Wie mich meine suizidalen Zwangsgedanken in Todesangst versetzten

Von Moritz, 28 Jahre

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich einen Tag davor, mich auf meine größte Exposition der vergangenen Monate zu begeben – und ich habe schon viele davon gemacht. Ich werde für zwei Wochen alleine nach Italien fahren. Warum ist das meine größte Exposition? Weil für mich von Oktober bis heute die schwierigsten Momente die sind, in denen ich alleine bin. Ich fahre also an die schönsten Orte der Welt, freue mich darauf sehr, habe aber dennoch ein mulmiges Gefühl – schon eine komische Sache, der Zwang.

Aber weshalb ist es eigentlich so schwer für mich, alleine zu sein? Ich litt über Monate hinweg unter extremen und impulsiven aggressiven Zwangsgedanken gegen mich selbst, bis hin zu extremen suizidalen Zwangsgedanken. Ich hatte Angst vor jeder Situation, in der ich die Möglichkeit gesehen habe, dass ich mir etwas antun könnte. Das Problem war, dass ich diese Möglichkeit irgendwann in jeder Situation gesehen habe und somit von morgens bis abends, jede Minute und jede Sekunde, Todesangst hatte.

Überraschenderweise konnte ich trotzdem irgendwie meinen alltäglichen Verpflichtungen nachgehen, nur dass ich ständig diesen Druck gespürt habe und nichtmehr alleine zuhause sein konnte. Das hat sowohl meine Freundin, mit der ich zusammenwohne, als auch meine Eltern, zu denen ich immer gegangen bin, wenn ich hätte alleine sein müssen, aber besonders mich selbst sehr belastet.

Ich bin Moritz, ich bin 28 Jahre alt und prinzipiell ein sehr glücklicher und lebensfroher Mensch, sodass ich, als diese aggressiven Zwangsgedanken zum ersten Mal auftraten, schockiert war. Ich war 19 Jahre alt, lag in meinem Internatszimmer am Tag vor meiner Mathe-Abiturprüfung und hatte auf einmal den Gedanken, ich könnte mir irgendetwas in den Rachen fallen lassen und daran ersticken. Ich weiß nicht mal, ob sowas überhaupt funktioniert. Der Gedanke hat mich jedoch in dem Moment bis ins Mark erschüttert – am nächsten Tag war er aber einfach wieder weg. 

Als ich das Abitur bestanden habe und nach dem Internat eine Zeit lang wieder bei meinen Eltern wohnte, hatte ich immer wieder andere Gedanken mit aggressiven Inhalten, z. B. dass ich mich selbst erstechen könnte. In dieser Zeit bin ich dann mit meinem damaligen besten Freund in eine WG gezogen und habe meine Freundin kennengelernt, mit der ich bis heute zusammen bin. Dadurch haben die Gedanken auch irgendwie einfach von alleine aufgehört. 

Zwei Jahre später kam zum ersten Mal eine intensivere Phase. Es war im Jahr 2016, ich hatte den Gedanken, ich könnte vom Balkon springen. Dieser Gedanke kam beim Rauchen - aus dem Nichts. In den Tagen vorher war ich schon etwas angespannt, aber es gab keinen Auslöser. Danach habe ich panisch die Wohnung verlassen und dachte mir zum ersten Mal, dass ich psychologische Hilfe brauche.

Ich bin dann zum ersten Mal zu einer Therapeutin gegangen und habe auch zum ersten Mal meinen Eltern erzählt, dass irgendwas nicht stimmt. Diese Therapeutin sagte zu mir, dass ich mich beruhigen kann und nur Zwangsgedanken habe. Diese Information hat mir damals geholfen (auch wenn es eine Rückversicherung war), dass die Ängste und Befürchtungen auch zu dieser Zeit von selbst wieder weg gingen. Die Therapeutin von damals hat mir zwar von Expositionen mit Reaktionsverhinderung erzählt, aber nie solche mit mir durchgeführt. 

In den kommenden Jahren kamen die Gedanken mal mehr, mal weniger, aber haben mich aus irgendeinem Grund nicht nachhaltig belastet. Ich würde sogar sagen, dass sie in der meisten Zeit gar nicht kamen, aber ich wusste ja, dass es „nur“ Zwangsgedanken sind und konnte das für mich auch so einordnen, dass zwar kurz eine Anspannung da war, diese aber sehr schnell wieder abgenommen hat. 

Der große Zusammenbruch kam im späten Herbst 2022. Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass sich dieser über ca. 1,5 Jahre aufgebaut hat. Es gab ein paar Dinge, mit denen ich in meinem Leben nicht ganz zufrieden war. Das aber nicht in einem Maß, in dem ich meine Lebensfreude verloren habe.

Ich habe kurz vor meinem ersten Staatsexamen mein Jurastudium abgebrochen und ein neues Studium angefangen. Objektiv betrachtet habe ich aber trotzdem ein glückliches Leben geführt. Ich bin körperlich gesund, habe guten Kontakt zu meinen Eltern, ich habe eine großartige Freundin und einen kleinen süßen Hund – habe genug Geld und keine existenziellen Sorgen. Das wusste ich zu jeder Zeit und bin auch dankbar dafür. 

