Die Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

Von Prof. Dr. Andreas Wittorf und Martin Niebuhr


Belastet Sie, dass Sie bestimmte Sinneseindrücke (z.B. Geräusche, Herzschlag oder Schlucken) ständig wahrnehmen? Befürchten Sie, dass Sie aufgrund dessen Ihr Leben nie wieder normal leben können oder gar verrückt werden? Dann könnten Sie unter der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung leiden. In diesem Artikel erfahren Sie, was es damit auf sich hat, und welche Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie bei dieser speziellen Form der Zwangsstörung helfen.

Unser menschliches Gehirn kann praktisch über alles nachdenken! Sie können über Dinge nachdenken, die noch gar nicht passiert sind, oder Dinge, die niemals passieren werden. Wenn Sie wollen, können Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit auf eine körperliche Empfindung (z.B. Herzschlag) oder Funktion (z.B. Schlucken) ausrichten und darüber nachdenken, wie sich diese anfühlt. Sie können sogar über Ihr eigenes Denken nachdenken! Diese erstaunliche Fähigkeit unseres Gehirns wird von manchen Menschen allerdings als extreme Belastung wahrgenommen. Vielleicht gehören Sie auch zu den Betroffenen, die solche Gedanken als quälende Intrusionen erleben, die Ihre ganze Energie aufzehren, und Sie hoffnungslos werden lassen, dass diese Gedanken nie aufhören.

Das zentrale „Thema" der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung (engl.: Hyperawareness OCD, Sensorimotor OCD) lautet: „Ich bin mir ständig irgendwelcher banaler Dinge bewusst, über die offenkundig kein Mensch nachdenkt, und ich will aufhören, mir dessen bewusst zu sein, kann es aber nicht". Die meisten Menschen haben irgendwann in ihrem Leben vorübergehende Probleme mit dieser Art von sensorischer Überbewusstheit erlebt. So stellen z.B. eine verstopfte Nase, ein Reizhusten o.ä. normale sensorische „Ärgernisse" dar, die Menschen eine Zeit lang vereinnahmen können.

Die Hyperbewusstheits-Zwangsstörung ist ein Subtypus der Zwangsstörung, der sich durch eine exzessive Aufmerksamkeit auf Stimuli aus dem eigenen Körper (interne Trigger) oder der Außenwelt (externe Trigger) auszeichnet. Und die Bewusstheit dieser Phänomene macht Angst und nimmt Sie komplett in Beschlag, so dass ein enormer Leidensdruck resultiert. Man könnte versucht sein, das Wesen dieser Zwangsstörung als ein Zuviel an Achtsamkeit zu betrachten: Es scheint wie eine Besessenheit von Achtsamkeit, von der Aufmerksamkeit auf das gegenwärtige Erleben. Es ist jedoch der Widerstand gegen diese Bewusstheit, der Sie tatsächlich vom Erleben des jetzigen Moments wegzieht - daher ist das keine außer Kontrolle geratene Achtsamkeit. Es ist der Zwang, der von einer anderen Seite angreift.

Typische Trigger, Zwangsgedanken und Zwangshandlungen

Typische Trigger bei zwanghafter Hyperbewusstheit

Die sog. sensomotorischen Zwangsgedanken beziehen sich auf die aufdringliche Wahrnehmung der Bewusstheit von eigentlich unwillkürlichen körperlichen Prozessen. Als typische interne Trigger (Auslöser) fungieren häufig:

  • Die Bewusstheit des Atmens,
  • die Bewusstheit des Schluckens,
  • die Bewusstheit des Blinzelns,
  • die Bewusstheit physischer Empfindungen, die unbedenklichen Ursprungs sind (z.B. der Herzschlag, ein Jucken, Wärmeempfinden etc.),
  • die Bewusstheit der Körperhaltung (z.B. wo sich die Arme in Beziehung zum Rest des Körpers befinden),
  • die Bewusstheit von Glaskörpertrübungen („Floater") im Auge,
  • die Bewusstheit von Ohrgeräuschen,
  • die Bewusstheit von Gefühlen, die Kleidungsstücke auf der Haut verursachen.

