Wie sich aus einem kleinen Keim eine mächtige Schlingpflanze im Kopf entwickeln kann

Von Johannes, 33 Jahre

"What is the most resilient parasite? Bacteria? A virus? An intestinal worm? An idea. Resilient... highly contagious. Once an idea has taken hold of the brain, it's almost impossible to eradicate. An idea that is fully formed - fully understood - that sticks; right in there somewhere.”

Dieses Zitat stammt aus dem 2010 erschienenen Film „Inception“ und verdeutlicht recht gut, wie sich für mich Zwangsgedanken anfühlen. Es beginnt mit einem kleinen, unscheinbaren Gedanken, der allerdings haften bleibt und mit der Zeit immer größer und mächtiger wird und schließlich auch ein Eigenleben entwickelt.

Die Anfänge

Vermutlich hatte ich schon als Kind eine gewisse Veranlagung zu zwanghaftem Denken und Handeln. Vor dem Schlafengehen war es meine Routine, auf meinem Digitalwecker auf eine bestimmte Zahlenkombination zu warten, die sich „richtig“ angefühlt hatte, bevor ich das Licht ausgemacht habe. Und in einem Videospiel wollte ich immer an ganz bestimmten Stellen speichern – nämlich nur an Orten wo mein Hauptcharackter „in Sicherheit“ war. Damals hatte ich jedoch keine Einschränkung dadurch empfunden und habe dies nicht mit Zwang verknüpft.

Vor etwa 10 Jahren fing es an, dass ich zunächst eine Angst vor bestimmten Krankheiten – insbesondere vor Lebensmittelvergiftungen – entwickelt habe. Es begann nach einem Urlaub in Indien, bei dem ich kurz vor der Abreise tatsächlich etwas Falsches gegessen hatte und damals große Furcht hatte, dass ich meinen Rückflug deswegen nicht antreten könnte.

Zurück in Deutschland war ich zunächst froh, alles gut überstanden zu haben, aber kurz darauf, als ich eine stärkere Erkältung hatte, kam der Gedanke auf, dass ich mir dort doch etwas Gefährlicheres eingefangen hatte. Ich begann nun, im Internet nach Krankheiten zu recherchieren (der Anfang einer unseligen Kette). Könnte es Malaria sein? Ich fand heraus, dass bei Malaria die Inkubationszeit bis zu 4 Wochen betragen kann. 4 Wochen Ungewissheit! Und Ungewissheit ist etwas, dass ich noch nie gut tolerieren konnte. Da ich in der Zeit nach meiner Reise auch häufig unter mangelndem Appetit litt und stressbedingte Magenprobleme hatte, habe ich zudem sehr darauf geachtet was ich esse.

Das Thema Vergiftung durch Lebensmittel rückte dadurch nun – zunächst schleichend – in meinen Fokus. Es begann zunächst mit einfachen Gedanken, wie „Der Fleischsalat hat irgendwie komisch geschmeckt; ob der noch frisch war? Ich sollte im Internet suchen, was man da schlimmstenfalls bekommen könnte.“ Es wurde meine Routine, nach unterschiedlichen Arten von Lebensmittelvergiftungen zu suchen, wenn ich irgendwo einen Verdacht hatte. Zunächst fand ich die klassischen Lebensmittelvergiftungen – wie Salmonellen – aber nach und nach landete ich bei selteneren, in der Konsequenz aber gefährlicheren, Krankheiten, wie zum Beispiel Botulismus. Oder auch bei ganz obskuren Dingen, wie dem Bericht über einen Mann, der nach dem Genuss einer bitteren Zucchini gestorben ist (danach habe ich vor dem Kochen von Zucchini immer vorher ein kleines Stück probiert).

