Zwangserkrankungen und Tabuthemen im Journalismus (Teil 2)

Von Alicia Schweizer und Burkhard Ciupka-Schön

Alte Schreibmaschine auf einem hölzernen Tisch.

Abstrakte Aspekte von psychischen Erkrankungen zeigen

Betroffene, insbesondere Betroffene von OCD, sprechen oft davon, dass viele Themen rund um psychische Erkrankungen öffentlich noch tabuisiert sind. Was würden Sie zu diesen Tabuthemen zählen?

Ciupka-Schön: Ich denke, dass das Tabu selbst ein sehr starkes Zwangsthema ist. Medien, gerade Fernsehmedien, berichten am liebsten über Themen, die man in bewegten Bildern darstellen kann. Ich stelle fest, dass ein Betroffener den Zwang ganz anders darstellt als Journalisten, die nicht selbst betroffen sind. Nicht-betroffene Journalisten oder auch Künstler stellen bei Zwängen meistens irgendwelche Hände dar. Das sind dann entweder die waschenden Hände oder die kontrollierenden Hände. Ein Nicht-Eingeweihter, der eine Berichterstattung in dieser Form sieht, könnte den Eindruck bekommen, dass der Zwang irgendwie in den Händen steckt. Nach meiner Beobachtung ist es dagegen aber eher so, dass sich dreiviertel der Zwänge im Kopf abspielen. Und das kann man in bewegten Bildern kaum darstellen.

"Das Tabu an sich gehört zum Zwang"

Glauben Sie, dass Zwänge mit sichtbaren Zwangshandlungen, wie Waschzwänge, medial mehr repräsentiert sind als mentale Zwänge, die sich auf gewalttätige oder sexuelle Inhalte beziehen? Weil sie eben nicht solche Tabuthemen beinhalten?

Ciupka-Schön: Ja, das kann ich mir vorstellen. Das Tabu, also das Nicht-Zeigen-Wollen an sich, gehört zum Zwang. Waschen und etwas kontrollieren zu wollen, ist insofern vielleicht etwas leichter für Betroffene, da es etwas abbildet, das wir als Tugend verstehen. Hygiene, Sauberkeit, Ordnung, Sparsamkeit oder Frömmigkeit bei religiösen Zwängen - das sind alles Dinge, die Ziel einer guten Erziehung waren. Dass daraus etwas Schlechtes werden könnte, ahnt keiner.

Wenn jemand sagt „Ich wasche“ dann sagen die meisten anderen Menschen, wenn sie das nicht weiter ausführt und kein genaues Bild vom exzessiven Ausmaß dieses Waschens bekommen: „Ja, der wäscht viel, das ist ein sauberer Mensch. Das ist doch 'ne tolle Sache“. Das ist, glaube ich, bei Themen wie sexuelle oder aggressive Zwangsgedanken ein bisschen anders. Das löst häufig bei Leuten, die das gesagt bekommen, schnell die Idee aus, dass wenn jemand aggressive Zwangsgedanken hat, er diese am Ende wirklich umsetzen könnte. Deswegen ist die Scheu hier besonders groß.

Vielleicht ist es für Nicht-Betroffene auch besser nachvollziehbar, weshalb sich jemand die Hände wäscht, als wenn jemand es vermeidet, an einem Küchenmesser vorbeizugehen?

Ciupka-Schön: Ja, zumindest glaubt ein Zuschauer oder Zuhörer, er hätte das alles verstanden und er glaubt aggressive oder sexuelle Zwangsgedanken wären besonders unverständlich, weil das vielleicht am wenigsten mit dem eigenen Erleben am Hut hat. In Wirklichkeit gehört aber ein Verständnisschritt mehr dazu.

Eigenstigma überwinden - Wenn Betroffene sich an die Öffentlichkeit wenden

Was glauben Sie, wie wirkt sich das auf Betroffene von Zwangserkrankungen aus, dass diese Art von Zwangsthemen medial wenig repräsentiert sind? Wie wirkt sich das auf das Stigma und vor allem auch das Eigen-Stigma aus?

