Zählzwang: Ein Ratgeber für Betroffene

Von Sarina Kühne, PD Dr. Susanne Fricke und Martin Niebuhr

Bunte Spielzeug-Zahlen auf einem hölzernen Tisch.

Hast du den andauernden Drang, bestimmte Gegenstände oder Abläufe zu zählen? Befürchtest du, dass etwas Schlimmes passiert, wenn du nicht zählst? Hast du die Sorge, nie wieder mit dem Zählen aufhören zu können und dadurch ein unglückliches Leben zu führen? Sollte das auf dich zutreffen, könntest du unter einem Zählzwang leiden. Mithilfe verhaltenstherapeutischer Verfahren gelten Zählzwänge als sehr gut therapierbar.

Zahlen - sie kreuzen ständig unseren Weg. Ob beim Blick auf die Uhr oder beim Bummel durch den Supermarkt, aus allen Richtungen springen uns Zahlen entgegen. Für die meisten Menschen ist das nichts weiter Aufregendes, es sei denn, man ist ein leidenschaftlicher Mathematiker. Doch abgesehen von solchen Ausnahmen widmen sich nur wenige intensiv dem Thema Zahlen - mit Ausnahme von dir.    

Das Thema Zählen und Zahlen lässt dich einfach nicht los. Ob du alle Personen in einem Raum zählst, jede Treppenstufe beim Aufstieg registrierst oder unentwegt im Kopf bis zehn zählst: In deinen Gedanken dreht sich vieles um das Zählen. Für Außenstehende mag das unsinnig oder sogar absurd erscheinen, doch deine Zahlen-Fixierung hat einen Grund: Hinter dem ständigen Zählen verbergen sich mehr oder weniger ausgeprägte Ängste und Befürchtungen, die dich im Bann des Zählens halten.

Es fühlt sich an, als würdest du bei klarem Verstand verrückt werden: Du weißt, dass deine Beschäftigung mit Zahlen eigentlich nicht normal ist, und du fragst dich vielleicht selbst, wieso du nicht damit aufhören kannst. Irgendwann hast du begonnen, alles, was dir begegnet, zu zählen oder automatisch Zahlenreihen im Kopf durchzugehen und hast damit immer weiter gemacht. Schließlich hast du erkannt, dass die Situation eskaliert ist und dich zunehmend belastet, konntest jedoch nicht mehr damit aufhören. Wenn du dich darin wiedererkennst, könntest du unter einer Zwangsstörung leiden - genauer gesagt: einem Zählzwang.

Zählzwänge sind ein Subtyp der Zwangsstörung, bei dem sich der Betroffene wiederholt dazu gedrängt fühlt, in Gedanken Zähl-Rituale auszuführen. Diese Rituale umfassen u.a. das Zählen von Objekten oder Abläufen, das Vermeiden von bestimmten Zahlen, automatisiertes, mentales Zählen oder auch den Versuch, endlich aufzuhören zu zählen. Zählzwänge werden manchmal auch als “Arithmomanie” bezeichnet. Dieser Artikel soll dir helfen zu verstehen, was Zählzwänge genau sind und welche wissenschaftlich fundierten Strategien dir nachhaltig helfen können, deinen Zählzwang zu überwinden.

Symptome von Zählzwängen

Zählzwänge können sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise äußern. Das Zählen kann für den einen Betroffenen erleichternd sein und ein Gefühl von Anspannung temporär senken, während das Zählen für den anderen Betroffenen der Auslöser für die Anspannung ist. Da dieser Unterschied sehr entscheidend für die anschließende Behandlung des Zählzwanges ist, wollen wir dir gleich die unterschiedlichen Arten von Zählzwängen vorstellen. 

Aber unabhängig davon, in welche Kategorie dein Zählzwang fällt, funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip: Jede Form der Zwangserkrankung weist Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auf. Zwangsgedanken sind aufdringliche Gedanken, Gefühle, Impulse und Zweifel, die eine ständige Anspannung verursachen. Zwangshandlungen (Rituale) sind wiederholte physische Handlungen, mentale Vorgänge, Grübeleien und Vermeidungen, die das Ziel haben, Zwangsgedanken und Anspannung aufzulösen.