Ein relevanter Punkt bei dieser Thematik bestand für mich in den oft langen Inkubations- und Latenzzeiten. Rückblickend glaube ich, dass dies eine Erklärung dafür ist, warum das Thema „Vergiftung durch Lebensmittel“ für meinen Zwang so interessant war, da die Zeitspanne zwischen Ereignis/Handlung (Verdorbenes Essen gegessen) und Konsequenz (Durchfall durch Salmonellen) so lange war und ich dadurch für einen längeren Zeitraum Ungewissheit tolerieren musste.

Der Zwang wächst und breitet sich aus

Nach einer Weile begann ich schließlich, im Internet Listen von Produktrückrufen durchzugehen, um sicherzugehen, kein falsches Lebensmittel zu kaufen (das habe ich aber zum Glück recht bald wieder abgestellt). Dann las ich in den Nachrichten von einem Supermarkterpresser, der vergiftete Einmachgläser in verschiedenen Läden von großen Ketten aufgestellt hatte. Die damalige Empfehlung war, dass man beim Kauf darauf achten sollte, dass die Verpackungen/Gefäße noch original verschlossen sind. Dies habe ich mir danach beim Einkaufen als feste Routine angewöhnt – bis heute. Zwar haben meine Kontrollen nie viel Zeit in Anspruch genommen, aber ich merkte, dass ich unruhig wurde, wenn ich dieses Ritual nicht mehr durchführen konnte (z.B., wenn ich mit Freunden im Urlaub war und meine Prüfung nicht wie üblich durchführen konnte).

Vor dem Besuch fremder Restaurants begann ich vorher, nach Rezensionen zu suchen, da ich annahm, dass eine zu niedrige Bewertung ein Indikator für unhygienische Zustände im Lokal sein könnte. Als ich einmal im Nachhinein festgestellt habe, dass ich ausversehen in einem Café mit Bewertung 2,9 war, habe ich den ganzen Abend darüber gegrübelt.

Ein neuer Zwang

Einige Jahre später fand mein Zwang ein neues Thema, als ich von meiner damaligen WG in eine Einzimmerwohnung zog. Dort passierte es eines Tages, dass ich beim Heimkommen entdeckte, dass eine Shampoo-Flasche auf den Boden meiner Dusche gefallen war. Als ich das sah, nistete sich ein kleiner fieser Gedanke in meinem Kopf ein. „Das war doch heute Morgen nicht so. Könnte jemand in deiner Wohnung gewesen sein?“

Und ab diesem Zeitpunkt achtete ich sehr auf irgendwelchen „Auffälligkeiten“ in meiner Wohnung. („Das Licht war an als ich heimgekommen bin. Hab ich das vergessen auszumachen?“, „Habe ich meine Zahnpastatube wirklich auf diese Seite des Waschbeckens gelegt?“, „Die Tür war doch abgeschlossen. Aber könnte man auch ohne Schlüssel in die Wohnung kommen? Wie machen das denn die Schlüsseldienste? Ich sollte recherchieren, wie das geht.“)

Dieser Gedanke wuchs und gedieh mit der Zeit. Ich achtete nun sehr darauf, dass ich bewusst kontrollierte, ob ich das Licht ausgemacht und die Tür korrekt abgeschlossen hatte (und ähnliches), damit mich bei meiner Rückkehr keine mehrdeutigen Zustände erwarten konnten, welche mich beunruhigten und die ich mit Bedrohung verband. Ich habe dabei niemals ernsthaft geglaubt, dass ich tatsächlich einen Stalker haben könnte, aber ich wollte Zustände vermeiden, die mich auf diesen Gedanken bringen konnten, da der Gedanke äußerst unangenehm war.

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Die erste Sprechstunde

Vor 4 Jahren, als die Symptomatik bei mir gerade relativ heftig war, und ich zudem kurz vor der Abgabe meiner Doktorarbeit stand (worin ein Zusammenhang bestehen könnte), suchte ich zum ersten Mal eine psychotherapeutische Sprechstunde auf, da ich nun das Gefühl hatte, endlich etwas dagegen tun zu müssen. Deshalb wollte ich mir Hilfe von außen suchen.

