Akzeptanz bei Zwangsstörungen: Intro zur Artikel-Reihe

Von Martin Niebuhr und Sarina Kühne

Kopf-Silhouette mit Blumen am oberen Ende des Kopfes.

Alle reden von Akzeptanz, aber was bedeutet das eigentlich - und vor allem: Was bedeutet Akzeptanz für die Überwindung einer Zwangsstörung? Soll man nun akzeptieren, dass es einem für immer schlecht geht? Soll man akzeptieren, dass die eigenen Befürchtungen wahr werden? Oder soll man akzeptieren, dass man seine Gedanken mag oder ihnen zustimmt? Vielleicht hast auch du eine dieser falschen Vorstellungen. In dieser Artikel-Reihe erklären wir dir auf Basis ausgewählter Experten-Literatur, was mit Akzeptanz wirklich gemeint ist und wie sie dir hilft, deine Zwangsstörung zu überwinden.

Wenn du schon länger auf OCD Land unterwegs bist, weißt du sicher, dass Zwangsstörungen am effektivsten mit der kognitiven Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsverhinderung behandelt werden. Vielleicht stellst du dir daher die Frage, warum wir nun diese Artikel-Reihe zur Akzeptanz verfasst haben.

Ist Akzeptanz nicht ein weichgespültes Konzept aus der Populär-Psychologie? Und wie soll Akzeptanz dir helfen, besser mit deinen aufdringlichen Gedanken, zwanghaften Befürchtungen, ständigen Zweifeln und unangenehmen Emotionen umzugehen? Diese willst du schließlich um jeden Preis loswerden und alles andere als akzeptieren.

Vielleicht stehst du dem Begriff Akzeptanz aus diesen Gründen erstmal sehr skeptisch gegenüber. Das ist absolut nachvollziehbar, denn Akzeptanz scheint auf den ersten Blick etwas ganz Unmögliches von dir zu verlangen - etwas, das abwegig oder sogar unvorstellbar erscheint.

Was ist mit Akzeptanz bei Zwangsstörungen nicht gemeint?

Akzeptanz bei Zwangsstörungen bedeutet nicht das, was viele Betroffene erstmal erwarten - das können wir schonmal vorwegnehmen. Akzeptanz im Sinne dieser Artikel-Reihe bedeutet beispielsweise nicht, dass du akzeptieren sollst, dass …

  • … es dir nie wieder besser geht und du keine Freude mehr am Leben hast.
  • … deine Gedanken wahr werden oder du sie in die Tat umsetzt.
  • … du ein schlechter Mensch oder ein Monster bist.
  • … deine Befürchtung wahr ist oder zwangsläufig eintreten wird.
  • … du egoistisch oder unverantwortlich bist, weil du dich nicht um wichtige Dinge sorgst.
  • … du nichts für deine Genesung machen musst.
  • … es nicht anstrengend ist, eine Zwangsstörung zu überwinden.
  • … du deinem Schicksal ausgeliefert bist und nur noch passiv beobachten sollst, wie dein Leben an dir vorbeizeiht.
  • … du dir zwanghaft einreden sollst, etwas zu akzeptieren.

Das alles ist Akzeptanz nicht, aber diese falschen Vorstellungen führen häufig dazu, dass Betroffene Akzeptanz als Konzept im Vorhinein verwerfen und sich nicht weiter damit auseinandersetzen. Das ist schade, denn das richtige Verständnis von Akzeptanz kann möglicherweise den entscheidenden Therapie-Erfolg bringen. 

Was hat Akzeptanz mit Zwangsstörungen zu tun?

Es ist schwer, in wenigen Sätzen zu erklären, was Akzeptanz für die Überwindung einer Zwangsstörung genau bedeutet - daher haben wir diese ausführliche Artikel-Serie geschrieben. Aber wenn du unter einer Zwangsstörung leidest, dann weißt du bereits sehr genau, wie sich das Gegenteil von Akzeptanz anfühlt: Wie ein Kampf.

Eine Zwangsstörung zu haben, heißt, sich in einem täglichen Kampf mit seinem eigenen Kopf zu befinden. Ständig wirst du von quälenden Zwangsgedanken heimgesucht, die eine kaum zu ertragende Anspannung auslösen. Diese willst du deswegen mit Zwangshandlungen, Grübeleien und Vermeidungen loswerden: Du kämpfst gegen sie. 

Deine Anspannung ist das eine - aber sie ist nur ein Symptom: Der Kern deines Zwangs ist diese eine große Befürchtung, die du um jeden Preis verhindern willst. Jegliche Unsicherheit in Bezug auf diese Befürchtung kannst du kaum tolerieren. Auch hier befindest du dich im Kampf. 

Es ist auf den ersten Blick absolut logisch, ein solches schwerwiegendes Problem unbedingt so schnell wie möglich lösen zu wollen. Ein tatkräftiges Verhalten hilft dir schließlich auch in fast allen anderen Lebenssituationen: Dir ist kalt (Problem), du ziehst eine Jacke über (Lösung). Du hast Hunger (Problem), du isst etwas (Lösung). Dein Smartphone ist kaputt (Problem), du kaufst ein neues (Lösung).

