Kinder mit Zwangsstörungen: Ein Ratgeber für Eltern (Teil 1)
Von Sarah Sidi, PD Dr. Susanne Fricke, Dipl.-Päd. Katharina Grieser-Pander und Martin Niebuhr
Beobachtest du bei deinem Kind scheinbar unsinnige und übertriebene Verhaltensweisen? Erzählt es dir von Sorgen und Ängsten, die du nur schwer nachvollziehen kannst? Fühlst du dich oft hilflos oder überfordert, weil euer Familienleben zunehmend darunter leidet? Wenn du dich in diesen Zeilen wiederfindest, dann leidet dein Kind vielleicht an einer Zwangserkrankung. In diesem Artikel erfährst du, wie ihr euch gemeinsam aus dem Zwang befreit.
Die Zwangsstörung gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern. Trotzdem wird sie in den meisten Fällen gar nicht oder nur sehr spät erkannt.
War dein Kind früher vielleicht noch voller Lebensfreude, zieht es sich nun zunehmend zurück. Oder im Gegenteil: Wenn ihr ihm eure Unterstützung verweigert, richtet es seine Wut gegen dich und den Rest der Familie. Das absurd anmutende Verhalten deines Kindes bringt dich an den Rand der Verzweiflung. Frustration, Hilflosigkeit und Stress stehen häufig an der Tagesordnung. Du verstehst dein Kind nicht mehr. Es scheint dir zunehmend zu entgleiten.
Verzweifelt suchst du nach Hilfe, denn schließlich würdest du alles für dein Kind tun. Vielleicht hast du bereits ausgiebig im Internet recherchiert und bist dabei auf widersprüchliche Tipps oder ineffektive “Quick-Fixes” gestoßen. Möglicherweise habt ihr auch schon therapeutische Hilfe in Anspruch genommen - ohne nachhaltige Erfolge. Mit dieser Erfahrung wärt ihr nicht alleine, denn Zwangsstörungen werden auch von Fachpersonen häufig übersehen oder mit unwirksamen Verfahren therapiert. Das ist besonders tragisch, da Zwangsstörungen mit bestimmten wissenschaftlich basierten Verfahren als besonders gut therapierbar gelten.
Mit diesem Artikel wollen wir euch helfen, gemeinsam die Zwangsstörung zu verstehen und zu überwinden: Wir erklären dir, was Zwänge sind und wie du sie erkennst. Du erfährst, wie ihr als Familienmitglieder - ohne es zu wollen - zur Aufrechterhaltung der Zwangserkrankung beitragt. Und zuletzt geben wir dir ganz konkrete Tipps, wie du deinem Kind wirklich helfen kannst.
Ein Hinweis zu diesem Artikel: Dieser Artikel richtet sich in erster Linie an Eltern von Kindern mit einem Alter von bis zu 14 Jahren. Viele Informationen in diesem Artikel können jedoch auch für Eltern älterer Jugendlicher hilfreich sein. Mehr Informationen für Angehörige erwachsener Betroffener findest du in diesem Artikel.
Typische Formen der Zwangsstörung
Genauso unterschiedlich wie jedes Kind ist, sind auch die Zwänge, die sie betreffen. Es gibt aber bestimmte Themen, auf die sich eine Zwangsstörung besonders häufig bezieht:
- Waschzwänge: Dein Kind fürchtet oder ekelt sich vor Krankheitserregern, Schmutz oder Schadstoffen - häufig aus Angst, sich oder andere mit einer Erkrankung anzustecken. Als Reaktion darauf vermeidet es bspw. gewisse als “kontaminiert” erachtete Gegenstände zu berühren, wäscht sich auffallend oft die Hände und andere Körperteile oder verwendet übermäßig viel Seife, Duschgel oder Desinfektionsmittel.
- Kontrollzwänge: Dein Kind hat große Angst davor, dass es durch einen Fehler oder eine Unvorsichtigkeit einen schlimmen Unfall oder einen großen Schaden auslöst. Als Reaktion darauf verbringt es bspw. viel Zeit damit, Türen, Wasserhähne oder Elektrogeräte zu kontrollieren. Andere Kinder überprüfen mehrfach, ob die Hausaufgaben fehlerfrei sind oder der Schulranzen vollständig gepackt ist.
