem wir immer neue Varianten von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kennenlernen, weil sich Zwänge stets von den gegebenen aktuellen äußeren Bedingungen inspirieren lassen. Alte Zwänge (Religion, Tollwut, Asbest, …) sterben langsam aus und neue Zwänge bilden sich (Pädophilie, Datenleak im Internet, …) durch neue Themen in den Medien.

Was den Zwang ausmacht, ist also nicht das Thema, auf das sich der Zwang beziehen – die Themen passen sich gesellschaftlichen Trends an und ihnen sind keine Grenzen gesetzt. Den Zwang an bestimmten Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen festzumachen, ist daher völlig unmöglich. Um einen Zwang als Zwang zu entlarven, ist das glücklicherweise aber auch gar nicht notwendig. Wir möchten in diesem Artikel eine Alternative vorstellen.

Wenn du dir nicht sicher bist, ob einige deiner Gedanken und Handlungen zu Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gezählt werden können, schlagen wir dir die „Big Five of OCD“ vor, die dir einige überschaubare Kriterien zur Unterscheidung zwischen Nicht-Zwang und Zwang liefern. Damit könnte bei den immer wieder neuen Themen des Zwanges Ordnung und Übersicht in die schier unüberschaubare Vielfalt der Zwangswelt gelangen und lähmendes Chaos überwunden werden.

Big Five of OCD

Kriterien für zwanghafte Rituale und Tabus Kriterien für gesunde Rituale und Tabus
1. Zwanghafte Rituale und Tabus sind zeitlich und räumlich unbegrenzt und exzessiv; Ausnahme: Kontrollieren und Horten sind auf die eigene Wohnung bzw. den Arbeitsplatz begrenzt. Zeitliche und räumliche Begrenzung: Gesunde Rituale und Tabus* haben einen definierten Anfang und ein Ende; gewöhnlich finden sie an einem bestimmten Ort (z.B. Kirche, Mosche) statt, der zu einer Gemeinschaft gehört.
2. Zwangsrituale dienen der Neutralisierung von negativer Anspannung und behindern eine differenzierte emotionale Verarbeitung; Entwicklung wird blockiert oder sogar zurückgedreht. Gesunde Tabus und Rituale dienen einer emotionalen Verarbeitung, sie markieren Entwicklungsabschnitte (Taufe, Konfirmation, Schulabschluss, Hochzeit, Beerdigung) und fördern Entwicklung.
3. Zwanghafte Tabus und Rituale sind geheim und nur sehr wenigen Menschen bekannt. Es besteht eine große, irrationale Angst vor Entdeckung und Stigmatisierung; oft findet ein Rückzug statt zugunsten der Geheimhaltung und Reduktion von Beziehungen. Gesunde Tabus und Rituale sind öffentlich und sind allen Mitgliedern innerhalb einer Gruppe bekannt; gesunde Tabus und Rituale fördern Beziehung und den Zusammenhalt einer Gemeinschaft.
4. Zwanghafte Rituale und Tabus sind unsinnig oder gar von paradoxer Bedeutung; es tritt meistens das Gegenteil von dem ein, was die ursprüngliche tugendhafte Absicht hinter dem Zwang (Sauberkeit, Ordnung…) war. Gesunde Rituale und Tabus haben einen Sinn und eine Bedeutung, die allen Angehörigen einer zugehörigen Gemeinschaft bekannt ist. Professionelle Wasch- oder Kontrollhandlungen haben einen Zweck, der wissenschaftlich belegbar ist.
5. Zwanghafte Befürchtungen sind abstrakt/unsichtbar und in einer vagen Zukunft angesiedelt; zwanghafte Befürchtungen haben nichts mit einer realen Erfahrung zu tun; die Gefahren des Zwanges sind von den Betroffenen noch nicht konkret erlebt worden. Gesunde Ängste sind konkret, im Hier und Jetzt, sichtbar und mit einfachen Bildern oder Fotos darstellbar; gesunde Ängste basieren auf realen eigenen Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit oder aus realen Erzählungen.

