Homosexuelle Zwangsgedanken / Sexual Orientation OCD

Von Dr. Katharina Bey und Martin Niebuhr


Empfindest du in manchen Momenten Unsicherheit bzgl. deiner eigenen sexuellen Orientierung, obwohl du eigentlich ganz genau weißt, dass du hetero- bzw. homosexuell bist? Überprüfst du deine körperlichen Reaktionen darauf, ob du bestimmte Personen attraktiv oder sexuell anziehend findest? Oder versuchst du dir in deinem sozialen Umfeld regelmäßig die Bestätigung einzuholen, dass du dir bzgl. deiner sexuellen Orientierung absolut sicher sein kannst? Dann könnte es sein, dass du unter einer Form der Zwangsstörung leidest, die im englischsprachigen Raum als Sexual Orientation OCD, kurz SO-OCD, bezeichnet wird.

Jeder kennt das: Die kurze Bemerkung, dass einer Freundin ihr neues Shirt wirklich gut steht. Oder der beiläufige Gedanke beim Kinoabend, dass der Hauptcharakter echt schöne Augen hat. So weit, so normal. 

Menschen, die für Zwangsstörungen anfällig sind, können diese Gedanken jedoch schlagartig verunsichern: „Warum habe ich das gerade gedacht? Könnte es vielleicht sein, dass ich homosexuell bin, wenn ich eine gleichgeschlechtliche Person als gutaussehend beurteile oder sogar attraktiv finde? Eigentlich habe ich mich immer durch und durch hetero gefühlt… aber es könnte doch sein, dass ich bisher einfach nicht genau genug in mich hineingehört habe. Vielleicht bin ich in meinem tiefsten Innern homosexuell und habe es bisher einfach nicht bemerkt?“ 

Die plötzliche Verunsicherung treibt den Puls in die Höhe, führt zu Anspannung, Angst und manchmal gar zu moralischem Ekel, was von den betroffenen Personen als kaum aushaltbar und so unangenehm empfunden wird, dass sie dieses Gefühl durch verschiedenste sichtbare und unsichtbare Strategien zu neutralisieren versuchen – der typische Mechanismus einer Zwangsstörung. Mit der Zeit kommt oft ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten hinzu, das z. B. die Nutzung von Sammelumkleiden, gemeinsames Duschen nach dem Sport oder das Schauen von Serien mit homosexuellen Charakteren betreffen kann.

SO-OCD ist eine Unterform der sexuellen Zwangsgedanken und tritt oft mit anderen sexualitätsbezogenen Zwängen gemeinsam auf oder geht in diese über. Daher empfehlen wir dir, zunächst unsere allgemeine Artikelreihe zu sexuellen Zwangsgedanken zu lesen, die wesentliche Informationen zu Merkmalen, Entstehungs- und aufrechterhaltenden Faktoren sowie Behandlungsmöglichkeiten vermittelt. Im vorliegenden Artikel findest du vertiefende Inhalte mit dem Fokus auf SO-OCD.

Hinweis: Der Begriff “Homosexuelle Zwangsgedanken” (engl.: Homosexual Obsessive Compulsive Disorder / HOCD) wird immer mehr durch den Begriff “Sexual Orientation OCD” abgelöst, um Menschen jeglicher sexueller Orientierung zu berücksichtigen (bspw. eine homosexuelle Frau, die Zwangsgedanken hat, heterosexuell zu sein). 