Dort wurde meine Problematik noch nicht als Zwang erkannt, sondern wurde eher als Phobie klassifiziert (ich habe mich dort in der Sprechstunde auch hauptsächlich auf das Lebensmittelthema fokussiert; den Zwangsgedanken, womöglich einen Stalker zu haben, habe ich dort noch nicht erwähnt; hauptsächlich aus Scham). In den drei Sprechstunden, in denen ich war, lernte ich zum ersten Mal, wie wichtig es ist, sich mit einem angstauslösenden Reiz zu konfrontieren. Ich entschied mich damals jedoch gegen eine Therapie (auch weil ich kurz davor war in eine neue Stadt umzuziehen).

Danach war die Symptomatik eine ganze Weile lang weniger ausgeprägt. Ich konnte sogar einige Zwänge ganz ablegen, da ich begann mich mit ihnen zu konfrontieren (z.B. habe ich absichtlich Joghurt nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum gegessen, um mir selbst zu zeigen, dass nichts Schlimmes daran ist). Manche Zwänge waren jedoch noch immer da; vor allem diejenigen, die hauptsächlich im Kopf stattfanden und denen ich mich nicht direkt aussetzen konnte. Und während der Corona-Zeit wurde mein Zwangsproblem wieder stärker, was größtenteils an der sozialen Isolation lag (zum Glück bin ich kurz vorher mit meiner – inzwischen – Frau zusammengezogen; andernfalls wäre es wohl noch schlimmer gewesen).

Nachdem ich mit meiner Frau zusammenwohnte, hatte ich in der ersten Zeit nur noch äußerst selten Zwangsgedanken bezüglich eines möglichen Stalkers; doch schließlich kehrten diese Gedanken auch wieder zurück. Dies geschah in einer Phase, in der ich fast nur aus dem Home-Office gearbeitet habe und meine Aufgaben bei der Arbeit sehr eintönig und nicht sehr erfüllend waren. Ein perfekter Nährboden für unsinnige Gedanken. Und in dieser neuen Phase begann ich, auch meine Frau als Rückversicherung in meine Zwänge miteinzubeziehen („Hast du das Licht angelassen/die Heizung verstellt/die Rose auf dem Balkon abgeschnitten?“).

Verhaltenstherapie

Als diese Gedanken wiederaufkamen, kamen mir diese nun zunehmend paranoid vor und ich befürchtete ernsthaft, dass dies die Vorboten einer Psychose sein könnten (was ich natürlich auch exzessiv im Internet recherchiert habe; und statt Beruhigung habe ich dadurch natürlich genau das Gegenteil erreicht.) Ein neuer Zwangsgedanke war entstanden. Es ging so weit, dass ich teilweise sogar die Realität in Frage gestellt habe, was – wie ich heute weiß – auch als Existential OCD bekannt ist (sobald etwas einen Namen hat, verliert es den Großteil seines Schreckens – so ist das zumindest bei mir).

Ich entschied mich, nun noch einmal in eine psychotherapeutische Sprechstunde zu gehen. Dieses Mal habe ich auch sehr ausführlich meine verschiedenen Probleme erläutert und meine Symptomatik wurde letztendlich auch als Zwangserkrankung diagnostiziert.

Seit kurzem habe ich eine ambulante Verhaltenstherapie begonnen und ich bin sehr froh, dass ich diesen Schritt endlich gegangen bin.

Ich habe meine Symptomatik zuvor nie wirklich mit Zwängen in Verbindung gebracht (ich habe diese einfach als diffuse Ängste betrachtet), da ich bei dem Begriff nur an die „klassischen Fälle“ wie exzessives Händewaschen und Kontrollzwänge gedacht habe. Auf OCD Land und vergleichbaren Seiten habe ich schließlich gelernt, wie vielfältig und individuell Zwänge sein können. Dies hat mir sehr geholfen meine eigenen Zwänge besser zu verstehen und schließlich auch zu akzeptieren.

Der Weg ist sicher noch ein weiter, aber ich bin optimistisch.

Johannes, 33 Jahre

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