* Die Begriffe Tabu und Ritual verbinden wir eher mit religiösen Themen. Bei Zwängen sprechen wir dann von Meidung oder Zwangsritual. Mehr dazu in unserem Artikel zu religiösen Zwängen.

1. Grenzenlosigkeit und Exzess

Das Waschen, das in der Ausbildung der Krankenpflege gelehrt wird, folgt klaren Regeln (z.B. nach jedem Patientenkontakt) und ist auch zeitlich begrenzt, um bei vielen Patientenkontakten einer zu starken Belastung der Haut vorzubeugen. Kein Mensch mit einem Waschzwang käme auf die Idee, ein Lehrbuch für die Hygiene in der Krankenpflege zu schreiben, weil klar ist, dass die Zwänge keiner wissenschaftlich haltbaren Idee folgen.

Zwanghaftes Waschen und auch viele andere Zwangshandlungen sind hingegen unbegrenzt und exzessiv - das heißt, zwanghaftes Waschen belastet die Haut deutlich über ein gesundes Maß hinaus. In der Verhaltenstherapie/Exposition wird dem betroffenen Klienten daher vor allem eine zeitliche Begrenzung des Problemverhaltens vermittelt. Früher dienten hier einfache Wecker zur Unterstützung, heute helfen hier entsprechende Apps im Handy.

Nach dem Zwei-Bühnen-Modell vom Verhaltenstherapeuten Nicolas Hoffmann gibt es neben der Zwangsbühne eine zugehörige Lebensbühne: Fällt es dir auch im wirklichen Leben schwer, dich gegenüber sehr einschränkenden oder unberechtigten Anforderungen deiner Mitmenschen abzugrenzen? Bist du in einer partnerschaftlichen Symbiose mit verschwommenen Grenzen oder gar Verstrickungen? Oder darf sich in deiner Partnerschaft jeder Partner unabhängig nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen entfalten? Findest du leicht ein gesundes Maß oder erfüllst du dir gesteckte Anforderungen im Übermaß? Bist du immer pünktlich? Redest du deutlich länger als andere Menschen und kommst du dabei vom Hundertste ins Tausendste?

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2. Neutralisierung von Anspannung

Vermeintlich geht es bei deinem Zwang um einen guten Zweck: Sauberkeit, Sicherheit, Ordnung, usw. - was sollte daran falsch sein? Ganz einfach: Wenn du ehrlich zu dir bist, entspricht das nicht wirklich der Tatsache!

Die Wahrheit ist: Es geht nicht um die Erfüllung irgendwelcher Tugenden, es geht bei Zwängen immer um Neutralisierung von negativer Anspannung. Den meisten Betroffenen einer Zwangsstörung ist völlig bewusst, dass ihre Gedanken und Befürchtungen übertrieben sind, da diese in völligem Gegensatz zu ihren tatsächlichen Werten stehen.

Nicht die teils abstrusen, perversen und brutalen Zwangsgedanken machen den Zwang zum Zwang (denn diese Gedanken haben auch Nicht-Betroffene), sondern die damit einhergehende Anspannung. Die Anspannung ist das, was die Zwangsgedanken und Befürchtungen so unangenehm und schier unaushaltbar macht. Wäre die Anspannung nicht da, wären Zwangsgedanken nur normale Gedanken – wie bei allen anderen Menschen auch.

Es geht beim Zwang also nicht um das Thema oder um einen vermeintlich guten Zweck. Es geht immer darum, eine negative Anspannung loszuwerden. Die Gefühle von Schuld, Scham, Angst, Ekel, Unvollständigkeit und Depersonalisation sind typisch für Zwänge und haben wir an verschiedenen Stellen auf OCD Land bereits vorgestellt. Und vermutlich wird die zwanghafte Ausprägung negativer Anspannungen je nach Kultur und zeitgeschichtlichem Bezug variieren.

Vielleicht haben Zwangshandlungen zur Krisen- und Spannungsbewältigung am Anfang tatsächlich funktioniert und dir versprochene Beruhigung verschafft. Auch gesunde Rituale vermitteln im Leben eine gewisse Ordnung und geben emotionalen Halt in schwierigen Lebenssituationen. Mittlerweile neutralisierst du mit deinen Zwangshandlungen aber diejenigen Anspannungen und Ängste, die du ohne deinen Zwang gar nicht hättest. Zwangshandlungen / Neutralisierungen sind keine Lösungen, sondern sie sind das Problem!