Typische externe Trigger in der Rubrik der Hyperbewusstheit beinhalten z.B. (aber nicht ausschließlich) das exzessive Befasstsein mit:

  • Der Bewusstheit harmloser Geräusche (z.B. Vogelzwitschern, Verkehrsgeräusche, Kaugeräusche anderer Menschen),
  • der Bewusstheit der Erinnerung an spezielle Bilder (meist harmlose, manchmal verstörende Bilder, begleitet von dem Gefühl an ihnen „festzukleben"),
  • der Bewusstheit der Erinnerung an Musikstücke („Ohrwürmer"; z.B. ein Melodiefetzen, der im Kopf „feststeckt"),
  • der Bewusstheit des eigenen Denkprozesses, dass man einen Verstand hat, dass das Denken stattfindet - in einer Weise, die sich belastend anfühlt. Hierzu ein kleiner Exkurs:

Exkurs (nach Hershfield & Corboy): Hyperbewusstheit des Denkens vs. Stimmenhören

Wenn der Zwang sich Ihr Denken als Ziel ausgesucht hat, dann kann das sehr beängstigend sein. Wenn Sie Ihre Erfahrung beschreiben sollten, dann würden Sie vielleicht sagen, dass Sie Ihre Gedanken „hören" oder dass sie „zu laut" sind. Ein unerfahrener Kliniker könnte dies fälschlich als akustische Halluzinationen deuten und eine Psychose vermuten. Dies ist aber komplett falsch! Die übermäßige Bewusstheit Ihrer Gedanken ist nicht das Gleiche wie Stimmenhören. Bei akustischen Halluzinationen gibt es eine messbare Aktivität im Hörgebiet des Gehirns. Diese Stimmen werden dann in der gleichen Art gehört wie Sie Geräusche von außen hören. Die Bewusstheit Ihrer inneren Stimme ist nicht das Gleiche wie wenn Sie Ihre Gedanken auf Tonband sprechen und dann abhören würden. Obwohl sich Ihre Erfahrung wie der Klang Ihrer Stimme anfühlen mag, darf die Gegenwart aufdringlicher Gedanken nie mit akustischen Halluzinationen verwechselt werden. Sie sind also definitiv nicht „verrückt". Der „Lichtkegel" Ihres „Bewusstseins-Scheinwerfers" ist nur stärker (als bei Menschen ohne diesen Zwang) auf die Idee ausgerichtet, dass Sie denken.

Typische Zwangsgedanken bei zwanghafter Hyperbewusstheit

Bei der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung beziehen sich die Zwangsgedanken nicht auf das Blinzeln, Schlucken, Geräusche oder ähnliches an sich. Sie beziehen sich auf das, was diese nie endende Bewusstheit mit Ihnen machen wird. Es die Befürchtung, dass die Hyperbewusstheit Sie davon abhalten wird, Freude zu erleben, oder Sie in den Wahnsinn treibt. Im Kern ist es also eine Furcht vor der „Kontamination" des eigenen Verstandes. Die häufigsten Befürchtungen, die mit dieser Hyperbewusstheit verbunden sind, lauten daher häufig:

  • „Meine Bewusstheit dieser Dinge wird so bedrückend, dass ich depressiv oder verrückt werde."
  • „Die nie endende Bewusstheit dieser Wahrnehmung wird dazu führen, dass ich nicht mehr in der Lage sein werde, meiner Arbeit nachzugehen oder Beziehungen zu führen."
  • „Ich werde niemals wieder in der Lage sein, diese Dinge unwillkürlich zu machen und deshalb werde ich sie auf gestelzte oder merkwürdige Art tun."

Das diesen Zwangsgedanken innewohnende Problem ist also nicht einfach das Bemerken des Triggers (z.B. der Atmung, eines Geräusches). Es ist das Bemerken des Bemerkens und der Widerstand gegen diese Erfahrung.

Lesefaul?
Folge uns auf Social Media!