Symptome von Sexual Orientation OCD

Typische Zwangsgedanken bei Sexual Orientation OCD

Bei SO-OCD handelt es sich um eine Unterform innerhalb einer Unterform der Zwangsstörung. Daher ist die konkrete Ausprägung von einschlägigen Zwangsgedanken relativ klar umgrenzt. Zu diesen Zwangsgedanken, Impulsen und Vorstellungen zählen u. a.:

  • Der Gedanke, dass du im tiefsten Inneren vielleicht doch homosexuell sein könntest (obwohl du eigentlich heterosexuell bist)
  • Der Gedanke daran, dass du im tiefsten Inneren vielleicht doch heterosexuell sein könntest (obwohl du eigentlich homo/bi/pansexuell bist oder dich einer anderen sexuellen Orientierung zugehörig fühlst)
  • Die bildliche Vorstellung davon, sexuelle Handlungen mit einer Person auszuführen, die nicht deiner eigentlichen sexuellen Orientierung entspricht
  • Der wahrgenommene Impuls, eine Person, die nicht deiner eigentlichen sexuellen Orientierung entspricht, zu küssen oder in sexualisierter Weise zu berühren

Typische Zwangshandlungen bei Sexual Orientation OCD

Betroffene von SO-OCD unternehmen verschiedenste Anstrengungen, um die mit den Zwangsgedanken einhergehenden unangenehmen Gefühle zumindest kurzzeitig zu beruhigen. Dabei kommen insbesondere Strategien zum Einsatz, die von außen nicht direkt zu beobachten sind, wie z. B. das Überprüfen der eigenen sexuellen Erregung oder zwanghaftes Grübeln. Da du dieses Verhalten aktiv einsetzt, um Unruhe und Zweifel zu reduzieren, wird es den Zwangshandlungen zugeordnet, auch wenn es auf mentaler Ebene geschieht. 

Darüber hinaus können auch sichtbare Zwangshandlungen auftreten, wie z. B. ausgiebige Recherchen im Internet (Google: „Woran erkennt man, dass man schwul ist?“) oder Rückversicherungen bei deiner Beziehungsperson („Habe ich mich dir gegenüber jemals so verhalten, dass ich schwul/lesbisch gewirkt habe?“). Wie eingangs beschrieben, spielt außerdem Vermeidungsverhalten eine große Rolle.

Einige Beispiele für typische Zwangshandlungen, Rückversicherungs- und Vermeidungsverhalten bei SO-OCD sind:

  • Du recherchierst exzessiv im Internet, woran man erkennt, dass man homo- oder heterosexuell ist.
  • Du schaust dir Bilder, Filme oder pornographisches Material von homo-/heterosexuellen Personen an und achtest dabei ganz genau darauf, ob du dich sexuell erregt fühlst.
  • Wenn du im Alltag auf objektiv gut aussehende, gleich- bzw. gegengeschlechtliche Personen triffst, richtest du deine Aufmerksamkeit nach innen, um zu überprüfen, ob du die jeweilige Person attraktiv oder sexuell erregend findest.
  • Du stellst dir sexuelle Handlungen mit gleich- bzw. gegengeschlechtliche Personen vor und überprüfst dabei dein sexuelles Erregungsniveau.
  • Du spielst gedanklich Situationen aus der Vergangenheit immer wieder durch, um Hinweise auf deine wahre sexuelle Orientierung zu finden.
  • Du fragst deine nahen Angehörigen immer wieder, ob sie den Eindruck haben, dass du schwul/lesbisch/hetero wirkst.
  • Du vermeidest Situationen, die deine Zwangsgedanken verstärken, wie z. B. Saunagänge oder gemeinsames Duschen nach dem Sport.

Darüber hinaus kann es zu sogenannten Meta-Zwängen (d. h. Zwängen über Zwänge) kommen, bei denen du die Diagnose selbst infrage stellst: „Was, wenn ich gar nicht SO-OCD habe, sondern meine Zweifel wirklich berechtigt sind? Ganz genau wissen kann man das ja schließlich nicht…“ So kann es passieren, dass du dich in immer komplexere Zwangsrituale und Grübelschleifen verstrickst, um deine Unsicherheit zu reduzieren.

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Woran erkennst du, ob es wirklich Sexual Orientation OCD ist?

Eine zeitweilige Verunsicherung bzgl. der eigenen sexuellen Orientierung und Identität kann, insbesondere während der Pubertät, vollkommen normal sein. Die damit einhergehenden Gedanken und Zweifel werden in diesem Fall als ich-synton, d. h. zugehörig zur eigenen Persönlichkeit, empfunden. 