Was kann man tun? Jenseits der Zwangsbühne solltest du auf der Lebensbühne bessere Lösungen gegen zu viel Anspannung finden: Einen guten Ausgleich zwischen Pflicht und Erholung zum Beispiel. Wann hattest du das letzte Mal Spaß? Auch durch zu viele ungelöste Probleme und unerledigte Absichten entsteht Anspannung, die nicht abgebaut wird. Trenne dich von vielen deiner Absichten, insbesondere von den Absichten, bei denen ein „Muss“ davorsteht, und von Absichten, die mit Perfektion verbunden sind. Viele aufgeschobene Entscheidungen sind auch kein Weg. Daher müssen Entscheidungen getroffen werden.

Emotionen sind in der Regel wichtige Ratgeber! Wer sich in einem zwanghaften Dauerzustand der Anspannung befindet, hört diese Ratgeber aber nicht mehr. Durch Zwänge wird deine emotionale Entwicklung aufgehalten oder sogar zurückgedreht. 50-jährige zwangskranke Männer wohnen noch bei ihren Müttern, anstatt ihren natürlichen Bedürfnissen nach Liebe, Sexualität oder Gründung einer Familie nachzugehen. Humor kann Anspannung wunderbar in Entspannung verwandeln. Außerdem nimmt Humor der Peinlichkeit den Wind aus den Segeln.

3. Geheimnis und Peinlichkeit

Wenn zwangserkrankte Menschen mit Experten über ihre Zwangsstörung sprechen, lautet ihre häufigste Frage: „Ist das normal?“. Daraus lässt sich das Gefühl einer übermäßigen Peinlichkeit ableiten - verbunden mit der Bitte um Rückversicherung in Bezug auf die Angst davor, von den sogenannten gesunden und normalen Menschen abgelehnt und stigmatisiert zu werden.

Gibt es gute Gründe, zwangskranke Menschen abzulehnen? Ganz bestimmt nicht! Zwangskranke sind im Umgang meistens sehr angenehme, sympathische Menschen. Ich mag sie! Nach 30 Jahren beruflicher Erfahrung arbeite ich immer noch gerne mit Menschen zusammen, die eine Zwangsstörung haben. Negative Erfahrungen wie Unfreundlichkeiten oder gar Diebstahl oder Vandalismus sind im Betrieb meiner Praxis völlig fremd.

Dagegen ist der Ton bei der Arbeit mit Süchtigen wohl deutlich rauer. Drogenkonsum und Alkoholismus stehen häufiger im Zusammenhang mit Gewalt, Kriminalität oder Verkehrsunfällen. Dennoch kennt die Sucht kaum Peinlichkeit, geschweige denn Schüchternheit. Die Bewegung der Anonymen Alkoholiker ist vor gut 100 Jahren gegründet worden und war damit Vorbild für alle anderen Selbsthilfeorganisationen. Prominente Alkoholabhängige wie Harald Juhnke oder Eric Clapton haben sich zu ihrem Alkoholismus öffentlich bekannt und wohltätige Initiativen der Suchtarbeit unterstützt.

Homosexuelle erfahren täglich Stigmatisierung, die Zahl der Schwulenwitze ist ungezählt. Dem treten Homosexuelle durch intelligente gelungene Initiativen wie dem „Christopher Street Day“ oder „Gay in May“ entgegen. Darbietungen von schwulen Menschen wie Hape Kerkeling, Elton John oder Karl Lagerfeld sind aus unserer Kultur nicht mehr wegzudenken.

Obwohl ca. 3% der Weltbevölkerung unter einer Zwangsstörung leidet, bekennt sich hingegen fast niemand offen zu dieser „heimlichen Krankheit“. Dabei sind Zwangskranke die heimlichen Stützen unserer Kultur und Gesellschaft. Martin Luther, einer der berühmtesten Deutschen, hatte höchstwahrscheinlich eine schwere Zwangsstörung - und keiner weiß davon.

