Zwänge - Neuronale Mechanismen
Von Julian Vahedi und Burkhard Ciupka-Schön
Die Zwangsstörung ist eine Krankheit mit vielen Facetten und Erscheinungsbildern. Von eher klassischen Wasch- oder Ordnungszwängen bis hin zu religiösen Zwängen, aggressiven oder sexuellen Zwangsgedanken scheint der Zwangsstörung inhaltlich keine Grenze gesetzt zu sein.
Für Betroffene und auch Experten stellt sich immer wieder die interessante Frage, was die einzelnen Ausgestaltungen der Zwangsstörung („Habe ich eine Zwangsstörung?") miteinander verbindet. Erst einmal überwiegt der Eindruck der Unterschiedlichkeit der Zwänge und es scheint gar nicht so selbstverständlich, dass alle Zwänge in etwa über die gleiche Prognose verfügen und nach den gleichen therapeutischen Strategien (Verhaltenstherapie / Serotoninwiederaufnahmehemmer) verlangen. Häufig hören wir die Vermutung von Betroffenen, dass sich einige Arten von Zwängen besser behandeln ließen als andere, was wahrscheinlich unbegründet ist.
Die beiden Hauptklassifikationssysteme für psychische Störungen, ICD-10 und DSM-5, unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Sub-Typen innerhalb der Zwangsstörung. Unabhängig vom Inhalt des Zwangs scheinen die Grundprobleme bei allen Betroffenen nämlich mehr oder weniger dieselben zu sein: Wenn Du eine Zwangsstörung hast, leidest Du mit großer Sicherheit an sich Dir aufdrängenden, wiederkehrenden Gedanken, Impulsen oder Bildern, die bei Dir zu einem Gefühl der Anspannung oder Angst führen. Vielleicht hast Du auch mit sich wiederholenden Handlungen (ritualisiert und repetitiv) zu kämpfen, die diese emotionale Unruhe zumindest kurzfristig zu neutralisieren scheinen.
Neuere Befunde aus der neurowissenschaftlichen Forschung zeigen, dass die neuronalen Mechanismen bzw. charakteristischen Muster in der Hirnaktivierung (bei der Verarbeitung von Fehlern) bei Personen mit Zwangserkrankungen über die verschiedenen Erscheinungsformen und Zwangsinhalte hinweg zu großen Teilen gleich erscheinen. Zudem scheinen einige diese Muster möglicherweise genetisch verankert zu sein.
Diese Erkenntnisse unterscheiden sich deutlich von einer Sichtweise auf die Ursachen der Zwangsstörung, die in psychodynamischen Therapien vertreten wird: Hier werden verborgene, verdrängte prägende Ursachen für eine Zwangsstörung in der frühen Lebensgeschichte angenommen.
Aus der Sicht der kognitiven Verhaltenstherapie ist es hingegen sogar falsch, Menschen, die von einer Zwangsstörung betroffen sind, die Botschaft zu vermitteln, dass ihre sexuellen oder aggressiven Zwangsgedanken eine tiefere Bedeutung haben, die etwas über ihre scheinbar wahren, verdrängten Wünsche aussagen. Ein pädophiler Zwangsgedanke ist demnach nicht darauf zurückzuführen, dass Betroffene sich unbewusst zu Kindern hingezogen fühlen und dies lediglich verdrängt hat. Die Suche nach verdrängten und verborgenen Botschaften kann Zwangsgedanken sogar verstärken. Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie ist es daher vielmehr, dass Betroffene eine Gelassenheit gegenüber den Zwangsgedanken entwickeln und sich möglichst wenig um die vermeintlichen Botschaften der Zwangsgedanken kümmern. Auch gesunde Menschen haben hin und wieder aufdringliche Gedanken es gelingt Ihnen nur deutlich besser sich von solchen Gedanken zu distanzieren und sie als Unsinn abzutun.
Dies passt sehr gut zu aktuellen Befunden der neurowissenschaftlichen Forschung, die wir hier näher vorstellen wollen. Wir schlagen eine neuropsychologische Perspektive auf die Zwangsstörung vor, die gut zur kognitiven Verhaltenstherapie passt: „Das bin nicht ich, das ist mein Zwang! Und mein Zwang wird durch funktionelle Veränderungen in speziellen Bereichen meines Gehirns erzeugt. Die Inhalte meines Zwanges sind irrelevant und sagen nichts über meinen Charakter aus!"
