Zwangsgedanken: Wie kann ich sie loswerden?

Von Dr. Katharina Bey


Betroffene von Zwangsgedanken wünschen sich meist nichts mehr, als ihre quälenden Gedanken, Bilder oder Impulse willentlich stoppen zu können. Sicherlich hast du selbst schon einmal versucht, einen Gedanken mit aller Macht zu unterdrücken – und bist daran gescheitert. Wieso der Wunsch nach Gedankenkontrolle nachvollziehbar, aber wenig erfolgsversprechend ist, und welche alternativen Strategien helfen können, um Zwangsgedanken langfristig loszuwerden, erfährst du in diesem Artikel.

Zwangsgedanken sind unheimlich vielfältig. Sie reichen von der Befürchtung, eine fremde Person vor einen einfahrenden Zug stoßen zu können, über bildliche Vorstellungen von ungewollten sexuellen Handlungen bis hin zu der quälenden Unsicherheit, sich an ein vergangenes Ereignis nicht mehr korrekt erinnern zu können (vgl. Liste mit 100 Zwangsgedanken). Allen Zwangsgedanken ist dabei gemein, dass sie mit intensiven unangenehmen Gefühlen wie Angst, Ekel, Schuld, Scham und Anspannung einhergehen. 

Es ist daher absolut nachvollziehbar, dass du an erster Stelle versuchst, die aufdringlichen Gedanken zu unterdrücken, um dich aus diesem emotionalen Ausnahmezustand zu befreien. Doch warum sind deine Zwangsgedanken für dich so quälend und kaum aushaltbar?

Was Gedanken zu Zwangsgedanken macht

Tatsächlich sind aufdringliche Gedanken an sich überhaupt nichts Ungewöhnliches. In Umfragen berichten ca. 90 % aller Menschen aus der Allgemeinbevölkerung, dass sie schon einmal gedacht haben, sie könnten aus einem plötzlichen Impuls heraus eine andere Person verletzen, selbst von einer hohen Brücke springen oder in einer unpassenden Situation etwas Unangebrachtes sagen. 

Der Unterschied zwischen Menschen mit und ohne Zwangsstörung besteht in der Bewertung dieser Gedanken. Während eine Person, die nicht anfällig für Zwänge ist, dem Gedanken keine besondere Bedeutung beimisst, denken von Zwängen betroffene Personen z. B.:

  • Allein, dass ich diesen Gedanken habe, macht mich zu einem schlechten Menschen.
  • Wenn ich so einen schrecklichen Gedanken denke, könnte ich auch entsprechend handeln.
  • Oder allgemeiner: Wenn ich meine Gedanken nicht kontrollieren kann, kann ich auch meine Handlungen nicht kontrollieren.

Somit führen nicht die aufdringlichen Gedanken selbst, sondern deren Bewertung zu intensiven unangenehmen Gefühlszuständen. Um diese zu reduzieren, versuchen Betroffene nicht nur, ihre Zwangsgedanken aktiv zu unterdrücken, sondern führen zusätzlich Zwangshandlungen unterschiedlichster Form aus. Hierzu zählen sowohl sichtbare Verhaltensweisen wie Kontrollrituale und Rückversicherungsfragen als auch mentale Handlungen wie Grübeln und gedankliches Rekapitulieren. Darüber hinaus meiden viele Betroffene Situationen bewusst, die Zwangsgedanken auslösen oder verstärken könnten. 

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Kurzfristig verschaffen diese Verhaltensweisen zwar Erleichterung, langfristig tragen sie jedoch zur Aufrechterhaltung der Zwangsstörung bei und führen dazu, dass das Vertrauen in die eigene Kompetenz und Urteilsfähigkeit immer weiter sinkt. Dies verstärkt wiederum die Bewertung der Zwangsgedanken als Bedrohung für das eigene Ich.

Zudem ist der Versuch, gedankliche Inhalte zu unterdrücken, äußerst frustrierend, da er aufgrund der natürlichen Beschaffenheit des Gehirns von vornherein zum Scheitern verurteilt ist: Negationen, also Verneinungen, können von unserem Gehirn nur schwer verarbeitet werden – insbesondere in emotionalen Stresssituationen. Entsprechend führt jeder Versuch, nicht an einen bestimmten Gedanken zu denken, gerade dazu, dass ebendieser Gedanke ins Zentrum des Bewusstseins gerückt wird. 

Hier zeigt sich wieder einmal die paradoxe Wirkweise des Zwangs: Entgegen der eigentlichen Absicht der Betroffenen, die Kontrolle zurückzugewinnen, verstärkt der Versuch, einen Gedanken aktiv zu unterdrücken, das Kontrollverlusterleben, da dies schlicht unmöglich ist. Entsprechend wächst der Drang, endlich alle Zweifel auflösen zu wollen, was weitere Zwangshandlungen befeuert und langfristig dazu führt, dass die Belastung durch die Zwänge immer größer wird.

In ruhigen Momenten kannst du diese Zusammenhänge logisch nachvollziehen. In akuten Zwangssituationen wird dein Gehirn jedoch so stark von Gefühlen geflutet, dass rationale Argumente kaum greifen. Um dir in diesen Situationen bewusst zu machen, dass jedweder Versuch, aufdringliche Gedanken kontrollieren oder ihren Inhalt durch Grübeln widerlegen zu wollen, keinen Erfolg verspricht, sondern im Gegenteil dein Kontrollverlusterleben nur noch weiter befeuert, können bildliche Vorstellungen wie die nachfolgende Analogie hilfreich sein.