- Ordnungszwänge: Dein Kind fühlt sich dazu gedrängt, Gegenstände in die “richtige” Ordnung, Symmetrie oder Balance zu bringen, weil es sonst unter einem diffusen Unwohlgefühl leidet oder befürchtet, auf magische Weise eine Katastrophe auszulösen. Dein Kind verbringt bspw. viele Stunden damit, Spielzeug, Bücher oder andere Gegenstände nach ganz bestimmten Regeln zu sortieren - und ärgert sich, wenn es dabei gestört oder daran gehindert wird. Manche Kinder ordnen auch gedanklich visuelle Eindrücke wie Buchstaben.
- Magische Zwangsgedanken: Dein Kind leidet darunter, dass durch das Unterlassen einer gewissen Handlung auf magische Weise ein großer Schaden oder eine schlimme Katastrophe ausgelöst wird. Bspw. sorgt sich dein Kind darum, es könnte ihm selbst oder seiner Familie etwas zustoßen, wenn es nicht alle Treppenstufen rückwärts hochläuft, den Satz „Ich bin gesund“ nicht häufig genug wiederholt oder nicht täglich viermal einen grünen Gegenstand berührt – weil die Vier als „gute“ Zahl und Grün als „gute“ Farbe gilt.
- Aggressive Zwangsgedanken: Dein Kind wird von ungewollten gewalttätigen Gedanken und Zweifeln gequält - zum Beispiel der Vorstellung, es könnte ein anderes Kind vor ein Auto stoßen, obwohl es das gar nicht will und in Wirklichkeit sehr friedfertig ist. Als Reaktion darauf vermeidet es bspw. gewisse Personen, versucht, die Gedanken zu unterdrücken, oder fühlt sich dazu gezwungen, sich immer wieder bei anderen rückzuversichern, dass es so etwas niemals machen würde.
- Sexuelle Zwangsgedanken: Dein Kind leidet unter aufdringlichen, wiederkehrenden Gedanken mit sexuellen Inhalten, die es selbst als abstoßend erachtet, oder zweifelt an seiner sexuellen Orientierung (SO-OCD). Als Reaktion darauf vermeidet es bspw. gewisse Personen, grübelt stundenlang über den Inhalt seiner Gedanken oder sucht (bspw. durch wiederholtes Fragen) nach einer eindeutigen Antwort auf seine Zweifel.
- Religiöse Zwangsgedanken: Dein Kind leidet unter beängstigenden Gedanken mit religiösen Inhalten. Es hat bspw. Gedanken, die sich gegen Gott richten, wenn es ein Kruzifix, eine Kirche oder einen Friedhof sieht, und fühlt sich aufgrund starker Schuldgefühle dazu gezwungen, im Geiste das Vaterunser aufzusagen.
- Weitere Formen der Zwangsstörung findest du in diesem Artikel.
Wie du siehst, hat die Zwangsstörung sehr viele Gesichter - aber wie kann es sein, dass es sich dabei um ein und dieselbe Erkrankung handelt?
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Zwangsgedanken und Zwangshandlungen: Der Teufelskreis des Zwangs
Der Ausgangspunkt von einer Zwangssituation ist ein Gedanke, der deinem Kind in den Kopf schießt. Zum Beispiel “Habe ich den Wasserhahn wirklich ausgemacht?”,“Was ist, wenn an dieser Türklinke Corona-Viren waren und diese nun an meinen Händen kleben?" oder “Was wäre, wenn ich diese Person vor den Zug werfe?”. Man bezeichnet diese als Zwangsgedanken. Zwangsgedanken sind wiederkehrende aufdringliche Gedanken, die besorgniserregende Vorstellungen, Befürchtungen, Erinnerungen, Bilder oder Impulse beinhalten.
Gedanken dieser Art haben alle Menschen. Entscheidend ist, dass Betroffene dem Zwangsgedanken eine Bedeutung beimessen und die damit verbundene Ungewissheit nur sehr schwer aushalten können. Je mehr diese Gedanken als etwas Wichtiges oder Gefährliches angesehen werden, desto mehr lösen sie eine Gefühlsreaktion aus: Dein Kind verspürt Angst und Unruhe oder auch Gefühle von Ekel, Scham oder Schuld.