Ganz anders sieht es hingegen bei Zwangsgedanken im Rahmen von SO-OCD aus: Die Vorstellung, eine andere sexuelle Orientierung als die zu haben, von der du dein Leben lang ausgegangen bist, erscheint dir völlig wesensfremd, unverständlich und bedrohlich. Es handelt sich folglich um ich-dystone Gedanken. 

Zwar gibt es auch Menschen, die ihre reale sexuelle Orientierung (z. B. aufgrund gesellschaftlicher Heteronormativität) als unstimmig empfinden, wie z. B. ein homosexueller Mann, der sein Empfinden gegenüber anderen Männern nicht wahrhaben möchte und seine Sexualität nicht auslebt. Bei Betroffenen von SO-OCD ist das anders: Sie werden von einer quälenden Unsicherheit und Zweifeln diesbezüglich geplagt. 

Menschen mit SO-OCD kennen dabei sowohl rationale Momente, in denen sie ganz klar über sich sagen können, dass sie z. B. heterosexuell sind, als auch Situationen, in denen der Zwang ihr Gehirn regelrecht gekapert zu haben scheint und sie vollkommen verunsichert sind. Die plötzlich einschießenden SO-bezogenen Zwangsgedanken werden als sehr aufdringlich erlebt und gehen mit unangenehmen Gefühlen, Unterdrückungsversuchen sowie charakteristischen Zwangshandlungen einher, was sie zusätzlich von berechtigten Zweifeln hinsichtlich der eigenen sexuellen Orientierung unterscheidet.

Wie Fehlinterpretationen zur Aufrechterhaltung von Sexual Orientation OCD beitragen

Den strengen Sicherheitsanforderungen des Zwangs genügt jedoch keines dieser Unterscheidungsmerkmale und die wichtigste Antwort auf die Frage „Woran erkenne ich meine sexuelle Orientierung?“ ist und bleibt: „Am Gefühl. Ob du auf Männer oder auf Frauen stehst, spürst du einfach.“ 

Und genau das ist der Knackpunkt. Menschen, die von Zwängen betroffen sind, haben den intuitiven Zugang zur hinweisgebenden Funktion von Gefühlen verloren. Stattdessen werden Gefühle und subjektive Empfindungen unter dem Einfluss des Zwangs zur sogenannten emotionalen Beweisführung instrumentalisiert: „Wenn ich in einer Situation große Angst/starken Ekel/ein quälendes Unvollständigkeitsgefühl empfinde, ist die Situation wirklich bedrohlich/kritisch/relevant und erfordert ein entsprechendes Handeln meinerseits.“ 

Konkret auf SO-OCD bezogen argumentiert der Zwang: „Wenn ich beim Betrachten einer gleichgeschlechtlichen Person ein bestimmtes Gefühl (z. B. ein Kribbeln) in meinem Körper wahrnehme, ist das ein Hinweis darauf, dass ich homosexuell bin.“ Zwar ist es per se richtig, dass Gefühle wichtige Hinweise darüber liefern können, ob ein zugrundeliegendes Bedürfnis erfüllt ist oder nicht – sie sind jedoch keinesfalls eindeutige Beweise. 

Tatsächlich liegen manche Gefühle, wie z. B. Angst und sexuelle Erregung, physiologisch so nah beieinander, dass es zu Fehlinterpretationen kommen kann, wie auch ein Klassiker der psychologischen Forschung, das Hängebrückenexperiment von Dutton und Arron (1974), eindrücklich zeigt:

Im Rahmen einer Studie wurden Männer, die gerade eine lange, schmale, schwankende Hängebrücke im kanadischen Capilano Canyon überquert hatten, von einer attraktiven jungen Frau um Teilnahme an einem kurzen psychologischen Test gebeten. Für spätere Rückfragen gab sie den Männern ihre Telefonnummer. Dasselbe Testprozedere wurde mit einer zweiten Gruppe von Männern durchgeführt, die zuvor eine stabile Brücke überquert hatten. Männer der ersten Gruppe riefen die junge attraktive Frau danach signifikant öfter an und schrieben im Test häufiger über sexuelle Themen als Männer der zweiten Gruppe. Sie hatten also die körperlichen Angstsymptome aufgrund des Überquerens der gefährlichen Brücke als sexuelle Anziehung interpretiert. 