Typische Zwangshandlungen bei zwanghafter Hyperbewusstheit

Viele der Zwangshandlungen bei der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung lassen sich von außen gar nicht beobachten. Die hauptsächlichen Zwangshandlungen laufen „verdeckt", d.h. auf mentaler Ebene, ab. Als Zwangshandlungen können Sie alle Verhaltensweisen begreifen, die Sie absichtlich ausführen, um Ihre Hyperbewusstheit und das damit verbundene Unbehagen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren (also Ihren Verstand von der oben erwähnten „Kontamination" zu reinigen). Die mit Hyperbewusstheits-Zwangsgedanken einhergehenden Zwangsrituale beinhalten typischerweise:

  • Mentale Kontrolle der Auslöser (Atmen, Schlucken usw.),
  • ständiges Durchdenken hinsichtlich der Willkürlichkeit oder Unwillkürlichkeit der Auslöser,
  • gedankliches Klären der Bedeutsamkeit der Bewusstheit,
  • Rückversicherungen einholen (z.B. von Ärzten), um die Bestätigung zu bekommen, dass diese wahrgenommene Bewusstheit kein Zeichen einer schweren geistigen Krankheit ist, und dass diese nach einer bestimmten Zeit wieder vergehen wird,
  • Ablenkungsstrategien, z.B. Kopfhörer aufziehen, um irritierende Geräusche zu überdecken,
  • Vermeidung von Situationen, die Zwangsgedanken auslösen könnten; z.B. Vermeiden eines Spaziergangs im Park wegen des Vogelgezwitschers (oder Tragen von Ohrenstöpseln); Vermeidung von sozialen Kontakten, weil die Hyperbewusstheit (z.B. des Blinzelns, Schluckens, Atmens) sich negativ auswirken könnte.

Therapeutische Ansätze bei Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

Die Therapie der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung besteht aus einer Kombination der kognitiven Verhaltenstherapie, inklusive Exposition mit Reaktionsmanagement, und achtsamkeitsbasierten Ansätzen, wie sie z.B. in der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) beschrieben werden. Vielleicht mehr als bei jeder anderen Form der Zwangsstörung ist Achtsamkeit der Schlüssel, um sich von Hyperbewusstheits-Zwangsgedanken zu distanzieren. Daher gehen wir zunächst auf den achtsamkeitsbasierten Ansatz ein.

Der achtsamkeitsbasierte Ansatz

Die größte Exposition bei Hyperbewusstheits-Zwangsgedanken ist Akzeptanz. Die Bewältigung dieser Form der Zwangsstörung ist eine enorme Akzeptanz-Herausforderung. Hershfield und Corboy verwenden folgende Metapher: „Es ist so, als ob der Zwang ein Fenster zu einer Aussicht geöffnet hätte, wo Sie vorher gar nicht wussten, dass da ein Fenster, geschweige denn, eine Aussicht, waren". Der Widerstand gegen das, was Sie in diesem Fenster sehen, und der Widerstand gegen das Fenster selbst, konstituieren also Ihre Zwangsstörung.

Akzeptanz bedeutet nicht, dass Sie sich damit abfinden sollen, ständig über Ihre Zwangsgedanken nachzudenken. Ganz im Gegenteil: Der Akt des Grübelns und Analysierens steht dem Erleben von Akzeptanz der Zwangsgedanken, so wie sie kommen und gehen, entgegen. Akzeptanz bedeutet nicht, dass Sie eine Erfahrung (z.B. einen ungewollten Gedanken oder ein unliebsames Gefühl) mögen müssen, Akzeptanz bedeutet lediglich, dass Sie den Kampf dagegen aufgeben. Akzeptanz ist auch keine einmalige Handlung, sondern ein fortlaufender Prozess, d.h. Sie müssen sehr oft und immer wieder akzeptieren (bis Sie schließlich Ihren Frieden mit der Erfahrung geschlossen haben).

Wie schon erwähnt, ist das diesen Zwangsgedanken inhärente Problem nicht einfach das Bemerken des Triggers. Es ist das Bemerken des Bemerkens und der Widerstand gegen diese Erfahrung. Achtsames Akzeptieren muss also das Annehmen jeglichen Unbehagens, das mit der Bewusstheit des gegenwärtigen Augenblicks einhergeht, einschließen. Anstatt sich vom Erleben dieser Bewusstheit fortzuziehen, fordert Achtsamkeit Sie auf, bei diesem Erleben zu bleiben, egal welche Gedanken, Gefühle und Empfindungen da mitkommen. Akzeptanz bei dieser Form der Zwangsstörung lädt Sie ein, genau das zu tun: Den Kampf gegen das Bemerken des Bemerkens loszulassen. Das bedeutet, verstörende Gedanken zu beobachten, Gedanken wie „Ich werde nie wieder schlucken können, ohne darüber nachzudenken", oder „Ich werde mich immer von diesen Geräuschen gestört fühlen", oder „Ich werde meinen Denkprozess für immer als beschwerlich wahrnehmen".