Unvollständigkeitsgefühl und Not-just-right experiences1
Der französische Psychiater und Philosoph Pierre Janet nannte Anfang des 20. Jahrhunderts auch das sogenannte Unvollständigkeitsgefühl (franz. „le sentiment d'incompletude") als ein weiteres Kernsymptom der Zwangsstörung. Neben einem Zustand der Anspannung, Angst oder emotionaler Unruhe scheinen viele Personen mit Zwangsstörungen demnach dem diffusen Gefühl zu unterliegen, eine Handlung sei noch nicht vollendet oder abgeschlossen. Die Anspannung „Unvollständigkeit" finden wir bei zwanghaften Kontrollen, Symmetrie und bei Horten und Sammeln. „Unvollständigkeit" ist eine Form negativer Anspannung, der die Zwangsstörung deutlich von den Angststörungen unterscheidet.
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Auch sogenannte not-just-right-experiences, also Gefühle des „Nicht-genau-richtig-Erlebens" können dazu beitragen, dass Betroffene ihre Rituale so lange wiederholen bis sie sich „genau richtig" anfühlen. Der ritualisierte Handlungsablauf fühlt sich in der Ausführung nicht „genau richtig" an, beim Aussprechen eines Satzes oder Wortes erscheint dieser bzw. dieses nicht „genau richtig" ausgedrückt oder beim Binden der Schnürsenkel erscheinen diese nicht mit der „genau richtigen" Spannung gebunden. Aber auch äußere Dinge können not-just-right experiences hervorrufen, wenn etwa im Auge der Betroffenen etwas nicht „genau richtig" aussieht, z.B. wenn ein Bild scheinbar noch nicht „genau richtig" gerade an der Wand hängt.
Die Zwangsstörung als Regelkreis
Basierend auf diesen Beobachtungen stellte der Psychiater Roger K. Pitman sein Modell der Zwangsstörung als Regelkreis vor (Kybernetisches Modell der Zwangsstörung)2.
Die gestörte Funktionsweise des Regelkreises bei Zwängen lässt sich laut Modell mit einem einfachen Thermostat in einem Kühlschrank oder bei einer Heizung vergleichen. Wie bei allen anderen Kontrollsystemen auch basiert ein Thermostat auf einem internen Vergleichsmechanismus. Es vergleicht nämlich die externe Ist-Temperatur mit einem internen Soll-Wert. Erkennt das Kontrollsystem dabei eine Abweichung, ist es also beispielsweise zu kalt oder zu warm, so generiert das Thermostat ein Fehlersignal. Um dieses Fehlersignal zu neutralisieren, muss das Thermostat nun Maßnahmen ergreifen, damit sich die Ist-Temperatur dem Soll-Wert angleicht (es muss also heizen oder kühlen). Dieses aktive Gegensteuern, also Angleichen der Temperatur führt dazu, dass sich das Fehlersignal reduziert. Wenn das Thermostat keine Abweichung mehr zwischen Ist- und Soll-Temperatur feststellen kann, bleibt das Fehlersignal aus.
Ein eben solches Kontrollsystem existiert auch in unserem Gehirn und dient dazu, unser Verhalten optimal auf unsere Umwelt auszurichten. Ist das Ergebnis einer Handlung für uns anders als erwartet, stimmt also das Ziel einer unserer Handlungen nicht mit deren Konsequenz überein, so signalisiert uns unser Gehirn in Form eines Fehlersignals, dass wir unser Verhalten anpassen müssen. Erst wenn Handlungsziel und Handlungskonsequenz übereinstimmen, verschwindet das Fehlersignal.
Das Handlungsziel entspricht dabei dem Soll-Zustand, während die Konsequenzen der Handlung als Ist-Zustand verstanden werden können. Stelle Dir z.B. vor Du fährst auf der Autobahn und weichst Stück für Stück von der Mitte der Fahrspur in Richtung Leitplanke ab. Deine Position auf der Fahrspur (Ist-Zustand) weicht dabei vom Soll-Zustand (Mitte der Fahrspur) ab. Dein Gehirn erkennt diese Abweichung und signalisiert Dir in Form eines Fehlersignals, dass Du wortwörtlich gegensteuern musst, um wieder in die Mitte der Fahrspur zu gelangen.