Solche Fehlattributionen der physiologischen Erregung konnten in zahlreichen Studien wiederholt nachgewiesen werden. Auch im Kontext von SO-OCD interpretieren die Betroffenen ihre Angstsymptome in zwangsbezogenen Situationen fälschlicherweise als sexuelle Erregung, was ihre Zweifel und den Drang, Zwangshandlungen auszuführen, wiederum weiter verstärkt.

Was sagt dir deine Erregung über deine sexuelle Orientierung?

Doch was ist, wenn du nicht nur vermeintliche Schmetterlinge im Bauch, sondern eine echte Regung deiner Genitalien verspürst? Das wäre doch ein wirklich klarer Beweis für deine sexuellen Wünsche und Vorlieben, oder?

Tatsächlich ist auch das ein Fehlschluss, der maßgeblich zur Aufrechterhaltung der SO-bezogenen Zwangssymptomatik beiträgt. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff Groinal Response (engl. für Leistenreaktion) bezeichnet jede Veränderung oder Reaktion in deiner Leistengegend nach einem aufdringlichen Gedanken oder einer zwangsbezogenen Vorstellung. Das kann z. B. ein Kribbeln, eine Schwellung oder eine kleine Bewegung im Genitalbereich sein. 

Aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierung und mangelnder Aufklärung gehen die meisten Menschen davon aus, dass solche Wahrnehmungen einen eindeutigen Indikator für die sexuelle Präferenz darstellen. Zahlreiche Studien widerlegen diese gängige Annahme jedoch. 

Tatsächlich reagieren unsere Genitalien oft ausschließlich auf das, was sexuell in irgendeiner Weise relevant ist, und nicht auf das, was wir eigentlich sexuell anziehend finden. Dies zeigt sich eindrücklich darin, dass manche Vergewaltigungsopfer trotz heftigem Widerstand und größter Abscheu einen Orgasmus erleben, was starke Scham- und Schuldgefühlen auslösen kann. Eine Reaktion der Genitalien bedeutet also weder Lust noch Wohlbefinden; sie ist schlichtweg eine automatische und eigenständige Reaktion des Körpers. In der wissenschaftlichen Literatur verwendet man dafür den Fachterminus Arousal Non-Concordance, d. h. Nicht-Übereinstimmung der Erregung (mehr dazu in diesem Ted-Talk und Buch* von Emily Nagoski). 

Während die meisten Menschen alltägliche Groinal Responses kaum wahrnehmen, reagieren Personen mit SO-OCD selbst auf kleinste Veränderungen in ihrem Genitalbereich hochsensibel. Mit der Zeit kommt es zu einem Teufelskreis aus Aufmerksamkeitslenkung, Wahrnehmung von vermeintlicher Erregung und Fehlinterpretationen. Dabei kann allein die übermäßige Aufmerksamkeit auf den Genitalbereich schon eine Groinal Response hervorrufen. Jedes Mal, wenn du zwanghaft überprüfst, ob du erregt bist, provozierst du also regelrecht eine physiologische Reaktion, die dich weiter in die Verunsicherung hineintreibt, statt dir die erhoffte Beruhigung zu verschaffen. 

Warum bekommst du deine Zwangsgedanken immer häufiger?