Typ 1: Absichtsvolles Zählen

Bei dieser Art von Zählzwang verspürst du einen nahezu unwiderstehlichen Drang, etwas zu zählen. Manche Betroffene zählen nur etwas ganz Bestimmtes, bspw. Menschen in einem Raum nach bestimmten Kriterien. Andere wiederum haben den Drang, alles zu zählen, was sich gerade anbietet. Dieser Drang wird von einer starken Anspannung begleitet, die nur noch stärker wird, wenn du dem Drang zu zählen nicht nachgibst. 

Hinter diesem Drang zu zählen können verschiedene Gründe. Hier sind vor allem magische Befürchtungen und das Unvollständigkeitserleben zu nennen.

Magische Befürchtungen
Befürchtest du, dass etwas oder jemand zu Schaden kommt, wenn du nicht richtig zählst? Hast du vielleicht Angst, dass jemand in einen Autounfall verwickelt ist, wenn du gewisse “schlechte” Zahlen (z.B. 4 oder 13) nicht vermeidest? In diesem Fall spricht man von magischen Befürchtungen, die du versuchst, mit Zähl-Ritualen und dem Einteilen von Zahlen in “schlecht” und “gut” (beides sind Zwangshandlungen) um jeden Preis zu verhindern. Auch wenn es dir noch so unsinnig erscheint, zählst du lieber nochmal auf deine “Glückszahl” hoch, bevor du Schuld an einer großen Katastrophe trägst. Und wer weiß - vielleicht hast du damit auch schon einige handfeste Katastrophen verhindert. Niemand kann dir das Gegenteil beweisen. Und das bringt dich um den Verstand.

Unvollständigkeitserleben
Ohne das Durchführen deiner Zähl-Rituale fühlst du dich irgendwie unvollständig. Es fühlt sich einfach nicht richtig an. Du verspürst eine diffuse Anspannung, wenn du deine Zähl-Rituale nicht oder nicht richtig ausführst. Indem du perfekt zählst (je nachdem, was das für dich bedeutet), versuchst du, dieses unangenehme Gefühl loszuwerden. Möglicherweise erhältst du bei erfolgreicher Durchführung deines Zähl-Rituals auch ein kurzes Gefühl der Erleichterung, wenn du deinem Drang nach Perfektion, Ordnung oder Kontrolle gerecht geworden bist.

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Beispiele für Auslöser bei absichtsvollem Zählen

  • Die Angst, es geschieht ein Unglück, wenn du “schlechte” oder “unglückbringende” Zahlen siehst, hörst oder schreibst
  • Der andauernde Drang, beim Laufen jede einzelne Bodenplatte oder jeden Riss im Boden mitzuzählen
  • Der Drang, auf einen angstauslösenden Gedanken (z.B. der Gedanke, dass deine Familie stirbt) mit einem Zähl-Ritual zu reagieren
  • Der Drang, verschiedene Elemente nach deinen “Glückszahlen” auszurichten (z.B. immer zwei Blumentöpfe nebeneinander stellen)
  • Der Drang, die Wörter oder Buchstaben in einem Text mit zu zählen, und das Gefühl von Unwohlsein, wenn das nicht möglich ist oder dich jemand stört
  • Die Angst vor einer Katastrophe, wenn du den Fernseher ausstellst, bevor jemand eine gerade Zahl gesagt hat
  • Die Angst, dass jemand stirbt, wenn du nicht eine ungerade Anzahl unter der Brücke durchfährst
  • Eine unangenehme Anspannung, wenn du Kleidung in den Schrank räumst und dabei nicht mitzählst
  • Der Drang, Personen auf einem Bild genau zu zählen
  • Der plötzliche oder andauernde Drang, mathematische Aufgaben im Kopf lösen zu müssen
  • Der andauernde Drang, deine Atemzüge oder dein Blinzeln mitzuzählen
  • Ein Gefühl von Unwohlsein, wenn du eine Rechenaufgabe im Kopf nicht fortführen kannst

Auf diese Auslöser und Befürchtungen reagierst du anschließend mit sogenannten Zwangshandlungen, um ein kurzes Gefühl von Erleichterung zu bekommen. Diese Zwangshandlungen bzw. -rituale nennt man selbst ebenso “Zählzwänge”.