Pitman geht davon aus, dass dieses Fehlersignal bei Personen mit Zwangsstörung chronisch erhöht ist - im Gegensatz zu Gesunden, bei denen Korrekturhandlungen das Fehlersignal zum Verstummen bringen. Das führt laut Modell dazu, dass Betroffene in Gedankenschleifen oder sich wiederholenden Handlungen verharren. Bei Personen mit Waschzwang ist demnach das Händewaschen der Versuch, das Gefühl loszuwerden, die Hände seien verschmutzt (kontaminiert). Hier entsteht das Fehlersignal durch das Nicht-Übereinstimmen der wahrgenommenen Sauberkeit der Hände und der Vorstellung der erforderlichen Sauberkeit (Referenz-Sauberkeit). Bei Gesunden würde das Händewaschen dazu führen, dass das Fehlersignal beim Vorgang des Waschens verschwindet. Bei Menschen mit Waschzwang bleibt das Fehlersignal allerdings trotz kompensatorischer (Zwangs-) Handlung bestehen, sodass sich die Hände von Betroffenen auch trotz exzessiven Händewaschens nicht sauber anfühlen.
Das von Pitman postulierte erhöhte Fehlersignal bietet auch auf gleiche Weise eine Erklärung für viele weitere zwangstypische Verhaltensauffälligkeiten, wie das Unvollständigkeitsgefühl oder not-just-right-experiences, aber auch etwa bei den Schwierigkeiten der von einem Zwang Betroffenen bei der Entscheidungsfindung (d.h. Unentschlossenheit) oder den Drang zum Perfektionismus, die wir bei Menschen mit Zwangserkrankungen regelmäßig beobachten, obwohl diese beschriebenen Phänomene bisher im DSM und ICD nicht zu den Kernsymptomen der Zwangsstörung gezählt werden. Auch in diesen Beispielen führt das Fehlersignal dazu, dass Betroffene in Gedanken- und Handlungsschleifen verharren.
Fehlersignale messen
Hirnaktivität lässt sich mittels verschiedener Methoden messen. Eine vergleichsweise kostengünstige Methode ist die sogenannte Elektroenzephalographie, kurz EEG. Das EEG misst dabei, vereinfacht gesagt, die elektrische Aktivität im Gehirn. Diese Methode hat den Vorteil einer sehr hohen zeitlichen Auflösung, sodass Hirnaktivität im zeitlichen Verlauf sehr genau gemessen werden kann. Mithilfe des EEGs kann man nun untersuchen, wie das Gehirn auf bestimmte Reize oder Reaktionen reagiert, zum Beispiel, wenn wir einen Fehler machen.
Zahlreiche Studien konnten zuverlässig zeigen, dass unser Gehirn innerhalb des Bruchteils einer Sekunde mit einer negativen Spannungsveränderung auf von uns generierte Fehler reagiert3. Diese, im EEG sichtbare, charakteristische Spannungsveränderung in Reaktion auf Fehler wird auch „Fehlernegativierung" genannt. Die Fehlernegativierung signalisiert uns, dass wir unser Verhalten nach einem Fehler anpassen müssen, indem wir z.B. unsere Aufmerksamkeit neu ausrichten, unsere Handlung korrigieren oder nachfolgende Handlungen abbremsen.
Unterscheiden sich nun Menschen mit Zwängen von Gesunden in der Ausprägung dieses Fehlersignals? Um das herauszufinden hat die Neurowissenschaftlerin und Psychologin Anja Riesel eine Meta-Analyse durchgeführt 4, in der sie sämtliche Studien, die die Fehlernegativierung bei Menschen mit Zwängen und gesunden Kontrollen gemessen haben, zu einem Gesamtergebnis zusammengefasst hat. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Fehlernegativierung, also das Fehlersignal, bei Menschen mit Zwängen tatsächlich größer ist als bei Gesunden. Menschen mit Zwangsstörung reagieren auf neuronaler Ebene also stärker auf Fehler als Gesunde, und das sogar unabhängig davon, ob sie Medikamente einnehmen oder wie stark ihre Zwänge sind.
Einige Befunde legen sogar nahe, dass die Fehlernegativierung gegenüber Gesunden selbst nach erfolgreicher kognitiver Verhaltenstherapie erhöht bleibt, also auch noch dann, wenn keine oder wenige Zwangssymptome auftreten.56 Die Fehlernegativierung scheint also nicht bloß ein Beiprodukt zwanghafter Symptome zu sein. Dafür spricht vor allem, dass auch Verwandte ersten Grades von Zwangserkrankten, die selbst keine Zwangsstörung haben, eine erhöhte Fehlernegativierung im Vergleich zu Kontrollpersonen ohne Zwangsstörung in der Familiengeschichte aufweisen.7
Die häufig gestellte Frage von Menschen, die von einem Zwang betroffen sind, ob die Zwangsstörung geheilt werden könne, ist mit der hier vorgestellten Perspektive also mit „Jein" (Ja/Nein) zu beantworten:
„Ja" - Zwänge können geheilt werden, wenn es gelingt eine Gelassenheit („Der Zwangsgedanke sagt nichts über meinen Charakter aus!") gegenüber den Botschaften von Zwangsgedanken entwickeln und wenn auf neutralisierende Zwangshandlungen verzichtet wird.