Durch die hohe emotionale Bedeutsamkeit und die Ausbildung assoziativer Verknüpfungen tritt in ähnlichen Situationen immer wieder derselbe Zwangsgedanke auf: „Mittlerweile schießt mir jedes Mal, wenn mir mein schwuler Kollege auf dem Flur begegnet, der Gedanke in der Kopf, dass ich auf ihn stehen könnte, und ich sehe Bilder vor meinem inneren Auge, wie ich ihn küsse. Das kann doch nicht normal sein! Wenn ich das immer wieder denke, muss es doch irgendeine Bedeutung haben…“ 

Die Häufung der Zwangsgedanken wird von den Betroffenen als potenzieller Beweis für eine abweichende sexuelle Orientierung fehlinterpretiert, obwohl es sich tatsächlich um einen vollkommen normalen psychologischen Mechanismus handelt. 

Um das zu verdeutlichen, greife ich (Katharina Bey) gerne auf ein persönliches Beispiel zurück: Es gibt in meinem erweiterten Bekanntenkreis eine seriöse, kompetente Frau namens Joana. Jedes Mal, wenn in irgendeinem Zusammenhang dieser Name fällt, komplettiert mein Gehirn ihn mit den Zeilen eines bekannten Ballermann-Hits. Es ist absolut nichts dagegen auszurichten. Je mehr ich versuche, den unpassenden Gedanken zu unterdrücken (Joana ist wie gesagt eine ziemlich seriöse Person), desto präsenter wird er. Vielleicht geht es dir gerade ähnlich, wenn du den Song kennst. Dennoch ist dir in diesem Fall bewusst, dass der assoziierte aufdringliche Gedanke trotz seines eindeutig sexuellen Inhalts rein gar nichts über deine sexuelle Präferenz aussagt. Er spiegelt lediglich eine gelernte Verknüpfung in deinem Gehirn wider.

Wieso zweifelst du ausgerechnet an deiner sexuellen Orientierung? 

Vereinzelt berichten Betroffene, dass ihnen in ihrer Herkunftsfamilie oder von anderen biographisch bedeutsamen Personen vermittelt wurde, dass Homosexualität falsch, unmoralisch oder verwerflich ist, weshalb der Zwang in diesem Thema einen geeigneten Angriffspunkt findet. Das ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel. 

Tatsächlich ist es im Unterschied zu anderen (z. B. pädophilen oder aggressiven) Zwangsgedanken so, dass viele Menschen, die von SO-OCD betroffen sind, es per se gar nicht so schlimm fänden, homosexuell zu sein. Die der SO-OCD zugrundeliegende Angst besteht in diesen Fällen vielmehr in einer allgemeinen, quälenden Unsicherheit bzgl. der eigenen Identität: „Wenn ich mir eines so wesentlichen Teils meiner Identität wie der sexuellen Orientierung nicht zu 100 % sicher sein kann, auf welche Eigenschaften meines Wesens kann ich mich dann überhaupt noch verlassen?“ 

Und wo Ungewissheit herrscht, sind Katastrophisierungen oft nicht weit: „Wenn ich tatsächlich homosexuell wäre, würde das bedeuten, dass ich mein gesamtes bisheriges Leben in einer Lüge verbracht hätte! Ich müsste meiner Partnerin das Herz brechen, mich gegenüber meinen Eltern outen, meinen Kleidungsstil und vielleicht sogar meinen Freundeskreis wechseln!“ Diese bedrohlichen Bewertungen lösen in Kombination mit der fehlenden Unsicherheitstoleranz zusätzliche Anspannung, Angst oder starke Unruhe aus, welche die Betroffenen schließlich ebenso durch Zwangshandlungen zu reduzieren versuchen.

Ein häufiges Kernthema, das SO-OCD also zugrunde liegen kann, ist die existenzielle Angst vor sozialem Ausschluss. Selbst wenn die eigene Einstellung gegenüber Homosexualität offen und positiv ist, haben die meisten von uns – im persönlichen Umfeld oder auch durch die Medien – prägende Erfahrungen mit Hass und Anfeindungen gegenüber Menschen gemacht, die einer sexuellen Minderheit angehören. 

