Zwangsgedanken und Erinnerungen – Alle Zwänge sind gleich

Von Vinsent, 21 Jahre

Hallo zusammen, mein Name ist Vinsent. Ich bin 21 Jahre alt und möchte euch gerne über meine Erfahrungen mit OCD berichten und was mir geholfen hat. Wie hat alles angefangen? Grundsätzlich hatte ich als Kind schon kleine Zwänge, jedoch war ich nie von großer Angst geplagt, bis ich mit 17 Jahren meine erste große OCD-Episode hatte.

Es war an jenem Abend im Oktober, wo ich mit einer Erinnerung konfrontiert wurde. Die Erinnerung hat bei mir sehr große Angst und Zweifel ausgelöst. Aus dem Ganzen entstanden dann Real-Event OCD, False-Memory OCD, POCD usw.

Ich war verzweifelt darüber, ob ich ein guter Mensch bin, ob ich es überhaupt verdiene, am Leben zu sein, ob ich jemals wieder «normal» sein werde etc. Eine große Zwangshandlung, die ich zu dieser Zeit sehr oft durchgeführt habe, war, bei meinen Eltern nachzufragen, ob ich ein guter Mensch sei und/oder mich zu entschuldigen (Rückversicherung). Ich konnte mit der Ungewissheit im Zusammenhang mit der Erinnerung nicht umgehen.

Circa vier Monate später lernte ich durch einen Zufall über OCD. Zuvor hatte ich noch nie über OCD gehört, noch vermutet, es könnte etwas in dieser Art sein. Für mich war das alles «normal». Als ich mehr und mehr über OCD erfuhr, wusste ich, dass ich mir dafür Hilfe holen muss – und genau das war dann das Problem, das mich über die nächsten Jahre begleiten würde. Erstens hatte ich nicht die finanziellen Mittel, mir Hilfe zu holen. Zweitens konnten meine Eltern nichts mit OCD anfangen und wussten nicht richtig, wie sie mir helfen sollten. Professionelle Hilfe zu holen war fremd für meine Eltern. Ebenfalls hatte ich die Befürchtung, dass ich in den Knast gehen würde, wenn ich mir Hilfe holen würde oder dass ich für immer in diesem Loch stecken bleibe. Außerdem hing immer die folgende große Frage über meinem Kopf: «Was, wenn ich gar keine Zwangsstörung habe?».

Wieso es ein Fehler war, mir keine Hilfe zu holen

Und so geschah es, dass ich mir für die nächsten ca. vier Jahren keine Hilfe holte. Ich möchte gerne betonen, wie schlecht diese Entscheidung war. Meine Freunde habe ich vernachlässigt, meine Ambitionen waren im Keller, ich ging keine Beziehungen ein usw. Meine Lebensqualität war mehr oder weniger im Eimer - und das unnötig. Falls ihr dieselben Befürchtungen habt, wie vorher beschrieben, bitte ich euch, über diese Angst hinwegzuschauen und euch Hilfe zu holen. Es gibt einen Weg aus dieser Angst.

Bei mir war es dann auch so, dass meine Zwangsstörung von selbst wegging. Jedoch war das noch lange kein Zeichen von Genesung. Warum das für mich nicht von Vorteil war, werde ich an einem Beispiel erklären.

Eine Zwangsstörung kann man sich gut als einen verrückten besten Freund vorstellen, der vor eurer Haustür mit einer Shotgun und Machete campt. Er warnt euch vor jeder potenziellen Gefahr, die er sieht, auch wenn diese noch so klein erscheinen mag. Bei jedem Zeichen von Gefahr wird er so lauten Krach machen, dass er eure Aufmerksamkeit bekommt. Sei es euch mit einer Autohupe wachzuschütteln oder wild mit seinen Waffen herumzuschießen. Bekommt er diese Aufmerksamkeit zu einer potenziellen Gefahr, wird diese Gefahr mehr an Bedeutung erlangen und euer bester Freund wird Ferngläser auspacken, um noch weitere Gefahren dieser Art zu finden. Die Gefahr hat für deinen Zwang noch mehr Bedeutung bekommen - also muss nun noch mehr gewarnt und geprüft werden.

Und während euer verrückter „bester“ Freund nach Gefahren Ausschau hält, versucht ihr euer Abendessen mit eurer Familie zu genießen. Zwar befindet sich kein Tiger vor euch, aber ich verspürt dennoch so eine große Angst und Anspannung, dass ihr rein gar nichts mehr genießen könnt.

Man könnte meinen, dass der beste Freund ein Arschloch ist. Aber eigentlich will er nur seinen Job als besten Freund machen. Was macht man nun mit ihm? Soll man Anzeige erstatten für Hausfriedensbruch? Soll man ihn hassen? Soll man ihn bestrafen? Wäre es ein Mensch, wäre die Antwort einfach, jedoch handelt es sich bei diesem besten Freund um euer eigenes Gehirn, das euch beschützen möchte.

Das Problem liegt im schlechten Umgang mit Ungewissheit

Das Problem liegt nicht bei den Erinnerungen, Gedanken oder Gefühlen. Nein, das Problem liegt im schlechten Umgang mit Ungewissheit. Obwohl meine Zwangsstörung für eine Weile weg war, war es nicht zwingend eine gute Sache, denn die Angst vor den Gedanken und Erinnerungen hatte ich erlernt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Trigger kommen und meine Angst neue Rekorde brechen würde. So geschah es, dass ich im April 2022 wieder Probleme mit dem Zwang bekam, die sich ins Extreme gesteigert haben. Es war wieder genau wie damals mit 17.

Ich habe es mir dann zur Aufgabe gemacht, mich diesem Problem zu widmen und einen Weg aus diesem Schlamassel zu finden. Durch eine Therapie und Online-Quellen habe ich dann den Weg zur «Normalität» gefunden. Ich habe zwar noch regelmäßig Symptome, aber die konnte ich um ein erhebliches Maß reduzieren. Mein Ziel ist es jetzt, in meine Genesung Kontinuität zu bekommen.

Damals habe ich gedacht, dass ich niemals aus diesem Zustand rauskommen würde - doch heute bin ich definitiv an einem besseren Ort. Ich verbringe wieder Zeit mit meinen Freunden, gehe besser mit Angst um und mein Leben ist ausgeglichener.

Falls du das gerade liest, möchte ich dich darum bitten, dir Hilfe zu holen. Diese Ängste kann man überwinden. Es braucht Arbeit, Wille und Entschlossenheit. Es ist nicht einfach, aber absolut verdammt wert. Gerne möchte ich meine Quellen mit euch teilen, die mir sehr geholfen haben und euch bestimmt weiterhelfen werden:

Vielen Dank, dass du meinen Text gelesen hast. Ich hoffe, du konntest etwas von meiner Geschichte lernen – und sei es auch nur etwas Kleines.

Vinsent, 21 Jahre

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