Um seine quälenden Gefühle zu lindern, seine Zwangsgedanken zu beseitigen oder seine Befürchtungen zu verhindern, fühlt sich dein Kind dazu gezwungen, mit sogenannten Zwangshandlungen zu reagieren. Das können sichtbare Handlungen wie übermäßiges Waschen, Kontrollieren oder Ordnen sein, aber auch unsichtbare gedankliche Prozesse wie anhaltendes Grübeln oder der Versuch, Gedanken zu unterdrücken. Zu den Zwangshandlungen gehören ebenfalls Vermeidungsstrategien und das Suchen nach Rückversicherung. Rückversicherungen äußern sich in wiederholten Fragen, die das Ziel haben, Bestätigung oder Beruhigung zu erlangen.
Zwangshandlungen erscheinen somit als die Lösung für die Bewältigung der Zwangsgedanken. Sie führen oft zu einer kurzfristigen Erleichterung der Anspannung, verstärken jedoch langfristig die Zwangssymptome, da dein Kind nicht lernt, auf eine gesunde Art und Weise mit seinen unangenehmen Gefühlen, Ungewissheit und Zweifeln umzugehen. Man spricht daher auch vom Teufelskreis des Zwangs.
Zwänge vs. kindliche Rituale
Bestimmt hast du bei deinem Kind schon mal eine Vorliebe für bestimmte Kleidungsstücke, Farben oder Geschichten beobachtet. So besteht manch ein Kind darauf, immer denselben Schlafanzug zu tragen, weil es sonst nicht einschlafen könne. Andere Kinder wiederum können Stunden unter der Dusche oder in der Badewanne verbringen. Obwohl diese Verhaltensweisen zwanghaft erscheinen mögen, sind sie ein normaler Teil der kindlichen Entwicklung.
Rituale vermitteln Kindern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Zudem fördern sie, dass Kinder neue Verhaltensweisen erlernen. Im zweiten Lebensjahr erreichen diese Rituale ihren Höhepunkt und nehmen mit dem Älterwerden des Kindes allmählich ab. Eine Zwangserkrankung setzt in der Regel erst ein, nachdem diese kindlichen Rituale merklich nachgelassen haben, also frühestens im Zeitraum zwischen dem fünften und achten Lebensjahr. Durchschnittlich erkranken Kinder erstmals im Alter von 10 Jahren.
Anhaltspunkte, die auf eine Zwangsstörung bei deinem Kind hindeuten könnten:
- Dein Kind hat einen Leidensdruck und erlebt seine Zwangsgedanken und -handlungen als quälend.
- Dein Kind ist sich bewusst, dass die Zwangsgedanken und -handlungen sinnlos und übertrieben sind (mit Ausnahme von vielen jüngeren Kindern).
- Die Beschäftigung mit dem Zwang ist exzessiv und nimmt viel Zeit in Anspruch (Faustregel: Mehr als eine Stunde am Tag).
- Du und andere Familienmitglieder werden in Zwangshandlungen einbezogen.
- Die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden leiden unter den Zwängen.
- Die Zwänge beeinträchtigen den Alltag erheblich: Schulaufgaben oder häusliche Pflichten fallen zunehmend schwerer, Freizeitaktivitäten und Hobbys kann nicht mehr wie gewohnt nachgegangen werden.
Bin ich schuld an der Zwangsstörung meines Kindes?
Falls du dich fragst, warum ausgerechnet dein Kind betroffen ist oder du dir Vorwürfe machst, dann möchten wir dir mit Nachdruck sagen, dass Eltern nicht schuld an der Erkrankung ihrer Kinder sind. Oft machen sich Eltern Vorwürfe, dass eine Zwangsstörung aufgrund von Fehlern in der Erziehung entstehen würde. Das ist jedoch durch Studien widerlegt. Vielmehr entstehen Zwänge aus einem Zusammenspiel mehrerer Risikofaktoren.
Eine Zwangsstörung wird häufig durch Stressoren wie zwischenmenschliche Konflikte oder eine Veränderung der Lebensumstände erstmalig ausgelöst, kann aber bestehen bleiben, selbst wenn der ursprüngliche Auslöser nicht mehr präsent ist: Dein Kind hat gelernt, Anspannung und unangenehme Gefühle mithilfe von Zwangshandlungen zu reduzieren. Dieser einmal erlernte Teufelskreis des Zwangs wird durch den Wegfall der auslösenden Faktoren nicht einfach “verlernt”. Unbehandelt verlaufen Zwänge meist chronisch.
Hinweis: Zwänge können in seltenen Fällen als Folge einer Streptokokken-Infektion auftreten, bekannt unter dem Begriff PANDAS ("Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections").