„Nein"- Die Neigung zur erhöhten Fehlerwahrnehmung (=Fehlernegativierung) bleibt auch nach einer Behandlung mit Medikamenten oder Verhaltenstherapie erhalten. Das ist aber möglicherweise gar nicht so schlimm, zumal die Beispiele von nicht-betroffenen Verwandten mit ebenfalls erhöhter Fehlernegativierung zeigen, dass die erhöhte Fehlernegativierung nicht gleichbedeutend mit dem Auftreten von Zwängen ist.
Die Fehlernegativierung als möglicher Hinweis für das Risiko an Zwängen zu erkranken
Wenn eine erhöhte Fehlernegativierung also nicht automatisch zu mehr Zwangssymptomen führt, welche Bedeutung könnte ihr dann zugeschrieben werden? Bei messbaren, biologischen Merkmalen, die auf Erkrankungen hindeuten, spricht man von sogenannten Biomarkern. Ein einfaches Beispiel eines Biomarkers ist unsere Körpertemperatur, die sich leicht messen lässt und uns Hinweise dafür liefern kann, ob wir Fieber haben. Eine Unterklasse der Biomarker bilden sogenannte Endophänotypen, die nicht das Vorliegen einer Krankheit markieren, sondern die genetische Anfälligkeit dafür, im Laufe des Lebens eine bestimmte Erkrankung zu entwickeln. Insofern können Endophänotypen also Auskunft darüber geben, wie empfänglich jemand für die Entwicklung einer Krankheit ist.
Kann eine erhöhte Fehlernegativierung also möglicherweise besser als ein solches Maß der Empfänglichkeit für die Zwangsstörung verstanden werden?
Um als Empfänglichkeitsmaß (Endophänotyp) gelten zu können, muss ein biologisches Merkmal bestimmte Kriterien erfüllen.8 Die Ausprägung des Merkmals muss beispielsweise mit der Erkrankung assoziiert und gleichzeitig unabhängig davon sein, ob Symptome akut oder remittiert sind. Außerdem muss das Merkmal vererbbar sein und von der Erkrankung nicht-betroffene Verwandte ersten Grades müssen ebenfalls eine erhöhte Assoziation mit dem Merkmal zeigen. Anja Riesel konnte mithilfe ihrer systematischen Forschungsarbeit aufzeigen, dass die Fehlernegativierung die meisten dieser Hauptkriterien erfüllt.9
Allerdings tritt eine veränderte Fehlernegativierung nicht ausschließlich bei Menschen mit Zwängen auf, d.h. sie ist nicht zwangsspezifisch. Ein abgeschwächtes Fehlersignal, d.h. eine reduzierte Fehlernegativierung, zeigte sich in Studien zum Beispiel bei Menschen mit Schizophrenie10 und Suchterkrankung11. Das ist insbesondere deshalb interessant, weil sowohl die Schizophrenie als auch Suchterkrankungen ebenfalls zwanghafte Anteile haben. Die unterschiedliche Ausprägung der Fehlernegativierung zwischen Zwangsstörung und Schizophrenie bzw. Suchterkrankung zeigt aber, dass die neuronalen Mechanismen der Fehlerverarbeitung fundamental verschieden sind. Zur Erinnerung: Die Fehlernegativierung signalisiert uns, dass wir unser Verhalten nach einem Fehler anpassen müssen. Eine zu starke Fehlernegativierung, wie sie bei Personen mit Zwängen auftritt, deutet laut Riesel möglicherweise darauf hin, dass das Verhalten von Personen mit Zwangsstörung überkontrolliert ist, d.h. Personen mit Zwängen reagieren übermäßig stark auf Fehler oder negative Konsequenzen, was auf Symptomebene häufig mit einer erhöhten Tendenz zur Schadensvermeidung sowie von Symptomen von Angst oder Anspannung führen kann. Im Unterschied zu Personen mit Zwangsstörungen scheinen Handlungen von Betroffenen mit Schizophrenie oder Suchterkrankung dagegen unterkontrolliert zu sein, d.h. Betroffene reagieren weniger stark auf Fehler oder negative Konsequenzen.12 Möglicherweise kann diese neurowissenschaftliche Forschung mit ihren Befunden zur veränderten Fehlernegativierung bei verschiedenen Erkrankungen (z.B. Ist es eine Zwangsstörung oder eine Schizophrenie?) zur genaueren Diagnostik hilfreich sein.