Ciupka-Schön: Ich habe gerade heute Morgen mit Prof. Rüsch gesprochen, der Stigma als Forschungsgebiet hat. Wir wollen tatsächlich eine Masterarbeit dazu haben, weil es bislang wohl nur wenig gesichertes wissenschaftliches Material dazu gibt, wie Stigmatisierung bei Zwangserkrankten funktioniert. Meine klinische Beobachtung ist, dass die Stigmatisierung eine von Betroffenen eher selbst gemacht Sache ist. Das heißt Betroffene einer Zwangsstörung glauben, dass sie von anderen Leuten sehr stark wegen ihrer Symptomatik verurteilt werden, das ist aber nicht meine Einschätzung. Ich glaube, dass Zwangsbetroffene in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit viel positiver sind als sie das von sich selbst glauben. Das ist meine Einschätzung, aber das wird erstmal noch zu prüfen sein, ob diese Hypothese stimmt.

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"Wenn ich mich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und niemandem über meine besonderen Dinge etwas erzähle, dann kann ich auch nie eine gegenteilige Erfahrung machen."

Ciupka-Schön: Natürlich sollte man jede Stigmatisierung, die von außen kommt, reduzieren. Als Therapeut arbeite ich aber eher an den Themen, wo Betroffene selbst etwas dazu beitragen können, sich nicht in ihrem Selbstwert zu schmälern. Das passiert eben gerade durch das Versteckspiel, das sie betreiben. Wenn ich mich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und niemandem über meine besonderen Dinge etwas erzähle, dann kann ich auch nie eine gegenteilige Erfahrung machen. Die gleichen Erfahrungen machen auch Psychotherapeuten. Die führen meist auch ein sehr zurückgezogenes Leben. Zum einen ist das gesetzlich auch so festgelegt, dass wir eine Schweigepflicht haben. Ich bin aber durchaus dafür, dass Therapeuten ihr therapeutisches Handeln einer großen Öffentlichkeit zugänglich machen sollten, weil das auch Hemmschwellen nehmen würde, sich frühzeitig therapeutische Hilfe zu suchen. Je früher man gegen unterschiedliche Probleme vorgeht, desto besser ist die Prognose.

Das Versteckspiel beenden

Glauben Sie, dass es deswegen sinnvoll wäre, wenn Betroffene sich mehr an die Öffentlichkeit wenden würden und aktiver nach außen hin über ihre Erkrankung sprechen würden?

Ciupka-Schön: Ja, ganz genau, das ist 30 Jahre meiner beruflichen Arbeit gewesen. Wenn ich Betroffene in Talkshows begleitet habe, konnten sie sich natürlich auch verfremden lassen. Sie haben zum Beispiel eine Perücke oder eine Brille aufgesetzt bekommen, damit man sie nicht erkennen konnte. Mir war es aber natürlich immer am liebsten, wenn ich Betroffene hatte, die eine sympathische Erscheinung hatten, gut sprechen konnten, ihre Zwangsstörung auch offen dargestellt haben und sich mit Klarnamen und ohne Verfremdung in einer Talkshow präsentiert haben. Das hat anderen Betroffenen auch immer Mut gemacht und ihnen letztendlich das Gefühl gegeben, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind.

Auch dieses Selbstverständnis, dass an ihrer Störung etwas Unheimliches oder etwas Abwertend-wertes ist, konnte sich dadurch, dass eine breite Öffentlichkeit davon erstmals erfahren hat und es auch spürbar war, dass diese erwartete Ablehnung gar nicht aufgetreten ist, lösen. Das ist eine Beobachtung, die ich immer wieder mache: Die Betroffenen, die sich outen, stellen hinterher fest, dass diese Störung viel verbreiteter ist, als sie das vorher geahnt haben. Das Versteckspiel wird eben von allen geteilt und meiner Ansicht nach gilt es, dieses Tabu zu durchbrechen.

Klicke HIER, um Teil 1 des Interviews zu lesen. 

Klicke HIER, um Teil 3 des Interviews zu lesen.

Über die Autoren
Alicia Schweizer

Alicia Schweizer ist selbst OCD-Betroffene und setzt sich dafür ein, psychische Erkrankungen öffentlich zu entstigmatisieren. Im Zuge ihres Masterarbeitsprojekts hat sie sich mit der medialen Darstellung psychischer Erkrankungen befasst. Dafür hat sie mit Burkhard Ciupka-Schön auch darüber gesprochen, wie journalistische Medien dazu beitragen können, OCD-Betroffene aus ihrem Schattendasein herauszuholen.

Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.