Wie ich die Angst vor dem Gefängnis besiegte

Von Pauline, 25 Jahre

Bis ich die Diagnose Zwangsstörung erhalten habe, vergingen 24 Jahre. 24 Jahre, die von sehr vielen schwierigen Phasen und sehr viel Leid geprägt waren. Die Diagnostik stellte sich ziemlich schwierig dar, da ich über alle Grenzen hinaus versuchte, mich selbst zu kontrollieren. Alles an mir. Mein Verhalten. Meine Gedanken. Auch weil diese Prozesse so sehr unterbewusst abliefen, dass ich sie oft nicht einmal selbst gemerkt habe, fiel es mir schwer, mich zu offenbaren.

Ich lebte ein Leben, das möglichst angepasst war. Tolle Noten, nach außen hin brav und zuverlässig. Ich spaltete immer mehr Teile von mir ab und nahm meine Bedürfnisse - wenn überhaupt - möglichst heimlich wahr. Es sollte bloß niemand negativ reden.

Diese Ängste wurden irgendwann so stark, dass ich nicht mehr vor die Tür gehen konnte, weil ich unendlich große Angst hatte, jemand könnte einen Fehler bemerken oder mich kritisieren. Leider wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass der einzige Weg aus der Angst und dem Zwang durch die Angst und den Zwang führt. So kapselte ich mich immer weiter ab und gab mir dadurch vermeintlich „Sicherheit“. Ganz nach dem Motto: Wenn ich von der Bildfläche verschwinde, wird mich die Menschheit vergessen. Und das machte alles nur noch schlimmer.

Ich hatte in der Folge über einen langen Zeitraum Angst, verhaftet zu werden, da ich etwas gemacht haben könnte, was jemand anderem nicht gefallen hat. Ich suchte in meinem Kopf nach Beruhigung, doch auch dies machte alles nur schlimmer. Ich schredderte alle möglichen Unterlagen, auf denen Daten von mir standen, löschte alle Social-Media-Kanäle, da für mich in meinem völlig irrationalen Schuldgefühl all diese Dinge als „Beweismittel“ hätten herangezogen werden könnten. Und es wurde immer schlimmer.

Als ich dann meinen dritten Klinikaufenthalt innerhalb eines halben Jahres antrat, schredderte ich am Abend vorher alle übrigen Dokumente und verteilte sie in vielen verschiedenen Mülltonnen in der Stadt, in der ich wohnte. Aber das war nicht genug.

Kaum war ich zuhause, fuhr ich wieder los und kontrollierte, ob man von den Überresten in den Mülltonnen wirklich nichts verwerten konnte. Doch bei einem Mal Kontrollieren blieb es nicht.

Ich war in einem extremen Ausnahmezustand, hatte vor allem möglichen Angst, wollte morgens nicht mehr aufwachen und war ständig in Sorge, gleich von der Polizei abgeholt zu werden. Dabei war ich in der Realität von "kriminell sein" extrem weit entfernt. Doch mein Kopf erzählte mir da etwas anderes.

Ich war irgendwann durch die Symptome so eingeschränkt, dass ich nur noch über mögliche Straftaten, die ich unbemerkt begangen haben könnte, nachdenken konnte. Und wenn ich beispielsweise in Gesetzen nachschlug, ob ich wegen einer Sache schuldig gewesen sein könnte oder nicht, fing ich an zu zweifeln, ob ich denn überhaupt richtig gelesen hatte.

Es war ein endloser Teufelskreis, der von Tag zu Tag, von Panikattacke zu Panikattacke schlimmer wurde. Ich war kaum noch in der Lage, ein normales Gespräch zu führen und hatte schließlich in der Klinik Angst, dass das Personal mit der Polizei zusammenarbeitete und alles, was ich sagte, ein Beweismittel hätte sein können.

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Meine Angst vor Fehlern kannte keine Grenzen mehr. Das klingt vielleicht eher nach Schizophrenie – der Unterschied war hierbei, dass ich bei klarem Verstand „verrückt“ wurde und eher von endlosen Zweifeln geplagt war.

Ich war schließlich so misstrauisch, dass ich nicht einmal mit den Mitpatientinnen und -patienten gesprochen habe. Sie nannten mich nur liebevoll „Geheimagentin“.

Hierbei handelt es sich allerdings nur um Beispiele, denn ich war von fast allen typischen Themenbereichen des Zwangs betroffen, ohne es zu wissen. Ich fragte mich nur pausenlos, was mit mir nicht stimmte und konnte mir nicht vorstellen, dass sich an meinem Zustand noch einmal etwas ändern würde.

Erst als die psychologische Psychotherapeutin in der Klinik mir die Diagnose "Zwangsstörung" gemäß ICD-10 gab und mir erklärte, was mit mir los war, nahm mein Leben eine Wendung.

Sie führte mit mir die ersten Expositionen durch und ich merkte schnell, dass die Angst geringer wurde, je häufiger und intensiver ich mich ihr stellte. Ab hier war mein Motto: „Ich akzeptiere radikal jede Ungewissheit und jeden meiner Gedanken". Und ich beschloss, mir weder in meinen Gedanken noch bei Mitmenschen Rückversicherung und Beruhigung zu suchen. In den nächsten Monaten habe ich natürlich erst einmal weiterhin sehr gelitten, aber fand wieder einen Zugang zum Leben und der Himmel klarte nach und nach auf.

Seither führe ich in einer ambulanten Verhaltenstherapie Expositionen durch und kann inzwischen wieder ein nahezu „normales“ Leben führen. Durch radikale Veränderung meines Verhaltens bin ich an diesem Punkt angelangt und würde heute sagen, dass es mir in der meisten Zeit gut geht. Dazu tragen auch verschiedene Psychopharmaka bei, ohne die der Einstieg in die Therapie vermutlich nicht funktioniert hätte, da ich in der schweren Krankheitsepisode kein gesundes Gespräch führen konnte. Noch heute stabilisieren diese mich und meine Gefühlswelt, wofür ich sehr dankbar bin.

Ich wünsche mir, durch meinen Betroffenenbericht anderen Betroffenen Mut zu machen und zu zeigen, dass es wieder besser werden kann.

Wenn du gern mehr über meinen Weg aus der Zwangsstörung erfahren möchtest, möchte ich dich gern in meinem Blog oder auf meinen Instagram-Kanal mit auf die Reise nehmen.

Pauline, 25 Jahre

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