Was Betroffene leider nicht wissen, ist, dass eine Zwangsstörungen kein "normales" Problem ist - auch, wenn es sich so anfühlt. Eine Zwangsstörung kann nicht wie andere Probleme gelöst werden. Stattdessen führen der ständige Kampf und das ständige Suchen nach Lösungen sogar dazu, dass sich deine Symptome immer weiter verschlimmern. Du weißt wahrscheinlich selbst am besten, dass dir bisher keine Zwangshandlung, keine Rückversicherung und kein Grübeln geholfen hat, endlich Gewissheit zu haben und deine Anspannung loszuwerden. 

So hilft Akzeptanz bei Zwangsstörungen

Akzeptanz ermöglicht dir nun eine neue Sichtweise auf die Zwangsstörung. Kurz gesagt versteht man unter Akzeptanz die Bereitschaft, nicht mehr gegen seine unangenehmen Gedanken und Emotionen zu kämpfen, weil genau dieser Kampf das Leid nur noch weiter verstärkt. Akzeptanz heißt, alle deine aktiven Widerstände gegenüber Erfahrungen aufzugeben, die außerhalb deiner Kontrolle liegen, und die Bereitschaft zu haben, das zu erleben, was jetzt gerade im Moment ist.

Akzeptanz ist außerdem als Lebenseinstellung zu verstehen, die dir einen Weg zeigt, wie du in deinem täglichen Leben gesünder mit ungewollten Gedanken und Emotionen umgehen kannst und dich nicht in einem Kampf verstrickst, den du nicht gewinnen kannst. Das mag sich für dich alles noch sehr unkonkret anhören. Im Laufe dieser Artikel-Reihe wirst du aber genau verstehen, was damit gemeint ist.

Akzeptanz steht auch nicht im Widerspruch zu einer leitliniengerechten Therapie mit Expositionen und Reaktionsverhinderung - ganz im Gegenteil: Eine akzeptierende Haltung hilft dir aktiv dabei, Zwangshandlungen, Rückversicherungen und Grübeleien aufzugeben und dich Situationen zu stellen, die du lange vermieden hast oder die eine große Anspannung auslösen. Gewissermaßen versuchen bereits Expositionen mit Reaktionsverhinderung dich zu befähigen, unangenehme Emotionen und Gedanken zu akzeptieren, ohne sofort etwas gegen sie unternehmen zu müssen. Akzeptanz ermöglicht dir nun, Expositionen aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, der für dich vielleicht zugänglicher ist.

Vielleicht hast du auch schon erfolgreich Expositionen durchgeführt, aber immer noch das Gefühl, dich in einem Kampf mit dem Zwang zu befinden. Einige Betroffene haben beispielsweise den Anspruch, die Therapie „perfekt“ zu machen, um ihre Symptome vollständig loszuwerden. Andere wiederum erhoffen sich, irgendwie doch noch eine finale Antwort auf ihre Zweifel zu erlangen. Das betrifft häufig Betroffene, deren Befürchtung sehr abstrakt oder weit in der Zukunft liegen (bspw. „Was ist, wenn ich vielleicht doch ein Mörder bin?“, „Was ist, wenn ich deswegen in 30 Jahren Krebs bekomme?“ oder „Was ist, wenn wir doch in einer Simulation leben?“). Weil sie realistische Therapieziele nicht akzeptiert haben, stehen sie sich selbst und ihrer Gesundung im Weg. Auch Akzeptanz wird dir hier keine absolute Gewissheit verschaffen, aber sie kann dir helfen, einen gesünderen Umgang mit dieser Ungewissheit zu erlernen.

Insbesondere in der englischsprachigen Fachwelt spielt Akzeptanz bei Zwangsstörungen eine immer größere Rolle: Mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) konnte sich in den letzten Jahren ein neues verhaltenstherapeutisches Konzept etablieren, dessen Wirksamkeit auch für Zwangsstörungen wissenschaftlich nachgewiesen worden konnte. ACT wurde daher auch in die neue deutschsprachige Leitlinie (2022) aufgenommen. 

Dabei steht auch ACT nicht in Konkurrenz zu Expositionen: Die meisten Spezialisten sehen darin eine sinnvolle Ergänzung oder eine neue Perspektive, um Betroffene zu Expositionen zu ermuntern und Therapie-Erfolge langfristig zu halten. Für einige Spezialisten ist Akzeptanz aber schon immer ein wichtiger Bestandteil der Therapie gewesen. Und manche stellen die Akzeptanz - insbesondere die Akzeptanz von Ungewissheit - sogar in den Mittelpunkt ihrer therapeutischen Arbeit. 

An wen richtet sich diese Artikel-Reihe?

Diese Artikel-Reihe richtet sich an alle, die mehr darüber erfahren wollen, was Akzeptanz bei Zwangsstörungen ganz konkret bedeutet und wie man diese Erkenntnisse für die Überwindung der Zwangsstörung nutzen kann. Dabei ist es egal, wie lange du bereits unter einer Zwangsstörung leidest, auf welches Thema sich dein Zwang bezieht oder in welcher Phase deiner Genesung du bist. 