Allerdings muss auch gesagt werden, dass eine erhöhte Fehlernegativierung nicht nur Menschen mit Zwängen vorbehalten zu sein scheint, sondern dass sie sich auch bei Personen mit Angststörung beobachten lässt. So zeigte sich eine erhöhte Fehlernegativierung auch bei Menschen mit generalisierter Angststörung oder sozialer Phobie.13 Diese Befunde sprechen dafür, dass die erhöhte Fehlernegativierung möglicherweise besser als störungsübergreifender Risikoindikator verstanden werden könnte, der die Anfälligkeit für Kernsymptome markiert, die sowohl Personen mit Zwangs- als auch Angststörung betreffen (z.B. innere Unruhe, ständige Sorgen und Befürchtungen sowie exzessive Suche nach Rückversicherung).14
Auch wenn eine erhöhte Fehlernegativierung also nicht ausschließlich bei Menschen mit Zwängen auftritt, ist sie dennoch von großer Bedeutung für das Verständnis der Zwangsstörung, denn sie liefert wichtige Hinweise darüber, inwiefern das Gehirn von Zwangserkrankten anders funktioniert als das von Gesunden. Diese Erkenntnisse können wiederum genutzt werden, um Zwangserkrankten zukünftig besser zu helfen.
Die Befunde zur Fehlernegativierung bei Menschen mit Zwängen bieten darüber hinaus neue Perspektiven für die Diagnostik und Therapie der Zwangsstörung. Denn noch gibt es keine Normwerte für die Fehlernegativierung, an denen man erkennen könnte, ob die Werte einer einzelnen Person erhöht sind oder nicht.
Darüber hinaus bieten die Befunde zur Fehlernegativierung auch Potential für neue Strategien in der Behandlung der Zwangsstörung. So führen die bisherigen Methoden, wie Medikamente und kognitive Verhaltenstherapie gegenwärtig scheinbar nicht zur Normalisierung der Fehlernegativierung. Vielleicht liegt dies darin begründet, dass die Fehlernegativierung bisher nie Ziel der Interventionen war. Einige Befunde legen aber nahe, dass die Fehlernegativierung, entgegen der Hypothese sie sei genetisch bedingt und nicht beeinflussbar, prinzipiell veränderbar zu sein scheint.15 16 Einige Studien konnten zeigen, dass sich die Fehlernegativierung mithilfe von gezielten verhaltenstherapeutischen Trainings, in denen Versuchspersonen lernten, ihre Aufmerksamkeit bevorzugt auf neutrale statt auf negative Reize zu legen, zumindest kurzfristig reduzieren bzw. bei Personen mit Zwangsstörung normalisieren konnte. Wie lange diese Reduktion der Fehlernegativierung anhält oder ob sie auch dazu führt, dass Betroffene durch ihre Zwänge weniger eingeschränkt sind, bleibt bisher unklar.
Wie Du siehst, bleiben noch viele Fragen offen, die zum Teil auch noch nicht in der Forschung behandelt wurden. Um ein besseres Verständnis der Zwangsstörung zu bekommen, wird daher noch viel Forschung notwendig sein.
Die Heinrich-Heine Universität Düsseldorf führt zur Zeit eine EEG-Studie zur Fehler- und Feedbackverarbeitung bei Personen mit Zwangsstörung durch und sucht aktuell dringend nach Probanden. Wenn Du aktuelle Forschung zur Zwangsstörung unterstützen willst, dann nimm gerne Kontakt zu uns auf und wir senden Dir nähere Informationen zum Studienablauf und den genauen Teilnahmekriterien.
Kontakt: studien.biopsy@gmail.com
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Über die Autoren
Julian Vahedi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Experimentelle Psychologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit den neuronalen Grundlagen von Prozessen der Handlungsüberwachung und kognitiven Kontrolle bei der adaptiven Handlungssteuerung. Aktuell untersucht er in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt, wie Fehler- und Feedbackverarbeitung bei Patienten mit Zwangsstörung verändert sind.
Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.