Die Peinlichkeit macht den Zwang auch heute noch - selbst, nachdem wir damals als DGZ ein Millionen-Publikum erreicht haben - zur versteckten Erkrankung (Hinweis: Burkhard Ciukpa-Schön, Autor dieses Artikels, hat 1995 die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. mitbegründet). Die Heimlichkeit seitens der Betroffenen führt aber auch zu einer schlechten gesundheitlichen Versorgung: Da selbst vielen Fachpersonen die Zwangsstörung fremd ist, erhalten noch heute die meisten Betroffenen nicht die passende Diagnose „Zwangsstörung“ und werden – selbst bei korrekter Diagnose – in der Regel nicht leitliniengerecht therapiert.

4. Unsinn und Paradox

„Der Zwang hält nicht, was er verspricht, er führt meistens sogar zum genauen Gegenteil!“

Zwanghaftes Waschen schützt nicht vor Krankheitskeimen. Im Gegenteil: Es werden neue Zugangswege für Viren und Bakterien durch exzessives Waschen geschaffen. Die Liste von Unsinn und Paradox bei Zwängen lässt sich beliebig fortsetzen. Die Einsicht in die Unsinnigkeit von Zwängen ist nun von den Autoren des ICD-11 zum wichtigen Faktor erhoben worden, der den Schweregrad der Zwangsstörung definiert. Menschen mit wenig oder keiner Einsicht in die Unsinnigkeit ihres Zwanges werden damit zu den stärker beeinträchtigten Personen gezählt und haben eine schlechtere Prognose. Das bedeutet aber auch, dass die Klärung von Unsinn und Paradoxie der Zwänge im Zentrum von Öffentlichkeitsarbeit, Motivation und Therapiearbeit stehen muss.

Auf der Lebensbühne solltest du dich um die Vermehrung von Sinn in deinem Leben kümmern. Sinnvolle Aufgaben sollten Vorfahrt haben. Sinnlose, destruktive Beziehungen, die nicht funktionieren, solltest du auf Eis legen. Hast du dich in ein Leben voller Selbstentfremdung treiben lassen? Bist du gerne mit deinem Partner / deiner Partnerin zusammen oder habt ihr nur geheiratet, weil die Eltern es „gut gemeint“ haben und großen Druck ausgeübt haben? Ist dein Beruf das, was du gerne machst, was du aufgrund deiner Fähigkeiten auch gut beherrscht und was dir Selbstwert gibt? Oder hast Du deinen Beruf nur deshalb ergriffen, weil er dir sicher erschien und dein Traumberuf nicht leicht erreichbar war?

5. Abstrakte und vage Zukunft

Die vom Zwang formulierten Katastrophen sind meistens sehr abstrakt und befinden sich in einer vage definierten Zukunft, die wir weder sehen, hören, beweisen noch dementieren können.

Hier einige Beispiele:

Lebe ich in einer Matrix oder in einer Simulation? Bin ich ein böser Mensch? Wird mich Gottes Verdammnis treffen? Schwer zu sagen: Wir können Gott nicht fragen, ob er uns verdammen wird, sondern wir müssen glauben oder Gott misstrauen. Und bei Betroffenen von religiösen Zwängen bin ich mir sicher: Misstrauen, das du Gott entgegenbringst, würde Gott gar nicht gefallen. Selbst der Papst hat kein rotes Telefon nach oben, auch er muss glauben.

Bin ich pädophil und werde ich dafür von der Gesellschaft ausgestoßen? Pädophile haben keinen roten Punkt auf der Stirn, an denen wir sie erkennen und aussondern könnten.

Werde ich für mein Dasein als Zwangskranker ausgestoßen und stigmatisiert? Ich habe das noch nie gehört, aber das kann natürlich sein, weil Zwangskranke nur selten ein Coming-out zulassen.