Beispiel für ein Achtsamkeitstraining bei Hyperbewusstheit der Atmung

Meditation „im gegenwärtigen Augenblick" (z.B. Atemmeditation) spielt eine bedeutsame Rolle bei der Behandlung Ihrer Hyperbewusstheits-Zwangsgedanken - selbst wenn (und gerade dann) sich Ihre Zwangsgedanken auf die Bewusstheit Ihrer Atmung beziehen. Bei jeder Form von Meditation arbeiten Sie daran, den mentalen „Muskel" zu stärken, der es Ihnen erlaubt, sich vom Denken zu entbinden und zur gegenwärtigen Erfahrung (z.B. des Atmens) zurückzukehren. Um Ihnen diesen Prozess des Akzeptierens zu veranschaulichen, folgt eine Instruktion (Auszug), die ich für eine Patientin (Frau K.) mit einem „Atem-Zwang" entwickelt und für sie auf dem Stimmrekorders ihres Handys aufgezeichnet habe:

„... und während Sie auf Ihren Atem fokussieren, bemerken Sie vielleicht Gedanken darüber, ob Sie auf Ihren Atem achtgeben, oder ob das schon übermäßige Beachtung ist ... dann nehmen Sie diesen Gedanken zur Kenntnis ... und anerkennen Sie, dass damit Ihr Verstand den Akt der Meditation übernommen hat ... üben Sie Bereitwilligkeit diese Erfahrung zu haben ... und bringen Sie sich zurück zum Atem, selbst wenn das Ihrem Zwang in die Hände zu spielen scheint ... immer wieder zurückkehren ... und lassen Sie alles so, wie es ist, Sie brauchen nichts zu verändern ... einfach beobachten ... ein und aus ... ein und aus ... vielleicht bemerken Sie, dass Sie über Ihren Atem nachdenken ... Sie können akzeptieren, dass dieses Denken stattfindet ... und sich davon entbinden, aktiv daran teilzunehmen ... und wenn Sie bemerken, dass Ihr Geist gewandert ist, einfach zurückkehren, zurückkehren zu diesem Ein und Aus des Atems ... ein und aus ... einfach beobachten ... ein und aus ... Sie nehmen sich einfach die Zeit, jegliches Problemlösen loszulassen ... die Bewusstheit Ihrer Atmung ist nur dann ein Problem, wenn Sie sich entscheiden, dies als Problem zu betrachten ... Sie können loslassen in diesem Moment ... zurückkehren zu diesem Ein und Aus des Atems ... ein und aus ... und wenn Sie bemerken, dass Ihr Geist auf Wanderschaft gegangen ist, ihn einfach zurückbringen zum Atem ... Sie mögen sich fragen, ob dieses Denken nie aufhört ... nehmen Sie zur Kenntnis, dass dies ein weiterer Gedanke ist ... Sie können diesen Gedanken haben, müssen sich aber jetzt nicht darum kümmern ... und kehren zum Atem zurück, ein und aus ... ein und aus ... und nun machen Sie sich bitte bereit, mit der Aufmerksamkeit in die Außenwelt zurückzukehren ... vielleicht mit ein paar kräftigen Atemzügen, mit einem Strecken und Räkeln ... und dann öffnen Sie wieder die Augen."

Am günstigsten ist es, Sie lassen sich diese Instruktion (die natürlich auch für andere Trigger angepasst werden kann) von einer anderen Person (z.B. Therapeut:in) aufsprechen.