Besonders hilfreich können die Inhalte für dich sein, wenn du …

  • … das Gefühl hast, noch immer sehr stark in einen Kampf mit dem Zwang verwickelt zu sein.
  • … noch immer versuchst, deine Zwangsgedanken und unangenehmen Emotionen loszuwerden, und verstehen möchtest, warum dir das nicht gelingt und es dir stattdessen immer schlechter geht.
  • … Schwierigkeiten damit hast, abstrakte Zweifel oder weit in der Zukunft liegende Befürchtungen einfach stehen zu lassen, ohne etwas dagegen zu unternehmen.
  • … das Gefühl hast, trotz erfolgreicher Durchführung von Expositionen keine ausreichenden Fortschritte zu machen.
  • … du ganz genau verstehen möchtest, was du akzeptieren musst, um deine Zwangsstörung zu überwinden.
  • … du bereit bist, Ungewissheit und Restrisiko in deinem Leben zu akzeptieren und du mehr darüber erfahren willst, was das genau bedeutet.

Diese Artikel-Reihe ist für dich vermutlich eher ungeeignet, wenn du stark von den Inhalten deines Zwangs überzeugt bist und du weniger bereit bist, dich auf Gedankenexperimente einzulassen, die dein zwanghaftes Denken auf die Probe stellen. In diesem Fall kann es trotzdem Sinn machen, die Inhalte dieser Artikel-Reihe zusammen mit einem Therapeuten zu erarbeiten.

Da wir diese Artikel-Reihe möglichst kompakt halten wollen, verzichten wir auf die Erklärung grundlegender Zusammenhänge bei Zwangsstörungen. Wir setzen das folgende Vorwissen voraus:

  • Die grundlegenden Merkmale einer Zwangsstörung (Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, Befürchtungen, unangenehme Emotionen) und ihr Zusammenspiel
  • Was Zwangshandlungen sind (einschließlich zwanghaftem Grübeln, Vermeidungen und Rückversicherungen) und wieso diese zur Aufrechterhaltung einer Zwangsstörung beitragen
  • Wissen über die thematische Vielfalt von Zwangsstörungen und das Verständnis, warum für alle Subtypen der Zwangsstörung die gleichen Behandlungsprinzipien gelten
  • Grundlagenwissen, wie Zwangsstörungen leitliniengerecht mithilfe einer störungsspezifischen kognitiven Verhaltenstherapie (Expositionen und Reaktionsverhinderung) therapiert werden

Dieses notwendige Grundlagenwissen kannst du dir beispielsweise in unserer Einführungs-Serie zu Zwangsstörungen aneignen.

Was erwartet dich in den kommenden Artikeln?

Auf deutsch findet man bisher kaum Inhalte zur Akzeptanz bei Zwangsstörungen. Im englischsprachigen Raum wird Akzeptanz aber in vielen Fach- und Selbsthilfebüchern aufgegriffen. In dieser Artikel-Reihe wollen wir dieses Wissen nun auch deutschsprachigen Lesern zu Verfügung stellen. Dafür orientieren wir uns insbesondere an den folgenden englischsprachigen Selbsthilfe-Büchern:

Auf die folgenden Themen gehen wie in dieser Artikel-Reihe ganz genau ein:

  • Wieso die Intoleranz von Ungewissheit der Kern einer Zwangsstörung ist
  • Wie du es schaffst, Ungewissheit zu akzeptieren
  • Wieso du deine Zwangsstörung verstärkst, wenn du gegen unangenehme Gedanken und Gefühle kämpfst
  • Wie du es schaffst, einen akzeptierenden Umgang mit unangenehmen Gedanken und Gefühle zu lernen
  • Welche häufigen Akzeptanz-Herausforderungen es für die unterschiedlichen Subtypen der Zwangsstörungen gibt und wie man diese überwindet
  • Eine konkrete Anleitung, wie du deine eigenen Akzeptanz-Herausforderungen aufspürst
  • Häufig gestellte Fragen rund um Akzeptanz bei Zwangsstörungen

Im nächsten Artikel "Intoleranz von Ungewissheit: Der Kern der Zwangsstörung" (Gold-Mitgliedschaft erforderlich) erfährst du zunächst, wieso die Intoleranz von Ungewissheit der Kern einer Zwangsstörung ist - und wieso dir die Akzeptanz von Ungewissheit so schwer fällt.

Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

Sarina Kühne

Sarina ist eine ehemalige Betroffene einer Zwangsstörung und setzt sich engagiert für die Aufklärung über Zwangserkrankungen ein. Unter anderem hat sie auf OCD Land einen Betroffenenbericht geschrieben und war zu Gast im Zwanglos-Podcast. Als Digital Marketing Manager erstellt Sarina für OCD Land informative und hilfreiche Artikel für unseren Experten-Blog, Instagram-Posts und YouTube-Videos. Sie ist außerdem Moderatorin im Community-Forum.