Wie ich Worte für das Unaussprechliche fand

Von Sophie, 30 Jahre

Seit ich denken kann, begleiten mich Zwänge. Vorrangig Zwangsgedanken, die ich aber auch mit Zwangshandlungen zu neutralisieren glaube. Der Beginn war in meiner frühen Kindheit. Was würde geschehen, wenn Gerhard Schröder nicht mehr Kanzler werden würde? Richtig: die Welt würde sich auflösen und das Chaos beginnen. Ich begann diesen Gedanken wegzuschieben, bereitete er mir doch zu große Angst.

Immer mal wieder trafen mich solche Gedanken. Was würde passieren, wenn ich springen würde? Wenn ich dieses Messer nehmen würde? Wenn ich diesen Baum träfe? Es war sehr unterschiedlich und hatte kein bestimmtes Muster, auf das ich mich hätte einstellen können. So schnell wie die Gedanken kamen, waren sie meist auch wieder verschwunden. Wie Wolken am Himmel. Sie zogen vorbei.

Doch über die Jahre klebten immer mehr dieser Gedanken wie Honig in meinem Gehirn. Liefen in jede Rille, verstopften alle Zugänge. Sodass bald kein Rauskommen mehr möglich war. Was, wenn es doch der Wahrheit entspräche?

Ich begann mir immer mehr Sorgen zu machen, vertraute mir immer weniger. War ich ein schlechter Mensch, weil ich so etwas denken konnte? Überhaupt in Erwägung zog? Ich misstraute immer mehr meinen eigenen Gedanken. Zog mich zurück. Auch aufgrund von anderen Krankheiten, wie ich erst viel später lernte.

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Am aufdringlichsten sind die perversen Gedanken. Sie stehen allem entgegen, woran ich glaube. Frauen öffentlich anfassen? Kein Problem. Kinder attraktiv finden? Auch das war möglich. Mein Kopf spielte verrückt und mich gegen die Wand. Was, wenn das alles das war, was ich tief im Innern wollte? Ich konnte mit der Zeit an nichts anderes mehr denken. Ununterbrochen versuchte ich, mich zu beruhigen, dachte über Alternativen nach, erarbeitete Gegenargumente. Das konnte doch nicht alles wahr sein.

Wie im Film, ganz nebenbei, nie wirklich erlebt, weil ich mit anderen Sachen beschäftigt war, schloss ich eine Ausbildung und ein Studium ab. Ich fand die Arbeit, die ich liebte, in der alles passte. Ich fing eine Beziehung an, trotz allem, was in meinem Kopf vorging.

Doch dann der Crash. Ich fiel ins Bodenlose. Ich stürzte ab und in die Psychiatrie. Nichts ergab mehr einen Sinn und ich wollte nicht mehr kämpfen. Etwas stimmte ganz gewaltig nicht, auch wenn ich keine Worte fand.

Im letzten Jahr musste ich dreimal in die Psychiatrie, dazu zweimal in die Tagesklinik. Es war das Beste, was mir passieren konnte. Ich lernte, Vertrauen zu fassen, fand super Unterstützung, die mir das Leben rettete. Ich fand Worte für das Unaussprechliche, konnte mich öffnen. Lernte, dass ich krank war. Und am allerwichtigsten: Ich lernte, dass mir geholfen werden kann. Seitdem kämpfe ich jeden Tag weiter, weil ich erleben möchte, wie ein Leben ohne Zwang aussieht. Weil ich leben möchte. Für mich. So wie ich es möchte.

Sophie, 30 Jahre

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