Der kognitive-verhaltenstherapeutische Ansatz

Kognitive Aspekte: Bewertungsfehler bei Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

Die grundlegende problematische Überzeugung bei dieser Form der Zwangsstörung besteht darin, dass die Bewusstheit einer Erfahrung unerträglich ist, dass das niemals aufhören wird, und dass das schließlich die Freude am Leben selbst zerstören wird. Die typischen „Denkfehler" sind also die „Magnifizierung" (Überbewertung) dieses Gedankens, die „Katastrophisierung" hinsichtlich einer unerträglichen Zukunft, und Ihre „Sollte"- und „Müsste"- Aussagen über das, was Sie glauben, welcher Dinge Sie sich bewusst oder unbewusst sein sollten. Seien Sie sich im Klaren darüber, dass das Infragestellen und „Zurechtrücken" dieser kognitiven „Verzerrungen" nur ein Instrument zur Unterstützung Ihrer Bemühungen ist, sich von Zwangshandlungen zu entbinden. Sie sollten dieses Hinterfragen („kognitive Restrukturierung") nicht in den Vordergrund Ihrer therapeutischen Selbsthilfe stellen, da das sonst leicht zu vermehrten Denkzwängen (kognitiven Ritualen) führen kann.

Angenommen, Ihre zwanghafte Hyperbewusstheit bezöge sich auf Ihr Blinzeln, dann würden Sie vielleicht feststellen, dass Sie gerade über Ihr Blinzeln nachgedacht haben und Ihnen das Unbehagen bereitet (Trigger). Der damit verbundene Zwangsgedanke (Was „sagt" der Zwang zu Ihnen?) könnte z.B. lauten: „Du blinzelst nicht normal, weil Du darüber nachdenkst. Daher musst Du entscheiden, ob Du mehr oder weniger blinzeln solltest als Du gerade blinzelst, um zu vermeiden, merkwürdig auszusehen". Sie könnten diesen Zwangsgedanken dann z.B. folgendermaßen in Frage stellen: „Es ist nicht wichtig, wie oder wann ich blinzle, und ich habe keine Möglichkeit herauszubekommen, ob andere Menschen das als normal oder unnormal wahrnehmen. Ich blinzle, wenn ich blinzle, und ich muss akzeptieren, dass es mir manchmal Unbehagen bereitet".

Dieser „rationale" Zugang zur Entkräftung von Zwangsgedanken ist erfahrungsgemäß aber nur bedingt hilfreich, weil dem Zwang mit „Logik" kaum beizukommen ist. Der Zwang ist eben ein subjektiv-gefühlsmäßiges und kein inhaltliches Problem. „Eigentlich" wissen Sie, dass die bewusste Wahrnehmung z.B. Ihres Blinzelns nur dann ein Problem ist, wenn Sie sich entscheiden, das als Problem zu betrachten. Und trotzdem macht Ihnen diese Erfahrung Angst. Also geht es im nächsten Schritt darum, sich dieser Angst zu stellen (Exposition) und zu erfahren, dass diese Angst (wenn Sie sie einmal akzeptiert haben) vergeht. Diesen Prozess bezeichnen wir als Habituation.

Exposition mit Reaktionsmanagement bei Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

Sie mögen sich frustriert fühlen, weil Sie glauben keine Zwangshandlungen auszuführen. Und ein unerfahrener Therapeut könnte Sie in diesem Fehlschluss sogar bestärken, wenn er oder sie mit mentalen Ritualen bei Zwangsstörungen nicht vertraut ist. Was Sie vielleicht noch nicht wussten: Selbst wenn Sie nur in Ihrem Kopf auf Ihre Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen so reagieren, als wenn sie nicht da sein sollten, dann führen Sie bereits Zwangshandlungen aus. Und genau auf diese sollen Sie mithilfe der folgenden Übungen lernen zu verzichten.

Exposition in vivo bei Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

In vivo"-Exposition bei Hyperbewusstheit bedeutet, die Vermeidung von Auslösern zu unterbinden, und sich stattdessen zu bemühen, die Zwangsgedanken absichtlich zu denken, anstatt vor ihnen zu fliehen. Wie bei anderen Formen der Zwangsstörung gibt es verschiedene problematische Bewältigungsstrategien, insbesondere Vermeidung und ständiges Durchdenken, die das zwanghafte Ankämpfen gegen Ihre Bewusstheit ungewollter Gedanken beinhalten.

