Tabu und Ritual - Religiöse Zwänge

Von Burkhard Ciupka-Schön und Martin Niebuhr


Schwerpunkt dieses Artikels sind religiöse Zwänge, die wohl etwas aus der Mode gekommen sind, weil Therapeuten sich häufig nicht zuständig fühlen und ihren Klienten in ihren religiösen Vorstellungen nur halbherzig folgen. Sowohl in der Forschung und als auch in der Literatur sind religiöse Zwänge bisher weitestgehend ignoriert worden.

1. Teil - Historische Entwicklung

Betroffene in Selbsthilfe- oder Therapiegruppen, die unter den bekannteren Zwängen leiden, sagen häufig, dass sie die religiösen Zwänge irgendwie nicht verstehen würden und dass sie damit nichts anzufangen wüssten. Viele Betroffene mit religiösen Zwängen verweilen häufig in Isolation oder bei einem Geistlichen, der vergeblich versucht, durch theologische Klärung und Rückversicherungen oder im schlimmsten Fall durch Exorzismus den Zwang in den Griff zu bekommen.

Dabei ist der religiöse Zwang ein ganz normaler Zwang - wie andere, die wir bei OCD Land vorstellen. Er hat die gleichen kognitiven Elemente, die wir bereits beim Teufelskreis Zwang vorgestellt haben. Bei religiösen Zwängen gelten auch die gleichen therapeutischen Empfehlungen wie verhaltenstherapeutische Exposition, Medikation und Achtsamkeit. Religiöse Zwänge sind häufiger, als den meisten Menschen bewusst ist. Da Religion im Mittelalter in Europa eine weitaus größere Bedeutung hatte, waren wohl auch die religiösen Zwänge in dieser Zeit wohl weitaus häufiger.

Religiöse Zwänge bewegen sich vorrangig um die Vermeidung von Schuld und weisen damit eine große Verwandtschaft mit moralischen und sexuellen Zwängen sowie mit Kontrollzwängen auf. Wenn zwanghafte Waschungen zur Neutralisierung von Schuld dienen, können auch diese in den Kreis eines religiösen Zwangssystems rücken.

Die Begriffe Tabu und Ritual stammen aus der religiösen Welt und haben eine synonyme Bedeutung wie zwanghafte Vermeidung und Zwangshandlung. Die Grenzen zwischen einem gesunden Tabu und einer zwanghaften Vermeidung und zwischen einem Ritual und einem Zwangsritual bedürfen einer genauen Unterscheidung.

Definition: Religiöse Zwänge drehen sich inhaltlich um die Angst vor Schuldgefühlen durch Fehlverhalten, dessen schlimmste Katastrophe in der Strafe durch Teufel, Hölle und Verdammnis Gottes gesehen wird. Scheinbar tut der Mensch mit religiösen Zwängen das Gleiche, was gläubige Menschen auch tun: Die Suche nach Nähe zu Gott. Erreicht wird durch die zwanghafte Herangehensweise das genaue Gegenteil. Zwanghaftes Mittel gegen die Anspannung Schuld ist zwanghafte Vermeidung/Tabu und Zwangsrituale wie exzessive Waschungen, Gebete etc. sowie Rückversicherung durch Angehörige und Geistliche.

Häufigkeit religiöser Zwänge

Es gibt nach aktueller Forschung 3,8 % Zwangskranke in der Bevölkerung, was einer Anzahl von ca. 2 Millionen Deutschen entspricht. Nach Foah & Kozak verfügen 5,9 % der Zwangskranken über eine religiöse Thematik. Nach einer eigenen Auswertung wären es sogar 8,4 %, womit wir in Deutschland rechnerisch von 120.000 - 170.000 betroffenen Personen ausgehen müssen. Eine hohe Anzahl, die es unverständlich macht, dass zu diesem Thema kaum Therapie, Forschung oder Literatur zu finden ist.

  Foa & Kozak (1992)
N = 425
Ciupka-Schön und Futschek (2016)
N = 71
Religiöse Zwänge 5,9 % 8,4 % (6)

Mit einer Häufigkeit von 3,8 % ist die Zwangsstörung eine der häufigsten psychischen Störungen, die aber nach wie vor ein Schattendasein führt, weil Scham und Schuld zentrale Gefühle der Zwangsstörung und insbesondere der religiösen Zwänge sind. Dies hat die Konsequenz, dass Betroffene ihre Zwänge verheimlichen und keine Hilfe suchen.