Trotz weltweit wachsender Toleranz wird Homosexualität in über 60 Ländern kriminalisiert oder steht sogar unter Todesstrafe. Auch wenn wir dies im Alltag selten reflektieren, haben wir implizit gelernt, dass homosexuelle Menschen eher ausgegrenzt und stigmatisiert werden als Personen, die der sexuellen Norm entsprechen. Auf dieses potenzielle Risiko reagieren Menschen, die für Zwangsstörungen anfällig sind, besonders sensibel.

Sexual Orientation OCD in der LGBTQIA+-Community

Auch homo-, bi- oder pansexuelle Personen können Zwangsgedanken bzgl. ihrer sexuellen Orientierung entwickeln – oftmals genau dann, wenn sie endlich das Gefühl haben, in der queeren Community „angekommen“ zu sein, dort verstanden zu werden und einen sozialen Hafen gefunden zu haben. Denn der Zwang setzt immer genau an den Punkten an, die Betroffenen ganz besonders wichtig sind: „Mir ist eigentlich absolut klar, dass ich lesbisch bin und ich habe so lange dafür gekämpft, meinen Weg zu finden – was, wenn ich doch nicht zur Community dazugehöre, weil ich insgeheim auf Männer stehe?“ 

Auch hier können also Unsicherheiten bzgl. der eigenen Identität und Angst vor sozialem Ausschluss wesentliche Kernthemen darstellen. Deutlich häufiger als SO-OCD treten unter Betroffenen einer Zwangsstörung aus dem LGBTQIA+-Spektrum jedoch andere sexuelle, z. B. pädophile, Zwangsgedanken auf, da diese eine schlimmere persönliche Bedrohung darstellen als der Gedanke, doch hetero zu sein.

Fun Fact: Genau wie Labels in der LGBTQIA+-Community ein Zusammengehörigkeitsgefühl fördern, tun sie das unter Betroffenen von Zwangsstörungen. Das Label „SO-OCD“ kann dir dabei helfen, Personen mit ähnlichen Zwängen, hilfreiche Internetquellen und langfristige Entlastung zu finden. 

Transgender-OCD: Wenn der Zwang deine Geschlechtsidentität anzweifelt

Oft kommt es vor, dass auf SO-OCD nach einer Weile der Zwangsgedanke „Ich könnte transgender sein“ folgt. 

Unter Berücksichtigung der Kernängste vor Identitätsverlust und sozialem Ausschluss ist das eine vollkommen nachvollziehbare Entwicklung. Denn wie wir wissen, springt der Zwang umso stärker an, je bedrohlicher ein aufdringlicher Gedanke bewertet wird und je schwerwiegendere Zweifel er auslöst. Und was wäre noch existenziell verunsichernder als jahrzehntelang mit der falschen sexuellen Orientierung gelebt zu haben? Genau: jahrzehntelang mit der falschen Geschlechtsidentität gelebt zu haben. 

Ähnlich wie SO-OCD geht Transgender-OCD mit mentalen Zwangshandlungen, dem Überprüfen der eigenen Gefühle, exzessiven Internetrecherchen sowie Rückversicherungs- und Vermeidungsverhalten einher. Da das „Gefühl“ der Geschlechtsidentität noch schwerer greifbar ist als das Empfinden sexueller Anziehung, wird es für die Betroffenen immer schwieriger, ihre Unsicherheit zu neutralisieren. Im OCD Land-Podcast berichtet Fabian davon, dass sein Zwang eine ähnliche Entwicklung durchlaufen hat, er es jedoch mittels kognitiver Verhaltenstherapie geschafft hat, ihn nachhaltig zu überwinden.

Therapie bei Sexual Orientation OCD: Exposition und Akzeptanz

Wie bei allen Formen der Zwangsstörung stellt die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen mit Reaktionsmanagement auch bei SO-OCD das Therapieverfahren mit dem höchsten Empfehlungsgrad dar. 