Beispiele für Zwangshandlungen bei absichtsvollem Zählen

  • Du zählst ständig Wörter oder Buchstaben in Gesprächen oder auch Texten.
  • Du zählst ständig deine Schritte, deine Atemzüge, dein Blinzeln oder andere Körpervorgänge und Aktivitäten. 
  • Du führst unspezifische Zähl-Rituale in deinem Kopf aus, um eine vermeintliche Katastrophe zu verhindern.
  • Du rechnest andauernd mathematische Rechenaufgaben in deinem Kopf aus: Addition, Subtraktion, Multiplikation usw.
  • Du zählst Autos, Straßenschilder, Bodenfliesen oder auch andere Gegenstände.
  • Du zählst bestimmte Elemente auf Bildern.
  • Du führst in deinem Kopf immer wieder Zahlenabfolgen weiter (z.B. 2-4-6-8, 3-6-9 usw.).
  • Du zählst immer wieder bis zu einer bestimmten Zahl.
  • Du zählst eine Zahlenfolge auf, bevor du eine bestimmte Aktivität beginnst (z.B. bis 10 zählen, bevor du die Wäsche machst).
  • Du hältst die Zahlen-“Gebote” und -“Verbote” strikt ein (z.B. immer genau 8 Milchpackungen kaufen, nicht mehr als 4 Schlucke von deinem Kaffee nehmen oder auf keinen Fall das Haus um 17:06 verlassen).
  • Du vermeidest den Anblick von “schlechten” Zahlen.
  • Du bevorzugst gerade oder ungerade Zahlen und vermeidest das jeweils andere.
  • Du vermeidest alles, was mit deinen “schlechten” Zahlen in Verbindung steht. (Du kannst z.B. nicht einmal das Fenster öffnen, sondern musst es dreimal machen, weil es sich sonst “falsch” anfühlt).
  • Du zählst ständig hoch oder runter zu “guten” Zahlen, die sich in dem Moment “richtig” anfühlen.

Beim absichtsvollen Zählen ist das Zählen eine beabsichtigte Zwangshandlung, mit der du versuchst, deine innere Anspannung zu verringern oder deine Befürchtungen zu verhindern. Ganz anders ist es beim automatisierten Zählen.

Typ 2: Automatisiertes Zählen

Bei dieser Form von Zählzwang zählst du ungewollt und automatisiert alles Mögliche, etwas ganz Bestimmtes oder auch alleine in deinem Kopf ohne einen bestimmten Bezug im Außen.

Im Unterschied zu absichtsvollen Zählzwängen geschieht das Zählen automatisiert und nicht absichtsvoll. Es ist also kein erleichterndes Ritual, sondern ein Trigger, der in dir große Angst auslöst. Ähnlich wie bei der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung hat der Betroffene die Befürchtung, nie wieder aufhören zu können zu zählen, und durch diese Belastung niemals ein freies und friedvolles Leben führen zu können. Dabei sind die Angst vor dem unendlichen Zählen und dessen Folgen der Grund, wieso die Zähl-Gedanken so hartnäckig sind und nicht verschwinden. 