Wie Zwangsstörungen das familiäre Miteinander belasten
In deinem Alltag begegnest du vielleicht immer wieder den gleichen Szenarien: Dein Kind verfällt in nicht endende Zwangshandlungen, zieht sich zurück und ist sichtlich von Ängsten geplagt. Manche betroffene Kinder fallen auch durch aggressives Verhalten auf. Solche Momente stellen auch eine große Belastung für das familiäre Miteinander dar:
- Emotionale Belastung: Für Eltern ist es schmerzhaft, hilflos zusehen zu müssen, wie das eigene Kind unter dessen belastenden Erkrankung leidet. Versuchst du vergebens, dein Kind davon zu überzeugen, dass seine Sorgen irrational sind, bleibt oft ein Gefühl von tiefer Verzweiflung zurück.
- Eingeschränkter Familienalltag: Die Zwänge deines Kindes können den täglichen Ablauf und gemeinsame Unternehmungen massiv beeinträchtigen – sei es durch dessen Vermeidungsverhalten oder durch Zwangshandlungen, die einen geregelten Familienalltag fast unmöglich machen.
- Konflikte und Streitigkeiten: Zum Beispiel zwischen dir und deinem Kind, wenn du versuchst, Logik oder Vernunft anzuwenden; zwischen dir und deinem Partner, falls ihr unterschiedliche Ansichten zum Umgang mit der Zwangsstörung habt; oder auch zwischen dem betroffenen Kind und seinen Geschwistern.
Wie die Familie ein Teil des Zwangssystems wird
Weil es deinem Kind alleine irgendwann nicht mehr gelingt, seine Anspannung durch Zwangshandlungen ausreichend zu reduzieren, fühlt es sich unter Druck und bittet oder drängt die anderen Familienmitglieder regelrecht zur Mithilfe im Rahmen seines Zwangssystems. Für Eltern, die von Natur aus ihren Kindern helfen und sie entlasten möchten, kann es intuitiv richtig erscheinen, auf diese Bitten einzugehen. Allerdings wirst du so ein Teil des Zwangssystems und verstärkst unbeabsichtigt den Zwang.
Beispiele, wie Familienmitglieder Teil des Zwangssystems werden:
- Ihr beteiligt euch an den Zwangshandlungen des Kindes oder übernehmt sie sogar gänzlich, indem ihr z. B. alles in perfekter Ordnung und Sauberkeit haltet, nach bestimmten Regeln kocht, Kontrollrituale durchführt, den Schulranzen auf Vollständigkeit prüft, etc.
- Ihr versichert dem Kind, dass alles in Ordnung / richtig sauber / ausgeschaltet / richtig gezählt ist, etc.
- Ihr wartet stundenlang, bis das Kind seine Zwangshandlungen abgeschlossen hat, oder helft sogar mit, auch wenn ihr deswegen zu spät zur Schule oder zur Arbeit kommt.
- Ihr ermöglicht oder duldet das Vermeidungsverhalten des Kindes und beteiligt euch eventuell sogar daran, indem ihr z. B. bestimmte Dinge nicht anfasst oder nicht aussprecht, das Kinderzimmer nicht betretet, das Haus weniger verlasst, keinen Besuch mehr empfangt etc.
- Ihr schränkt eure Aktivitäten und sozialen Kontakte ein und verzichtet auf eure Freizeit – denn die Zwangsstörung nimmt auch auf euer Leben großen Einfluss.
Wie andere Zwangshandlungen führt auch deine Mithilfe im Zwangssystem zu einer kurzfristigen Beruhigung deines Kindes, verstärkt aber langfristig die Zwangsstörung und die Belastung für euch als Familie.
Nächste Schritte
Im zweiten Teil erfährst du, wie ihr gemeinsam als Famile die Zwangsstörung überwindet.
Über die Autoren
Sarah ist angehende Psychologiestudentin. Ihr wurde schon früh bewusst, wie wenig Verständnis und Akzeptanz es in unserer Gesellschaft für psychische Erkrankungen gibt. Als Praktikantin bei OCD Land möchte sie deshalb zur Entstigmatisierung der Zwangsstörung beitragen und Betroffene bei der Bewältigung der Zwangserkrankung unterstützen. Hierzu hat Sarah an informativen und hilfreichen Artikeln für unseren Experten-Blog gearbeitet und Übungsmaterial für den Mitgliederbereich erstellt.
PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.
Katharina Grieser-Pander ist leitende Psychotherapeutin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Zudem ist sie in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig.
Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.