Zwänge und Varianten der Anspannung

Zwänge äußern sich in einer verwirrenden Vielfalt, lassen sich aber in Kategorien einteilen, was eine bessere Klarheit vermittelt. Eine sehr sinnvolle Einteilung richtet sich nach der Qualität der negativen Spannungen:

  • Hort- und Sammelzwänge sowie Zählzwänge dienen in erster Linie zur Vermeidung einer negativen Anspannung, die wir auch das Gefühl von "Unvollständigkeit" nennen können.
  • Zwanghafte Kontrollen dienen meistens dazu, die "Schuld" für die Verursachung von Katastrophen abzuwenden.
  • Sexuelle Zwänge, beispielsweise, die Angst eine pädophile oder homosexuelle Orientierung zu besitzen, haben wohl ebenfalls mit den Gefühlen "Scham" und "Schuld" aber häufig auch mit "Ekel" zu tun.
  • Wasch-, Dusch- und Reinigungszwänge finden wir in erster Linie im Zusammenhang mit der Neutralisierung des Gefühls "Ekel".

Für viele verblüffend ist die Erkenntnis, dass exzessives Waschen auch im Zusammenhang mit der Neutralisierung des Gefühls der Schuld und damit auch mit religiösen Zwängen stehen kann. Die hohe Bedeutung von Schuld teilen religiöse Zwänge mit sexuellen und moralischen Zwängen und natürlich auch mit den Kontrollzwängen. Die Läuterung und spirituelle Reinigung, um von Schuld befreit vor Gott oder den Göttern zu stehen, finden sich als nicht-zwanghafte Entsprechung in mehreren Religionen.

Historische Entwicklung von Religion, Zwängen und Religiösen Zwängen

Es gibt ein Zitat Martin Luthers: „Je mehr ich mich wasche, desto unreiner fühle ich mich!" Ist mit diesem Waschen eine spirituelle, rituelle Reinigung gemeint? Wahrscheinlich werden die meisten Lutherkenner diese Deutung bevorzugen. Aber warum fühlt er sich nach der Waschung noch unreiner? Viele Historiker sind sich einig, dass Luther unter Depressionen litt. Wahrscheinlich müssen wir diese Expertenmeinung dahingehend ergänzen, dass Luther mit dem oben genannten Zitat kein religiöses Ritual, sondern das Phänomen eines bei ihm bestandenen Waschzwangs beschreibt. Es gibt noch viele andere Zeugnisse über Luthers, die auf weitere zwanghafte Phänomene (z.B.: Beicht- und Bekennerzwang, Anorexie) schließen lassen.

Die Taufe ist als eine spirituelle Reinigung des Täuflings zu verstehen, damit der Täufling geläutert und frei von Schuld und Erbsünde vor Gott bestehen kann. Spirituelle Reinigungen sind auch für muslimische Pilger nach Mekka vorgeschrieben. Das Bad gläubiger Hindus im Ganges ist eine fromme Pflicht und hat sicher auch nichts mit Hygiene zu tun, weil der Ganges einer der schmutzigsten Flüsse der Welt ist. Die spirituelle Reinigung von göttlichen Standbildern mit Joghurt oder mit Butterfett finden wir ebenfalls im Hinduismus.

Keiner hat den lieben Gott für sich allein!

Zwänge entstehen im Spiegel ihres historischen Kontextes, in dem sie sich entwickeln. Religion entwickelte sich in jeder menschlichen Kultur. Wir können Religion als einen wichtigen und notwendigen Schritt der Menschwerdung verstehen, als sich unsere Vorfahren zu fragen begannen: „Woher komme ich (vor meinem Leben), wohin gehe ich (nach meinem Leben)?" Vielleicht war dieser Zeitpunkt gekommen, als unsere Vorfahren begannen ihre Angehörigen rituell zu bestatten, anstatt die Verstorbenen dem Wirken der Natur zu überlassen. Neben der Bestattung waren sexuelle Fruchtbarkeit, wie zum Beispiel die Venus von Willendorf und das Jagdglück bevorzugte religiöse Themen.

Die heute selbstverständliche Verbindung von Sexualität, Religion und Moral entwickelte sich wahrscheinlich erst mit dem Aufkommen der großen monotheistischen Religionen und der Sesshaftwerdung vor etwa 10.000 Jahren, nachdem unsere Vorfahren das Stadium des Nomadentums überwunden hatten und begannen, an einem festen Ort Viehwirtschaft und Ackerbau zu betreiben. Mit der Sesshaftigkeit bildeten sich soziale Unterschiede in Besitz und in der gesellschaftlichen Stellung (z.B.: Führer, Krieger, Priester, Bauern) heraus. Wachsende Gemeinwesen, wie sie von Archäologen in Ägypten, Anatolien und Mesopotamien berichtet werden, führten zur Notwendigkeit von Regeln und wurden mit dem Willen Gottes oder der Götter verknüpft.