Konkret bedeutet das, dass du alle Zwangshandlungen, einschließlich aller Grübeleien, Rückversicherungen und Vermeidungen, unterlassen und dich deinen Ängsten bewusst stellen solltest, um eine langfristige Besserung der Belastung zu erreichen. Je häufiger du das tust, desto weniger Anspannung wirst du mit jedem Mal empfinden, auch wenn dich die Zwangsgedanken voraussichtlich noch eine Weile lang begleiten werden. 

In unserer Artikelreihe zu sexuellen Zwangsgedanken kannst du die allgemeinen Grundlagen der Expositionen mit Reaktionsmanagement nachlesen. Konkret hat sich bei SO-OCD folgende Herangehensweise als hilfreich erwiesen:

Suche bewusst Situationen auf, die deine Zwangsgedanken und das Gefühl von Unsicherheit bzgl. deiner sexuellen Orientierung triggern (z. B. Saunabesuche, homoerotische Filme anschauen, einer gleichgeschlechtlichen Person ein Kompliment machen), ohne dabei oder danach Zwangshandlungen auszuführen (z. B. Selbstbeobachtung deiner Groinal Response und anschließendes Grübeln oder Googeln). 

Falls dir das Reaktionsmanagement nicht auf Anhieb einwandfrei gelingen sollte, ist das völlig normal, da insbesondere das zwanghafte Grübeln oft stark automatisiert abläuft. Versuche daher nachsichtig mit dir selbst zu sein und dir zu sagen: „Egal, was ich gerade spüre oder auch nicht spüre: Es ist irrelevant. Ich werde nicht versuchen, diesen Zweifel aufzulösen, denn ich akzeptiere, dass es keinen unwiderlegbaren Beweis für meine sexuelle Orientierung gibt. Ich nehme diese Ungewissheit an und entscheide mich dazu, einen besseren Umgang mit ihr zu erlernen – statt weiter zwanghaft der Illusion von absoluter Gewissheit hinterherzulaufen. Ich bin zwar relativ sicher, dass ich nicht schwul bin, aber es wird immer eine kleine Restwahrscheinlichkeit geben, dass ich es doch bin.“ 

Diese Worte lösen vielleicht schon beim Lesen Anspannung in dir aus oder erscheinen dir ziemlich unstimmig. Schließlich weißt du ja eigentlich, dass du nicht schwul bist. Entsprechend solltest du das dem Zwang doch auch beweisen, oder nicht? 

Nein, paradoxerweise solltest du das nicht. Denn egal, was du tust, der Zwang ist so perfide, dass er immer ein Gegenargument finden wird, um dich weiter zu verunsichern. Nur indem du aufhörst, mit ihm zu argumentieren, kannst du ihn entwaffnen.

Akzeptanz ist also ein Kernelement in der Bewältigung von Zwängen. Hierzu zählen sowohl die Akzeptanz von Ungewissheit und Zweifeln als auch die Akzeptanz unangenehmer Emotionen wie Angst, Ekel und Unvollständigkeitsgefühlen. Je häufiger du Expositionen umsetzt, desto mehr wirst du feststellen, dass du auch mit der Unsicherheit und mit der verbleibenden Restanspannung selbstbestimmt handeln und leben kannst. 

Hilfe bei Sexual Orientation OCD

Auf OCD Land findest du viele weitere nützliche Inhalte, die dich dabei unterstützen, deinen Zwang zu überwinden:

Wenn du dich mit deinem Zwang überfordert fühlst und Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, möchten wir dir außerdem dringend empfehlen, einen auf Zwangsstörungen spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen. Da es nicht leicht ist, einen solchen Spezialisten zu finden, geben wir dir in diesem Artikel konkrete Tipps.

Über die Autoren
Dr. Katharina Bey

Dr. Katharina Bey ist Psychologin und Leiterin der Spezialambulanz für Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Bonn. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit forscht sie u. a. zu den genetischen Grundlagen der Zwangsstörung. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und des Fachbuchs Zwangsstörungen - Ein evidenzbasiertes Behandlungsmanual*.

Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.