Trotzdem kamen immer wieder diese extremen Gedanken, dass ich mich selbst umbringen würde – aber das nicht wollte. Wie ein Film im Kopf, der abgelaufen ist, der zeigt, wie ich mich umbringen würde. Ich hatte so eine extreme Angst vor jeder Situation und vor mir selbst. Ich habe mir selbst nicht vertraut und konnte, wie ich schon gesagt habe, nicht allein sein. Zu dieser Zeit war ich schon einige Monate bei einer Therapeutin, bei der ich bis heute immer noch bin. Kein Mensch in meinem Umfeld ging davon aus, dass ich mir wirklich etwas antun würde. Ich wusste es irgendwo auch, aber ich konnte es nicht glauben. Jegliche Rationalität war ausgeschaltet und es herrschte bloße und schiere Angst in meinem Kopf, Körper, Denken und Handeln.

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Am 19. Januar 2023 bin ich freiwillig in eine Klinik gegangen, um mich dort erstens sicher zu fühlen und zweitens, um dieses Problem irgendwie loszuwerden. Zum Thema Sicherheit war erstmal Fehlanzeige – ich hatte ein Einzelzimmer, was hieß, ich musste alleine sein. Die ersten Wochen konnte ich dieses Zimmer eigentlich nur mit einer größeren Menge Tavor betreten. Darüber hinaus habe ich ein SSRI bekommen und ein Antipsychotikum. Als diese erste Wirkungen zeigten, habe ich angefangen, Expositionen mit Reaktionsverhinderung durchzuführen. Das hat mir geholfen.

Ich habe mich – anfangs mit meiner Therapeutin, irgendwann dann allein – an Fenster gestellt und habe die Gedanken, da rauszuspringen, einfach kommen und gehen lassen. Es war sehr hart, aber es hat mir geholfen. Außerdem habe ich meine Gedanken in Sprachmemos aufgenommen und habe mir diese immer und immer wieder angehört. Normalerweise höre ich immer sehr gerne und sehr viele Podcasts. Ich habe stattdessen einfach die Aufnahmen gehört und auch das hat geholfen.

Nach 7 Wochen wurde ich aus der Klinik entlassen. Ich wollte aber das Antipsychotikum loswerden, da es mich müde, antriebslos und interaktionsunfähig mit anderen Menschen gemacht hat – Probleme die ich auch zu den Hochzeiten meines Zwanges nicht hatte. Durch das Absetzen wurden die Probleme wieder etwas größer. 

Jetzt wollte ich es richtig wissen: Ich habe jeden Tag Expositionen gemacht. Ich habe mich zuhause an offene Fenster gestellt, habe mich in die Dusche gesetzt und habe mir Rasierklingen an die Pulsadern gehalten, habe detailliert geplant, wie ich mich erhängen würde, habe mir Artikel zu den Themen Suizidalität und Depression durchgelesen, habe meine Gedanken in Skripten aufgeschrieben, habe einen Podcast gehört, in dem ein Suizidüberlebender seine Gedanken sehr detailliert erzählt hat, etc. etc. etc. Ich weiß gar nicht mehr alles, was ich an Expositionen gemacht habe. Aber es wurde irgendwie von Mal zu Mal leichter, bis es irgendwann Klick gemacht hat und ich wie von heute auf morgen einfach wieder unbeschwerter leben konnte. 

Ob die Gedanken noch kommen? Ja, auf jeden Fall! Sie machen mir aber nicht mehr diese enorme Angst, ich kann sie einordnen und lebe einfach werteorientiert weiter, wenn sie kommen. 

Ich habe bereits vor zwei Monaten bei OCD Land angefragt, ob ich meine Geschichte hier veröffentlichen kann. Ich habe mich aber erst jetzt getraut, meine Geschichte wirklich abzuschicken, weil ich immer Angst hatte, dass es danach wieder schlimmer werden könnte. Ich fühle mich aber jetzt dazu bereit. Ich bin mit Sicherheit nicht über den Berg, aber ich bin wieder frei und dem Zwang nicht mehr hilflos ausgeliefert. 

Ich möchte mich an dieser Stelle bei meiner Psychiaterin aus der Klinik, meiner Therapeutin aus der Klinik und meiner wunderbaren ambulanten Therapeutin bedanken. Sie werden immer einen speziellen Platz in meinem Herzen haben. 

Ich möchte jeden Betroffenen ermutigen, sich den Mut zu nehmen, Expositionen durchzuführen. Ich weiß, wie hart es ist. Aber es lohnt sich absolut, um das Ziel zu erreichen, wieder ein normales Leben führen zu können. Am meisten möchte ich mich bei mir selbst bedanken, dass ich mich diesen Ängsten gestellt habe und meine Therapie mit absoluter Offenheit und Motivation angegangen bin. Ich bin durch meine persönliche Hölle gegangen, aber habe mich irgendwie da rauskämpfen können. Ich bin stolz auf mich! Das ist ein Satz, der mir sehr schwer fällt, auszusprechen. 

Seid offen, geht über Grenzen. Kein Therapeut verurteilt euch für eure Gedanken, denn es sind nur Gedanken! Macht euch stolz auf euch selbst!

Moritz, 28 Jahre

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