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Das VI. Gebot im Alten Testament der Bibel lautet: „Du sollst nicht ehebrechen". Dies, wie auch die anderen neun der Zehn Gebote, die Moses nach dem Alten Testament am Berge Sinai von Gott erhielt, waren im Wesentlichen dazu geeignet das Verhalten eines einzelnen Mitgliedes des Volkes Israel zu kontrollieren, um das Zusammenleben in einem großen staatlichen Gemeinwesen zu ermöglichen, das sich nach dem Einzug in das gelobte Land bildete. „Du sollst nicht stehlen!" als Gebot, machte bei besitzlosen Nomaden keinen Sinn. Wenn frühe Nomaden, Jäger und Sammler in kleinen Familienverbänden umherzogen, waren Regeln für die Sexualität entbehrlich, weil Menschen, die sich von Kindesbeinen kennen, in der Regel keine sexuelle Anziehung füreinander entwickeln (Norbert Bischof, (2020))

Dies steht im Gegensatz zu vielen älteren Religionen: Der Gott Zeus in der griechischen Mythologie war für seine sexuellen Eskapaden bekannt. Die minoische Schlangengöttin tritt barbusig in Erscheinung und weist auf eine Verbindung zu alten Muttergottheiten und Fruchtbarkeitskulten früherer Epochen der Menschheit hin. Das Gleiche gilt für das Kamasutra, das dem Kreis der hinduistischen Religion zugerechnet wird, die wir mit einer Tradition von 5000 Jahren zu den ältesten Weltreligionen zählen. Die Nähe von moralischen, sexuellen und religiösen Regeln hat etwas mit der Entwicklung der Religionen in der Menschheitsgeschichte (Bildung von Staaten und Hierarchien sowie der Landwirtschaft) zu tun.

Minoische Schlangengöttin aus Kreta Knossos (links); Dancing Lady nach einer Vorlage aus dem Kamasutra Tempel Khajurho in Indien (rechts)

Menschen mit einer Neigung zu Zwängen entwickeln aus dieser Einheit sexueller, moralischer und religiöser Regeln ein System ihrer Zwänge. Keiner hat den lieben Gott für sich allein, im Spiegel der Zeiten haben sich die religiösen Vorstellungen menschengemacht durch die gesellschaftlichen Bedingungen verändert. Kaum eine heute lebende Person liefert belastbare Belege, dass sie im direkten Kontakt mit Gott steht und dass sie allein Gottes Willen und Gottes Verbote kennt.

Skulptur von Pan und Daphnis ca. 100 v. Chr.

War Pan in der Antike noch als Gott der Hirten bei den Römern durchaus positiv angesehen, diente Pan den Christen im Mittelalter vermutlich wegen einer ihm ebenfalls zugeschriebenen Wolllüstigkeit als Vorbild für den Teufel. Die Ziegenfüße und die Hörner Pans wurden eins zu eins zur Darstellung des Teufels übernommen. Die Vorstellung vom Teufel, wie die Vorstellung von der Hölle, die Luther und viele Zwangskranke auch heute noch quält, hatte sich erst spät nach der Antike im Christentum entwickelt. Vermutlich ist die Betonung von Hölle und Teufel im Christentum durch das Erleben einer Reihe historischer Katastrophen bekräftigt worden: Der Zusammenbruch des Römischen Weltreiches, Völkerwanderung, Mongolensturm und die Heimsuchung durch mehrere Pestwellen sind hier einige Beispiele. Schließlich entdeckte die katholische Kirche den Ablasshandel als ein sehr einträgliches Geschäftsmodell. Um sündige Christen von ihren Ängsten vor Teufel und Höllenqualen zu beschützen, konnten sich diese Menschen Ablassbriefe kaufen, was der Kirche zufloss. Um den Ertrag des Ablasshandels zu fördern, wurde von den Kanzeln die Angst vor Teufel und Höllenqualen heraufbeschworen.

Die Quellen im Neuen und Alten Testament liefern für die Vorstellung von Hölle und Teufel nur geringe Hinweise. In der Übersetzung der Bibel aus dem Lateinischen ist beispielsweise überhaupt nicht eindeutig, ob es sich um „den Bösen" (Maskulinum) handelte - hier könnte in der heiligen Schrift der Teufel gemeint sein - oder ob schlicht „das Böse" (Neutrum) gemeint war.

Handgeschriebene Bibeln im Mittelalter waren für einfache Bürger unerschwinglich und nur die Geistlichen beherrschten das Lesen und die lateinische Sprache in der Bibel geschrieben war. Mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg und durch die Übersetzung der Bibel durch Luther änderte sich dies. Hätte schon jemand vor Luther die Bibel vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt, wäre es den Menschen sicher schon sehr viel früher aufgefallen, dass es für Himmel, Hölle und Verdammnis nur wenige Hinweise in der heiligen Schrift gibt.

Aktuelle Kirchenaustritte, Verlust an Ansehen auf der einen Seite, politische Entwicklung, wie der Atheismus in sozialistischen Ländern und die Fortschritte der Wissenschaft und der Medizin, durch die sich viele mittelalterliche Bedrohungen heute kontrollieren lassen, auf der anderen Seite führten im Spiegel der Zeit zu einer Abnahme der religiösen Zwänge.

Klicke HIER , um "Tabu und Ritual - Religiöse Zwänge (2.Teil - Die Gegenwart)" zu lesen.

Über die Autoren
Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.