Beispiele für Auslöser bei automatisiertem Zählen

  • Die Angst, verrückt oder depressiv zu werden, weil du nie aufhören kannst zu zählen
  • Die Befürchtung, dein Leben nie normal weiterleben und den Moment genießen zu können, weil du immer zählen wirst
  • Die Angst, dass du dich nie mehr auf etwas richtig konzentrieren kannst, weil du immer zählst, und deswegen deinen Job verlierst oder deine Beziehung gefährdest

Beispiele für Zwangshandlungen bei automatisiertem Zählen

  • Du vergleichst dein jetziges Leben, in dem du ständig zählst, in Gedanken immer mit einer Wunschvorstellung eines Lebens, in dem du nicht zählst.
  • Du versuchst deine Zähl-Gedanken zu unterdrücken oder versuchst, dich abzulenken.
  • Du vermeidest Situationen, die das Zählen auslösen könnten.
  • Du versuchst gedanklich die Bedeutsamkeit deines Zählens zu klären oder die Ursachen zu ergründen.
  • Du holst dir Rückversicherung bei anderen, dass das Zählen irgendwann aufhört.

Du willst mit deinen Zwangshandlungen deine Ängste und Befürchtungen loswerden, bewirkst damit aber ohne es zu beabsichtigen langfristig das Gegenteil. Mit dem Ausführen von Ritualen begibst du dich Stück für Stück immer tiefer in den Teufelskreis Zwang: Mentale und physische Rituale beruhigen (wenn überhaupt) nur kurzfristig, aber steigern deine Anspannung und Unsicherheit langfristig immer weiter. 

Exkurs: Die Rolle von Zahlen bei anderen Formen der Zwangsstörung

Zahlen können auch bei anderen Formen der Zwangsstörung eine Rolle spielen:

  • Ein Betroffener von Kontrollzwängen muss genau siebenmal den Herd kontrollieren, bevor er das Haus verlassen kann.
  • Eine Betroffene von Waschzwängen muss ein Waschritual mindestens dreimal am Stück genau richtig durchführen, damit sie sich sauber fühlt.
  • Jemand mit Ordnungszwängen hat die Befürchtung, es geschieht ein Unglück, wenn sich nicht eine gerade Anzahl an Tellern auf dem Tisch befindet.
  • Im Rahmen von Wiederholungszwängen werden bestimmte Aktivitäten immer nach einer festgelegten Zahl wiederholt (z.B. dreimal die Tasse anheben, sechsmal in den Spiegel schauen, fünfmal den Lichtschalter betätigen usw.)

Therapie bei Zählzwängen

Die Therapie der ersten Wahl für alle Subtypen der Zwangsstörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsmanagement.

Bei dieser effektiven Form der Psychotherapie lernst du, dich Schritt für Schritt angstauslösenden Situationen und Gedanken zu stellen (Exposition) ohne zu versuchen, die ausgelöste Anspannung mithilfe von problematischen Bewältigungsstrategien wie Zwangshandlungen, Vermeidungen oder Rückversicherungen zu verringern (Reaktionsmanagement).

Mithilfe solcher Expositionen machst du die Erfahrung, dass du zwangsauslösende Situationen und Gedanken aushalten kannst und deine Anspannung sogar nachlässt, wenn du nichts dagegen unternimmst. Dadurch, dass du dir Schritt für Schritt beibringst, auf deine Anspannung auf eine neue Art zu reagieren, geht deine Zwangssymptomatik zurück und die Anspannung lässt langfristig nach.

Auch wenn die Therapie mit Expositionen als anstrengend gilt, so ist sie für Betroffene doch sehr lohnend: Zwangsstörungen zählen heute zu den psychischen Störungen mit den besten Therapieaussichten

Neben den Expositionen und Reaktionsmanagement als Goldstandard bieten sich gerade bei automatisierten Zählzwängen zur Unterstützung und Motivation auch Elemente der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) an. 

Wahrscheinlich stellst du dir nun die Frage, warum dir gerade Expositionen und Akzeptanz helfen sollen, besser mit deinen Befürchtungen und unangenehmen Gedanken und Gefühlen umzugehen - schließlich hast du doch bisher genau das Gegenteil gemacht. Wir verstehen deine Bedenken, aber wollen dich trotzdem inspirieren und motivieren, einen neuen Umgang mit deinen Befürchtungen zu erlernen.