Sie mögen zu der Überzeugung gelangt sein, dass Ihre ungewollten Gedanken unvermeidlich sind, weil so etwas wie Atmen, Blinzeln oder Denken unumgänglich stattfindet, wohingegen Sie aggressive Zwangsgedanken oder Kontaminationsängste als irgendwie andersgeartet betrachten. Bei der zwanghaften Hyperbewusstheit bezieht sich der Zwangsgedanke, wie schon gesagt, aber nicht auf das Blinzeln, Schlucken oder Geräusche etc. an sich. Es ist die Befürchtung, dass die Bewusstheit dessen Sie davon abhalten wird, Freude zu erleben, oder Sie in den Wahnsinn treibt. Im Kern ist es also die Furcht vor der oben erwähnten „Kontamination" Ihres Verstandes. So betrachtet sollten Sie alles als Zwangshandlung betrachten, was Sie tun, um Ihren Verstand von dieser Kontamination zu „säubern". Expositionstherapie bedeutet also, sich absichtlich in Situationen zu bringen, wo Ihre Hyperbewusstheit vornehmlich auftritt und sich dann vom Drang zu Durchdenken oder Vermeiden zu entbinden.

Wenn sich Ihre Hyperbewusstheit auf das eigene Denken bezieht, dann können Sie Übungen folgender Art probieren, wie sie z.B. Hershfield und Corboy vorschlagen: Versuchen Sie sich auf soziale Interaktionen einzulassen, die etwas zusätzliche mentale Verarbeitung erfordern, so z.B. in Gesellschaft Ihrer Freunde im Restaurant ein Essen zu bestellten. Während Sie auf die Speisekarte schauen, sagen Sie sich, dass Sie keine Ahnung haben, was Sie bestellen sollen und versuchen Sie den Gedanken festzuhalten, dass da viel zu viel an Information vor Ihren Augen ist. Warten Sie, bis der Kellner erscheint und wählen dann im letzten Moment zufällig ein Gericht aus, wobei Sie riskieren, komplett falsch zu liegen.

Bei der Hyperbewusstheit des Atmens z.B. praktizieren Sie absichtsvoll Atembeobachtung. Wenn Sie anfangen zu bemerken, dass Sie Ihren Atem stärker bemerken als Sie möchten, dann sagen Sie sich, dass das „absolut schrecklich" ist und Sie in den Wahnsinn treiben wird. Beachten Sie, dass dies ein komplett anderer Ansatz als beim oben beschriebenen Achtsamkeitstraining ist, bei dem Sie Ihre Gedanken über die Atmung zur Kenntnis nehmen, anerkennen, dass deren Gegenwart in Ordnung ist, um dann diese Gedanken ziehen zu lassen, ohne sie zu bewerten. Der Zweck dieser Expositionsform der Atembeobachtung ist es, zunächst die Angst zu erzeugen, die mit Ihren zwanghaften Befürchtungen einhergeht, um sich dann daran zu gewöhnen (Habituation).

Wenn sich Ihre Hyperbewusstheit auf das Schlucken oder Blinzeln bezieht, dann praktizieren Sie das Schlucken oder Blinzeln, während Sie sich sagen, dass Sie das „falsch" tun. Dies in der Öffentlichkeit zu tun, mag Ihre Angst sogar noch stärker machen.

Imaginative Exposition bei der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

Diese Art der Exposition ist die „Königsdisziplin" unter den Expositionen. Das Ziel der imaginativen Exposition ist es, über eine Art Skript (Drehbuch), absichtlich und Schritt für Schritt, die Angst zu steigern, die durch Ihre aufdringlichen Gedanken verursacht wird. Diese Skripte-Methode ist von dem Psychologen Jonathan Grayson ausführlich beschrieben worden und lässt sich z.B. im OCD Land-Mitgliederbereich gut realisieren; hier können Sie Skripte aufsprechen und immer wieder abhören. Indem Sie in einem solchen Skript schrittweise Ihre schlimmsten Befürchtungen ausarbeiten (eine Art „Worst-Case"-Szenario entwickeln) und sich ihnen mental stellen, „beweisen" Sie Ihrem Gehirn schließlich, dass Sie die Gegenwart dieser Gedanken aushalten können. Mit jeder Zwangshandlung lernen Sie hingegen immer wieder aufs Neue, dass Sie das Unbehagen nicht tolerieren können (ein weiterer Trick des Zwangs).

