Sind Zwangsgedanken nur Gedanken?

Von Martin Niebuhr, Sarina Kühne und PD Dr. Susanne Fricke


Fragst du dich, ob Zwangsgedanken wirklich nur Gedanken sind? Sollst du ihnen wirklich keine Bedeutung beimessen und sie einfach ignorieren? Und warum fällt es dir so schwer, deinem Therapeuten zu vertrauen, der dir versichert, dass von deinen Zwangsgedanken keine Gefahr ausgeht? Dieser Artikel geht genau diesen Fragen auf den Grund. Wir erklären dir, warum die Erkenntnis “Zwangsgedanken sind nur Gedanken” alleine nicht ausreicht, um Zwangsgedanken zu überwinden - und was stattdessen nötig ist.

Wenn du diesen Artikel liest, hast du bestimmt schon einmal gehört, dass Zwangsgedanken lediglich Gedanken sind. Für viele Betroffene ist diese Aussage zunächst eine echte Erleichterung - doch diese Erleichterung ist meist nur von kurzer Dauer.

Schnell tauchen neue Zweifel auf: Bin ich vielleicht die Ausnahme? Sind es bei mir nicht doch reale Gedanken? Wie kann ich glauben, dass es sich um Zwangsgedanken handelt, wenn mich das Gefühl, dass irgendetwas ungeklärt ist, immer noch so quält? Wenn es wirklich Zwangsgedanken sind, sollte mir diese Einsicht dann nicht Frieden bringen?

Solche Fragen können sich hartnäckig festsetzen. Und je mehr du darüber grübelst, desto überwältigender wird das Gefühl der Unsicherheit, desto größer werden die Zweifel.

Leider tun sich auch viele unerfahrene Therapeuten mit der Behandlung von Zwangsgedanken schwer. Sie können nicht nachvollziehen, warum der Satz "Zwangsgedanken sind nur Gedanken" nicht ausreicht, um ihre Patienten dauerhaft zu beruhigen. Und genau wie ihre Patienten verzweifeln sie, weil reine Logik nicht auszureichen scheint, um dem Zwang etwas entgegenzusetzen.

Wenn du dich in diesen Beschreibungen wiedererkennst, dann bist du nicht alleine. Dieser Artikel beleuchtet, warum der oft gehörte Rat "Zwangsgedanken sind nur Gedanken" nur ein Teil der Lösung ist. Echte Experten für Zwangsstörungen wissen, dass es mehr braucht, um Betroffenen wirksam zu helfen.

Zwangsgedanken sind nur Gedanken, aber…

Umfangreiche wissenschaftliche Studien haben bestätigt: Personen mit Zwangsstörungen setzen ihre Zwangsgedanken nicht in die Tat um. Zwangsgedanken sind auch kein Anzeichen dafür, dass man von Grund auf böse oder unmoralisch ist. Damit steht fest: Zwangsgedanken sind letztlich wirklich nichts weiter als Gedanken. 

Aber warum hast du trotzdem immer noch das quälende Gefühl, dass von deinen Zwangsgedanken Handlungsbedarf ausgeht?

Wie dich der Teufelskreis Zwang gefangen hält

Als jemand, der von einer Zwangsstörung betroffen ist, kennst du das: Den Wunsch, Zwangsgedanken, nagende Zweifel und die ständige Anspannung durch Ursachenforschung, Grübeleien, Rückversicherungen und andere Absicherungsstrategien (alles davon sind Zwangshandlungen) aufzulösen. 

Ironischerweise führt gerade dieses Verhalten zum gegenteiligen Effekt: Alle diese Versuche signalisieren deinem Gehirn, dass es sich beim Inhalt deiner Zwangsgedanken tatsächlich um ein Problem handelt, das dringend gelöst werden muss. Dein Gehirn will dir daher einen Gefallen tun und erinnert dich in Form von Zwangsgedanken weiterhin daran, dass dieses Problem noch immer existiert.

Bei den meisten Problemen ist unsere erste Reaktion, eine Lösung zu suchen. Und oft funktioniert das auch. Bei Zwangsgedanken jedoch bewirkt genau dieser Instinkt das Gegenteil: Je mehr du sie bekämpfst, desto stärker werden sie. Nicht, weil sie eine tiefe Bedeutung haben, sondern weil du ihnen so viel Aufmerksamkeit schenkst.