Mit Expositionen und Reaktionsverhinderung gegen den Zählzwang

Der Goldstandard für die Behandlung sind  Expositionen mit Reaktionsverhinderung. Insbesondere beim absichtsvollen Zählen spielt die Reaktionsverhinderung, also das Unterlassen von Zwangshandlungen, eine große Rolle. Aber warum genau sind deine Zwangshandlungen überhaupt problematisch und wieso solltest du damit aufhören?

Mit Zwangshandlungen versuchst du, dir hundertprozentige Gewissheit zu verschaffen (insbesondere bei magischen Befürchtungen) oder deine Anspannung loszuwerden und ein gutes Gefühl zu erreichen - wirst dieses Ziel jedoch nie nachhaltig erreichen. Zum Beispiel versuchst du, durch Zwangshandlungen wie die Vermeidung von Pechzahlen mit absoluter Gewissheit sicherzustellen, keine Katastrophe auszulösen. Oder du versuchst, deine Anspannung loszuwerden oder ein gewisses positives Gefühl zu erzeugen, indem du genau richtig zählst oder durch zwanghaftes Grübeln endlich die eine Lösung für dein ewig währendes Zählproblem findest. Wie du aber inzwischen sicherlich gemerkt hast, bewirken deine Zwangshandlungen genau das Gegenteil vom erhofften Effekt: Deine Ungewissheit und deine Anspannung werden langfristig immer größer. Aber wie kommt es dazu?

Deinem bewussten Verstand ist höchstwahrscheinlich völlig klar, dass deine Gedanken, deine Sorgen, deine Anspannung sowie alle deine Reaktionen darauf (z.B. deine Zählrituale) irgendwie übertrieben und unsinnig sind. Das Problem ist aber nicht dein bewusster Verstand, sondern vielmehr dein emotionales Gehirn. Durch deine wiederholten Zwangshandlungen hast du deinem emotionalen Gehirn wiederholt signalisiert, dass tatsächlich ein Problem vorliegt, das aufgelöst werden muss. Dein emotionales Gehirn hat sich außerdem daran gewöhnt, durch Zwangshandlungen kurzfristig beruhigt zu werden und fordert dich wegen dieser Konditionierung immer wieder dazu auf.

Da dir alle deine bisherigen Versuche nicht geholfen haben, ist klar, dass für deine langfristige Genesung ein anderer, effektiverer Lösungsansatz gewählt werden muss. Expositionen mit Reaktionsverhinderung haben sich als Goldstandard bei der Therapie von Zwangsstörungen erwiesen: Sie unterbrechen den Teufelskreis, der dich in den Zwangshandlungen und im Grübeln gefangen hält. Wenn du dich deinen Befürchtungen und deiner Anspannung während Expositionen stellst und anschließend nicht mehr mit Zwangshandlungen reagierst, zeigst du deinem emotionalen Gehirn wiederholt, dass deine aufdringlichen Gedanken und Gefühle Fehlalarme sind, von denen kein Handlungsbedarf ausgeht. 

Verhinderst du deine Reaktionen (z. B. Zählen, Grübeln) auf deine Befürchtungen und deine Anspannung, entziehst du langfristig dem Zwang die Macht über dich und reduzierst damit auch auf Dauer die emotionale Intensität deiner Zwangsgedanken und anderer zwangsauslösender Trigger. Du lernst, Ungewissheit und Anspannung zu tolerieren und dein Leben weiterzuleben. Langfristig führt das Unterlassen von Zwangshandlungen zu einer Reduktion der Zwangssymptomatik und damit zu einer geringeren Anspannung und einer höheren Lebensqualität.