Der Schlüssel zu Ihrem Drehbuch besteht darin, genau zu identifizieren, welches Ihre zentrale Befürchtung ist. Denken Sie daran: Es geht weniger um den Inhalt Ihrer aufdringlichen Gedanken (z.B. ständige Bewusstheit der Atmung), sondern um das, was die niemals endende Bewusstheit dieses Inhalts (z.B. Ihrer Atmung) mit Ihnen machen würde. Wenn Sie diese Befürchtung einmal identifiziert haben, machen Sie sich auf die Suche nach den problematischen Bewältigungsstrategien, die Sie tun, um sich selbst zu beruhigen, oder diese Gedanken zu verscheuchen. Werfen Sie einen Blick auf einige der mentalen Rituale, mit denen Sie sich beschäftigen, oder jede andere Art und Weise, auf die Sie versuchen, Widerstand gegen die Gegenwart dieser Gedanken zu leisten.

Um ein wirklich gutes imaginatives Expositionsdrehbuch bei der Hyperbewusstheits-Zwangsstörung zu verfassen, müssen Sie identifizieren, wovor Sie sich wirklich fürchten. Hershfield und Corboy haben eine Reihe von Fragen entwickelt, die Ihnen helfen können, Ihr Skript zu entwickeln. Diese Fragen und die entsprechenden Antworten meiner Patientin (Frau K.) sind nachfolgend aufgeführt:

Worüber werden Sie für immer nachdenken?
„Ich werde für immer und ewig über meine Atmung nachdenken." 


Was macht diese nie endende Bewusstheit unerträglich und inakzeptabel?
„Ich kann nie mehr Dinge genießen. Ich kann nicht reden oder verliere immer wieder den Faden, weil ich ständig auf meine Atmung achte. Ich kann Gesprächen nicht mehr folgen, nie mehr konzentriert an etwas arbeiten. Ich werde meinen Job nicht mehr ausfüllen - ich kann gar keinen Job mehr ausfüllen. Ich werde meinen Job verlieren. Ich werde jämmerlich vor mich hinvegetieren, ohne Aufgabe im Leben und ohne Lebensfreude." 

Inwiefern ist das verschieden von dem, was „normale" Menschen erleben?
„Normale Menschen können auf ihren Atem achten und das dann auch wieder loslassen. Ich nicht." 

Welche Strategie werden Sie wählen, wenn dieser Zwangsgedanke für sehr lange Zeit weiterbesteht?
„Ich suche mir einen Job, wo man nicht denken muss. Ich suche mir einen drittklassigen Partner, Hauptsache, ich habe einen und er läuft nicht weg, wenn er merkt, wie krank ich bin. Ich lebe quasi ein Leben als Behinderte". 

Wenn diese Strategie nicht funktioniert, was wird mit Ihrer geistigen Stabilität passieren, wenn Sie merken, dass dieser Zwangsgedanke nie weggehen wird?
„Ich werde depressiv. Ich werde verrückt. Ich drehe durch. Ich nehme mir das Leben - davor habe ich aber zu viel Angst. Aber es gibt vielleicht irgendwo Sterbehilfe." 

Welches wären einige der Dinge, die passieren würden, bevor Sie nicht mehr in der Lage wären, gesellschaftlich zu funktionieren?
„Ich kann nicht mehr sprechen. Ich bin so unruhig, dass ich es nirgendwo mehr aushalten kann. Ich sitze nur noch in meinem Zimmer und atme."

Wie gehen die Menschen, die Ihnen etwas bedeuten, damit um?
„Die Menschen wenden sich von mir ab. Sie stempeln mich als Spinner ab. Sie wollen mit einer Verrückten nichts mehr zu tun haben. Sie lassen mich allein in meinem Elend sitzen." 

Wie werden Sie enden?
„Vereinsamt, zugedröhnt mit Medikamenten. Ins Koma versetzt, bis ich irgendwann sterbe. Sollte ich jemals den Mut dazu haben: Mit Sterbehilfe im Ausland sterben."