Wir finden also nur äußerst selten einen belastbaren Beweis für oder gegen die Richtigkeit der zwanghaften Befürchtungen. In den Ausnahmefällen, wo Zwänge aus dem Schatten der Abstraktheit treten und konkret werden, verliert der Zwang seine Macht. Das erlebe ich heute täglich bei Klienten mit Kontaminationsbefürchtungen, die auf Corona positiv getestet werden – und dann merken, dass nichts passiert.

Ebenso erlebte ich es bei 22 Betroffenen, die mich von 1995 bis 2000 in meiner Funktion als Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankung offen in Talkshows und Gesundheitssendungen begleitet haben. Mir ist aus dieser Zeit kein Beispiel eines dieser Betroffenen bekannt, der nach ihrem TV-Auftritt geächtet oder stigmatisiert worden ist. Wahrscheinlich ist auch die Stigmatisierung eine abstrakte Vorstellung, die die Betroffenen, die sich vor ihr fürchten, noch nie real erlebt haben.

Die abstrakten zwanghaften Themen in einer vage definierten Zukunft unterscheiden Zwänge von anderen Ängsten wie der Panik oder den Phobien.

Bei Betroffenen einer Panik führt die Vorstellung, beispielsweise einen Herzinfarkt erleiden zu können, zu Flucht, Meidung und exzessiver Selbstbeobachtung. Das Risiko „Herzinfarkt“ ist konkret. Mögliche Expositionen kennen wir auch bei Panik: Hyperventilationstests und das Aufsuchen von Orten (z.B. Menschenmengen, U-Bahn-Tunneln), die von dem Panik-Patienten in der Vergangenheit als Auslöser für Panik erlebt wurden. Neben der Habituation (= Gewöhnung) an die Angst und Anspannung, erleben Betroffene, die ihre Exposition tapfer bis zum Ende durchziehen, dass ihr Herz nicht stehen geblieben ist und dass viele andere Befürchtungen (totaler Kontrollverlust) nicht eingetreten sind.

Spinnen-Phobiker (wie ich selbst) erleben in der Exposition, dass die Spinne sie nicht anspringt, denn dies gehört nicht ins Verhaltensrepertoire der Spinne und sie ist aufgrund ihrer Physiologie dazu auch gar nicht in der Lage. Bei einer Höhenphobie-Exposition lernt der Höhen-Phobiker (wieder ich), dass der Aussichtsturm nicht unter ihm zusammenbricht und dass er nicht über das Geländer springt.

Solche Tests an der Realität sind bei existenziellen Zwängen („Lebe ich wirklich? Ist alles eine Simulation / Matrix?“), religiösen Zwängen („Komme ich in die Hölle?“), moralischen bzw. sexuellen Zwängen („Bin ich pädophil?“) und den meisten anderen Zwängen nicht möglich.

Ziel der Exposition bei solchen Zwängen ist daher die Habituation/Gewöhnung an die verschiedenen Varianten der negativen Anspannung und die Erfahrung zu machen, dass man in der Lage ist, diese negative Anspannung aushalten zu können – ohne sie durch Neutralisierungen und Rückversicherungen zu unterbinden (Hinweis: Zur Reaktionsverhinderung gehört auch, keine verdeckten oder aufgeschobenen Neutralisierungen und Rückversicherungen durchführen!).

Nach vielfachen Übungen - es muss so lange geübt werden, bis sich Langeweile einstellt - lässt auch die Anspannung nach. Wenn die Anspannung auf einen akzeptablen Rest zusammengeschmolzen ist, weiß ich allerdings immer noch nicht, wie die Hölle aussieht oder ob ich in die Hölle komme. Das weiß der Papst aber auch nicht. Muss er auch nicht.

Die Abstraktheit von Zwängen und deren Mangel an Überprüfbarkeit ist für viele Betroffene ein Grund, um vor Expositionen zurückzuschrecken. Die Habituation der Anspannung reicht aber vollkommen aus, um unser Ziel zu erreichen, Zwangsgedanken und negative Anspannung nicht mehr als unaushaltbar und bedrohlich wahrzunehmen. Denn ohne Anspannung ist auch die Hölle ein kühler Ort. Schon ein paar Schnäpse beweisen das, aber das ist natürlich keine dauerhafte Lösung.

Über die Autoren
Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.