Zählzwängen mit Akzeptanz begegnen

Gerade bei der Angst vor automatisiertem Zählen spielt neben der Exposition die Akzeptanz eine große Rolle. Ähnlich wie bei der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung steht hier die Furcht vor den vermeintlich verheerenden Konsequenzen des unendlichen Zählens im Vordergrund („Ich werde durch dieses Zählen für immer in meinem Alltag eingeschränkt sein" oder „Ich werde meinen Denkprozess für immer als beschwerlich wahrnehmen"). Sicherlich stellst du dir nun die Frage: “Wie soll ich jemals eine solche Realität akzeptieren?" Aber das ist mit Akzeptanz gar nicht gemeint.

Eine wichtige Erkenntnis für die Behandlung von Zwangsstörungen ist, dass dein Kampf gegen Symptome wie unangenehme Gefühle, Körperempfindungen und Zwangsgedanken die Zwangsstörung am Leben hält. Es gilt der Grundsatz: Je mehr du etwas nicht haben willst, desto mehr wirst du davon bekommen. Was hingegen hilft, ist, diesen Kampf aufzugeben - mithilfe von Akzeptanz. 

Akzeptanz bedeutet nun aber nicht, dass du deine ungewollten Gedanken und unliebsamen Gefühle mögen musst. Akzeptanz bedeutet lediglich, dass du den Kampf dagegen aufgibst. Akzeptanz ist auch keine einmalige Handlung, sondern ein fortlaufender Prozess, der immer wieder neue Herausforderungen mit sich bringt. Es ist aber auch ein Prozess, der dir hilft, der Hölle des Zwangs zu entfliehen und wieder ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen - ein Leben, das vielleicht nicht perfekt und frei von Unannehmlichkeiten ist, aber ein Leben, das es wert ist, zu leben.

Die Akzeptanz ist das Annehmen jeglichen Unbehagens, das mit der Bewusstheit des gegenwärtigen Augenblicks (wie dem automatisierten Zählen) einhergeht. Anstatt sich vom Erleben dieser Bewusstheit zu entziehen und es fort zu wünschen, fordern Akzeptanz und Achtsamkeit dich auf, bei diesem Erleben zu bleiben, egal welche Gedanken, Gefühle und Empfindungen damit einhergehen. Wenn du unter automatisierten Zählen leidest, lädt die Akzeptanz dich ein, genau das zu tun: Den Kampf gegen das automatisierte Zählen loszulassen und Schritt für Schritt deinen Frieden damit zu finden.

Die Bewältigung von automatisiertem Zählen ist also eine große Akzeptanz-Herausforderung. Und was sich vielleicht erstmal so überwältigend anhört, hat schon vielen Betroffenen bei der Überwindung ihrer Zwangsstörung geholfen. Wenn du mehr zur Akzeptanz bei Zwangsstörung erfahren willst, findest du hier unsere ausführliche Artikel-Reihe dazu.

Beispiele für Expositionen bei Zählzwängen

Da Zählzwänge sehr unterschiedliche Gründe haben können, müssen Expositionen individuell an die jeweilige Befürchtung des Betroffenen angepasst werden. Hier findest du einige Inspirationen, die als Expositionen bei Zählzwängen eingesetzt werden können:

Beispiele für Expositionen bei absichtsvollem Zählen ausgelöst durch Unvollständigkserleben

  • Warte nicht mit dem Ausführen einer Aktivität, weil du den Drang hast, vorher zu zählen.
  • Versuche, dich daran zu hindern, bewusst zu zählen.
  • Versuche, die Objekte, die du zählen möchtest, bewusst nicht anzuschauen: Schaue nicht auf den Boden, um die Platten zu zählen oder auf die Straße, um Autos zu zählen. Betrachte stattdessen Objekte, die kein Zählen in dir triggern.
  • Versuche, deine Aufmerksamkeit zu verschieben: Hör ein Hörbuch, rede mit anderen Menschen oder sing leise vor dir her. Diese Strategie kann besonders hilfreich sein, wenn du gerade nicht dazu fähig bist, deine Zählobjekte bewusst nicht zu betrachten.
  • Hinweis: Bei dieser Exposition besteht die Gefahr, dass das Verschieben der Aufmerksamkeit zur Ablenkung wird, wenn es zur Neutralisierung von Anspannung genutzt wird. Dabei handelt es sich dann um eine Zwangshandlung, die vermieden werden sollte.
  • Zähle diffuse Zahlen vor dich hin, die nicht deinen zwanghaften Zahlenfolgen oder Ritualen entsprechen. Damit unterbrichst du bewusstes und auch unbewusstes Zählen.