Den direkten Kontakt mit Ihren Befürchtungen zu machen ist eine echte Herausforderung. Exposition mit Reaktionsverhinderung funktioniert aber nur, wenn Sie sich selbst verpflichten, keine mentalen Rituale durchzuführen, und stattdessen achtsam und ohne Protest alle Gedanken und Gefühle akzeptieren, die der Zwang Ihnen „hinwirft". In dieser intensivsten Form der Exposition mit Reaktionsverhinderung akzeptieren Sie nicht nur die Gedanken, sondern tauchen kopfüber in Ihre Befürchtungen ein, anstatt um sie herum zu schleichen.

Mir ist bewusst, dass Sie den Vorschlag, sich mit Ihren Zwangsgedanken und Befürchtungen zu konfrontieren, anfangs mit Skepsis betrachten werden - nicht zuletzt, weil Expositionen immer mit viel Mühe und Arbeit einhergehen. Allerdings spricht viel für diese Form der Therapie: Expositionen mit Reaktionsmanagement gelten als der Goldstandard für die Therapie von Zwängen und werden von der offiziellen Behandlungsleitlinie sowie allen namhaften Organisationen und Spezialisten als Therapie der ersten Wahl empfohlen. Als praktizierender Psychotherapeut habe ich mehrfach Patienten mit einer Hyperbewusstheit-Zwangsstörung behandelt und kann den Erfolg dieses Ansatzes aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich möchte Sie daher gerne dazu motivieren, diesen therapeutischen Weg einzuschlagen.

Weitere Hilfe bei der Hyperawareness-Zwangsstörung

Ich hoffe, dass ich Ihnen in diesem Artikel einige hilfreiche Strategien zu Ihrer Hyperawareness-Zwangsstörung mitgeben konnte. Es ist aber völlig normal, dass Sie sich trotz dessen überfordert fühlen. Ich möchte Ihnen daher noch einige hilfreiche Möglichkeiten aufzeigen, die Ihnen bei Ihrer Zwangsstörung helfen können.

Selbsthilfebücher

Als Betroffener haben Sie großen Einfluss auf Ihren Therapieerfolg. Das beste Mittel dafür ist, sich ein umfangreiches Wissen zum Thema anzueignen: Je mehr Sie über Zwangserkrankungen wissen, desto leichter wird es Ihnen fallen, Ihren eigenen Zwang zu verstehen und Ihr Leben weniger vom Zwang bestimmen zu lassen, sondern von Ihren persönlichen Zielen und Werten. Für die Hyperbewusstheit-Zwangsstörung möchte ich Ihnen die folgenden drei Bücher empfehlen, von denen auch dieser Blog-Artikel inspiriert wurde:

Weitere Inhalte im Internet

Es gibt zahlreiche weitere Inhalte im Internet, die Ihnen weiterhelfen können. Hier eine kurze Auflistung:

Schlussbemerkung

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat, kann es sich bei der Hyperbewusstheit um eine Zwangsstörung handeln. Dieser Subtyp der Zwangsstörung tritt verhältnismäßig selten auf und wird noch seltener als Zwangsstörung erkannt.

Die gute Nachricht ist, dass die Hyperawareness-Zwangsstörung mit achtsamkeitsbasierten Ansätzen sowie mit der kognitiven Verhaltenstherapie genauso effektiv behandelt werden kann wie andere Arten der Zwangsstörung. Mithilfe dieser Techniken können Sie zu einem neuen, gelasseneren Leben zurückfinden. Dieses gelassenere Leben kommt aber nicht ohne einen Preis. Sich Expositionen zu stellen und die eigenen (mentalen) Zwangshandlungen und Vermeidungen zu unterlassen ist ein anstrengender und langwieriger Prozess. Ich hoffe aber, Sie in diesem Artikel motiviert zu haben, diesen Schritt zu gehen und Ihrer Hyperbewusstsein mit mehr Akzeptanz entgegenzutreten.

Über die Autoren
Prof. Dr. Andreas Wittorf

Prof. Dr. Andreas Wittorf ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen. Seit über 10 Jahren leitet er das Tübinger Therapieprogramm bei Zwangsstörungen (Flyer und Poster). Er ist Autor vieler wissenschaftlicher Publikationen, u.a. zu Fragestellungen der Psychotherapie-Prozessforschung.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.