Zwangsgedanken stoppen: Eine Analogie

Das menschliche Gehirn besitzt die natürliche Eigenschaft, unablässig spontane Gedanken zu produzieren. Unser Bewusstsein kann man sich somit wie eine Straße vorstellen, die täglich von tausenden gedanklichen Autos befahren wird. Die meisten Gedanken kommen in Form unauffälliger Mittelklassewägen daher. Hin und wieder mischt sich ein farbenfrohes Cabrio darunter, manchmal sogar ein Karnevalswagen. Andere Gedanken, wie z. B. die plötzliche Befürchtung, dass man das eigene Kind mit einem Messer erstechen könnte, wirken hingegen wie apokalyptische Gefährte aus der Filmreihe Mad Max (falls du die Filmreihe nicht kennst: Die Autos sehen aus wie bizarre, furchteinflößende Maschinen aus einer düsteren Endzeit).

Menschen, die anfällig für eine Zwangsstörung sind, reagieren auf derartige Gedanken besonders sensibel. Ihr Gehirn verfügt in unserem Bild über eine wachsame Polizeistaffel, die aufgrund genetischer und gelernter Faktoren davon ausgeht, dass die schwarzen Mad-Max-Wägen eine Gefahr darstellen. Entsprechend werden diese Autos bei jeder Verkehrskontrolle angehalten und der gedankliche Insasse ausgiebig verhört: „Wieso habe ich solche schrecklichen Gedanken? Könnte es wirklich passieren, dass ich meinem Kind aus einem plötzlichen Impuls heraus etwas antue? Wie kann ich mir sicher sein, dass ich keine Psychopathin bin? Was spricht dafür, was dagegen?“ (Bewertung als Bedrohung plus zwanghaftes Grübeln).

Durch dieses Verhör wird das Auto an der Weiterfahrt gehindert. Um jedes noch so geringe Risiko einzudämmen, das das Auto darstellen könnte, leiten die Verkehrskontrolleure weitere Sicherheitsmaßnahmen an Außenstellen ein (z. B. in Form von zwanghaften Rückversicherungen beim Partner). Erst dann darf das Auto weiterfahren. Da es nun im polizeilichen Register erfasst ist, werden die Kontrolleure es bei seiner nächsten Fahrt noch schneller wahrnehmen, anhalten und erneut verhören. Sicher ist sicher!

Wie dieses Bild zeigt, kannst du deine Zwangsgedanken also tatsächlich stoppen – mit dem unerwünschten (aber eigentlich logischen) Effekt, dass sie genau dort bleiben, wo du sie gestoppt hast: in deinem Bewusstsein. Die einzige Möglichkeit, sie langfristig loszuwerden, besteht darin, sie weiterziehen zu lassen. Aber wie kann das gelingen?

Zwangsgedanken langfristig loszuwerden: Was wirklich hilft

Mach dir bewusst, dass nicht die aufdringlichen Gedanken der Kern des Problems sind, sondern dein Umgang mit ihnen. Entsprechend solltest du üben, zwischen plötzlich einschießenden Zwangsgedanken, deren Bewertung und mentalen Neutralisierungen (z. B. Grübeln) zu unterscheiden. Zwar kannst du deine Zwangsgedanken nicht willentlich beeinflussen, deine Bewertungen und Neutralisierungen hingegen schon. 

Den Umgang mit deinen Zwangsgedanken aktiv zu verändern kann in zweierlei Hinsicht herausfordernd sein: Erstens ist es für dein Gehirn immer schwieriger, neue Verhaltensweisen umzusetzen, als bei einer mitunter langjährig eingeübten Strategie zu bleiben. Zweitens bedarf es deiner Bereitschaft, dich allen aufkommenden unangenehmen Gefühlen bewusst zu stellen. Wenn du diese Herausforderungen annimmst, sind die Chancen auf Besserung deiner Zwänge dafür wirklich hoch.

Bezogen auf unsere Analogie bedeutet das, deine inneren Verkehrskontrolleure anzuleiten, plötzlich über die Straße donnernde Mad-Max-Gefährte ab sofort nicht mehr anzuhalten und ausgiebig zu verhören, sondern sie im Vorbeifahren lediglich als Bestandteile des normalen Verkehrsflusses zu registrieren: „Ah, da ist mal wieder so ein Mad-Max-Wagen. Er sieht zwar gefährlich aus, ist aber harmlos und erfordert keine weitere Reaktion.“ 

Dass dir dieser neue Umgang zunächst schwerfällt und du dich immer wieder dabei ertappst, doch in Grübelschleifen abzudriften, ist ganz normal. Mach dir deshalb keine Vorwürfe und versuch, dich auf deine eigentliche Absicht zurückzubesinnen: Beobachten statt kontrollieren. Je mehr du übst, desto leichter wird es und desto seltener werden langfristig deine Zwangsgedanken.

Weitere Ressourcen

Wenn du dich mit deinem Zwang überfordert fühlst und Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, möchten wir dir außerdem dringend empfehlen, einen auf Zwangsstörungen spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen. Da es nicht leicht ist, einen solchen Spezialisten zu finden, geben wir dir in diesem Artikel konkrete Tipps.

Über die Autoren
Dr. Katharina Bey

Dr. Katharina Bey ist Psychologische Psychotherapeutin und Leiterin der Spezialambulanz für Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Bonn. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit forscht sie u. a. zu den genetischen Grundlagen der Zwangsstörung. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und des Fachbuchs Zwangsstörungen - Ein evidenzbasiertes Behandlungsmanual*.