Beispiele für Expositionen bei absichtsvollem Zählen ausgelöst durch magische Befürchtungen

  • Konfrontiere dich mit deinen “schlechten” Zahlen: Schreibe sie auf einen Notizblock, kaufe im Supermarkt in Höhe einen Betrags ein, der diese Zahlen möglichst oft enthält, schreibe Textnachrichten zu Uhrzeiten mit den “schlechten” Zahlen, verteile Notizzettel mit den Zahlen in deiner Wohnung etc. 
  • Nimm dich auf einem Aufnahmegerät auf, während du deine Unglückszahlen laut nacheinander aussprichst, und höre dir die Aufnahme über deinen Tag verteilt immer wieder an.
  • Erstelle eine Audioaufnahme mit zufällig wechselnden Zahlen. Höre diese an, während du versuchst zu zählen. Damit hinderst du dich aktiv daran, korrekt auf deine Glückszahlen zu zählen und konfrontiert dich zusätzlich mit eventuellen Unglückszahlen.
  • Führe Tätigkeiten dann aus, wenn du mit “schlechten” Zahlen konfrontiert bist: Wartest du z.B. üblicherweise, bis die Uhr deine Glückszahl anzeigt, bevor du den Fernseher ausmachst, dann warte auf eine “schlechte” oder zumindest keine “gute” Zahl und mach den Fernseher dann aus.
  • Imaginative Exposition: Erstelle einen detaillierten Text (in Audio- oder Schriftform) darüber, was passiert, wenn deine befürchteten Katastrophen wahr werden, und hindere dich anschließend daran, Zwangshandlungen auszuführen.

Beispiele für Expositionen bei Angst vor automatisiertem Zählen

  • Erstelle einen detaillierten Text (in Audio- oder Schriftform) darüber, was passieren würde, wenn du nie wieder aufhören könntest zu zählen (du wirst verrückt, verlierst deinen Job usw.) und hindere dich anschließend daran, Rituale auszuführen.
  • Schaue dir Listen mit Zahlen an oder zähle absichtlich bewusst. Halte die Anspannung aus und unternimm nichts dagegen.
  • Übe dich in der Akzeptanz darin, dass du das Zählen nicht kontrollieren kannst, aber trotzdem dein Leben mit dem Zählen im Hintergrund führen kannst.

Hilfe bei Zählzwängen

Auf OCD Land findest du viele weitere nützliche Inhalte, die dich dabei unterstützen, deinen Zwang zu überwinden:

Weitere Informationen rund um das Thema Zwangsstörungen und wie du sie überwindest findest du auch im Buch Zwangsstörungen verstehen und bewältigen* von Susanne Fricke, der Co-Autorin dieses Blog-Artikels.

Wenn du dich mit deinem Zählzwang überfordert fühlst und Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, möchten wir dir außerdem dringend empfehlen, einen auf Zwangsstörungen spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen. Da es nicht leicht ist, einen solchen Spezialisten zu finden, geben wir dir in diesem Artikel konkrete Tipps.

Über die Autoren
Sarina Kühne

Sarina ist eine ehemalige Betroffene einer Zwangsstörung und setzt sich engagiert für die Aufklärung über Zwangserkrankungen ein. Unter anderem hat sie auf OCD Land einen Betroffenenbericht geschrieben und war zu Gast im Zwanglos-Podcast. Als Digital Marketing Manager erstellt Sarina für OCD Land informative und hilfreiche Artikel für unseren Experten-Blog, Instagram-Posts und YouTube-Videos. Sie ist außerdem Moderatorin im Community-Forum.

PD Dr. Susanne Fricke

PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.