Aber warum fällt es dir so schwer, deine Zwangsgedanken einfach zu ignorieren? Gibt es nicht doch einen Grund dafür, dass sie dir nicht aus dem Kopf gehen?

Zwanghafte Mythen: Wie dir dein Gehirn einen Streich spielt

Zwangserkrankte leiden in der Regel unter sogenannten kognitiven Verzerrungen. Dabei handelt es sich um falsche Glaubenssätze, die meist unbewusst das Denken und Handeln beeinflussen:

  • Gedanken-Handlungs-Fusion: “Meine Gedanken könnten Taten werden.”
  • Überverantwortlichkeit: “Es ist meine Verantwortung, etwas Schlimmes um jeden Preis zu verhindern und auf meine Zwangsgedanken zu reagieren.”
  • Intoleranz von Ungewissheit: “Ich muss mir absolut sicher sein, dass meine Befürchtung nicht doch wahr ist/wird.”
  • Emotionale Beweisführung: “Weil es sich so anfühlt, muss es wahr sein.”

Auch wenn dir rational bewusst ist, dass Zwangsgedanken eigentlich nur Gedanken sind, machen es dir die kognitiven Verzerrungen schwer, deine Zwangsgedanken einfach so zu ignorieren. Wegen ihrer emotionalen Intensität kannst du nur schwer glauben, dass sie keine Bedeutung haben (emotionale Beweisführung). Die Unsicherheit darüber, ob deine Ängste vielleicht doch berechtigt sind, ist kaum auszuhalten (Intoleranz von Ungewissheit). Und wäre es nicht auch unverantwortlich, deine Gedanken nicht ernst zu nehmen (Überverantwortlichkeit)?

Das Bewusstwerden dieser Verzerrungen ist jedoch nur der erste Schritt auf dem Weg zur dauerhaften Überwindung von Zwangsstörungen.

So überwindest du dauerhaft deine Zwangsgedanken 

Wir besitzen sowohl ein logisch denkendes als auch ein emotionales Gehirn. Beide "kommunizieren" unterschiedlich: Während unser logisches Gehirn sehr empfänglich für neue rationale Erkenntnisse ist, lernt unser emotionales Gehirn durch neue Erfahrungen. 

Als jemand, der von einer Zwangsstörung betroffen ist, versuchst du oft, mit Logik - etwa durch endloses Grübeln - deine Gefühle zu verändern. Doch hier liegt der Haken: Dieser Ansatz funktioniert nicht, weil das emotionale Gehirn dafür nicht empfänglich ist. Deswegen führt die logische Erkenntnis “Zwangsgedanken sind nur Gedanken” nicht zu der dauerhaften Beruhigung, die du dir erhoffst.

Um wirklich Veränderung in deinem emotionalen Gehirn herbeizuführen, braucht es keine weiteren Erkenntnisse, sondern neue Erfahrungen. Hier kommt die Expositionstherapie mit Reaktionsverhinderung ins Spiel - der anerkannte Goldstandard in der Behandlung von Zwangsstörungen. Durch dieses wirkungsvolle Verfahren lernen Betroffene, angstauslösende Situationen erfolgreich zu bewältigen. Diese direkten Erfahrungen "programmieren" das emotionale Gehirn um, was zu einer dauerhaften Reduzierung der Symptome einer Zwangsstörung führt und Betroffenen hilft, zu einem unbeschwerten Leben zurückzufinden.

Möchtest du mehr darüber erfahren, wie du deine Zwangsgedanken mit wissenschaftlich fundierten Methoden überwinden kannst? Dann findest du auf OCD Land viele wertvolle Ressourcen:

Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

Sarina Kühne

Sarina ist eine ehemalige Betroffene einer Zwangsstörung und setzt sich engagiert für die Aufklärung über Zwangserkrankungen ein. Unter anderem hat sie auf OCD Land einen Betroffenenbericht geschrieben und war zu Gast im Zwanglos-Podcast. Als Digital Marketing Manager erstellt Sarina für OCD Land informative und hilfreiche Artikel für unseren Experten-Blog, Instagram-Posts und YouTube-Videos. Sie ist außerdem Moderatorin im Community-Forum.

PD Dr. Susanne Fricke

PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.