Wenn die Sozialphobie zur Zwangsstörung wird: Grübelzwänge in sozialen Situationen
Von Jana, 32 Jahre
Ich habe seit meinem 17. Lebensjahr Zwänge verschiedenster Art. Diagnostiziert wurde - wie bei Zwangspatient*innen oft üblich - alles natürlich viel später, nämlich erst vor einem Jahr. Dennoch möchte ich gleich zu Beginn sagen, dass der Zwang sehr gut behandelbar ist, wenn man die richtige Therapie bekommt.
Bei mir haben sich Expositionen mit Reaktionsverhinderung und die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) besonders bewährt. Von diesen Methoden profitiere ich sehr, sodass ich ein gutes Leben führen kann, welches ich nach meinen Werten lebe - und nicht danach, was der Zwang gerne hätte.
Meine ersten Zwangsthemen mit 17 waren die permanente Angst vor HIV und Krebs. Kurz darauf gesellte sich R-OCD dazu. Dass die Angst und Anspannung in Bezug auf diese Themen krankhaft waren, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
Wie mir die Angst vor dem Erröten das Leben schwer machte
Meine erste richtig quälende Zwangsphase begann mit 22 Jahren. Ich hatte das Studium gewechselt und wollte Lehrerin werden. Viele Kurse konnte ich mir aus dem ersten Studium anrechnen lassen. Endlich wusste ich, welcher Job zu mir passt. Ich war so froh und aufgeregt, das neue Studium zu beginnen.
Kurz nach dem Wechsel des Studiengangs schoss mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf: „Was ist, wenn ich als Lehrerin versage?“. Der Gedanke macht mir solche Angst, dass ich tagelang nach Beweisen für diesen Gedanken suchte. Was sprach dafür? Was sprach dagegen, dass ich versagen könnte? Ich bekam tierische Angst vor dem Versagen, denn dann könnte ich mein Bafög niemals abbezahlen und würde irgendwann mittellos auf der Straße landen. Das waren meine schlimmsten Befürchtungen.
Mein Zwang kam zu dem Schluss, dass ein eindeutiges Indiz für mein persönliches Versagen dann gegeben wäre, wenn ich beim Unterrichten rot anlaufen würde. Und beim nächsten Praktikum mit Schüler*Innen passierte natürlich genau das: Ich errötete direkt bei der Begrüßung. Nicht nur mein Gesicht wurde für die nächsten zwei Stunden kräftig durchblutet, sondern auch mein gesamtes Dekolleté überzog sich mit roten Stressflecken.
Ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass ich rot angelaufen bin und was das für meine Zukunft zu bedeuten hatte. Die Grübelspirale begann in etwa so: „Sollte ich diesen Job vielleicht doch nicht machen? Was ist, wenn ich doch nicht dafür geeignet bin? Welche gute Lehrkraft hat denn so viel Angst vor dem Unterrichten, dass sie vor Kindern rot anläuft? Was ist, wenn das die falsche Entscheidung war? Was ist, wenn ich jetzt jedes Mal rot anlaufe, wenn ich unterrichten soll?“ Ich wollte am liebsten im Boden versinken und einfach nur noch weglaufen. Der Zwang war geboren.
Der intrusive Gedanke, der mich die nächsten drei Jahre lang begleitete, lautete: „Was ist, wenn ich wieder erröte?“. Und da ich keine Ahnung hatte, was eigentlich mit mir los war und einfach nur noch diese tierische Angst und Anspannung spürte, versuchte ich zunächst alles, um diesen unangenehmen Zustand loszuwerden.
Eine nicht hilfreiche mentale Zwangshandlung war, fast ununterbrochen über dieses Thema und die meiner Meinung nach völlig unangebrachte Überreaktion meines Körpers zu grübeln. Meine typischen Zwangshandlungen waren beispielsweise, immer hochgeschlossene Oberteile und einen Schal zu tragen und diesen auch nie abzulegen, egal wie warm es war. Ich liebte fortan die kalte Jahreszeit, denn da fiel diese Methode niemandem auf und niemand fragte mich, ob mir nicht zu warm für einen Schal sei (was mir im Sommer schon manchmal passiert ist). Außerdem trug ich meine Haare von da an ausschließlich offen, um damit eventuell aufsteigende Röte zu kaschieren. Im Notfall konnte ich mir so immer die Haare etwas ins Gesicht fallen lassen.
Irgendwann vermied ich es, Freundinnen oder meine Familie zu treffen, weil mir der Gedanke kam: „Was ist, wenn ich sogar in meinem privaten Umfeld, meinem Wohlfühlumfeld, erröte?“. Es kam wie es kommen musste, wenn der Zwang nicht behandelt wird: Es wurde schlimmer.
Ich errötete nicht mehr nur in meiner Funktion als Lehrerin, sondern auch, wenn ich Personen traf, die ich schon mein Leben lang kannte. Wie sollte ich denen denn erklären, wieso ich in ihrer Gegenwart so nervös und rot wurde? „Was ist, wenn die dann denken, dass ich verrückt bin und dann den Kontakt zu mir meiden?“ – ging es mir durch den Kopf. Also traf ich mich (neue Zwangshandlung!) nur noch ungern mit anderen Menschen, ich wollte ja nicht als verrückt gelten. Wenn ich mich dann doch mit ihnen traf, habe ich sie indirekt in meine Zwängeleien mit eingebunden.
Ich schlug zum Beispiel vor, dass man sich zum Sektfrühstück treffen könnte. Von Alkohol errötet man meistens sowieso etwas, daher würde mein Problem schon niemandem auffallen, wenn ich erstmal ein Gläschen getrunken hatte - so meine damalige Logik. Oder aber ich bat meine Freundinnen, mich zum Sportkurs zu begleiten und unser Treffen mit etwas Bewegung zu verbinden. Total praktisch, dachte ich, denn beim Sport errötet man ja auch zwangsweise.
Nachdem sich zwei Jahre lang nichts geändert hatte - ich wurde immer noch ständig rot und grübelte einen Großteil meiner Freizeit darüber nach, wie ich es verhindern kann - begann ich sogar zu recherchieren, ob ich mir die Gefäße im Gesicht nicht sogar irgendwie operativ entfernen lassen könnte. Ich hätte alles getan, um nicht mehr erröten zu müssen. Während der Recherchen fragte ich mich plötzlich: „Was tue ich hier eigentlich?“. So konnte es nicht mehr weitergehen. Ich habe es nicht eingesehen, mich sogar operieren zu lassen, um mein Problem loszuwerden.
Mir wurde klar, wie ungesund mein Verhalten war. Dieses Thema sollte mich nicht mehr länger einschränken. Ich konnte die permanente Angst und Anspannung in sozialen Situationen nicht mehr ohne professionelle Hilfe bewältigen. Ich war irgendwann so unsicher und verängstigt, dass ich psychosomatische Probleme bekam. Permanente Kopfschmerzen, Herzrasen und Schlaflosigkeit.
Ich habe exzessiv Sport getrieben, weil die Angst weniger wurde, wenn ich mich komplett ausgepowert hatte. Ich habe viel abgenommen in dieser Zeit. Dazu hatte ich mich im Perfektionismus verloren und auch hier zwanghaft versucht, die besten Noten im Studium zu erreichen, um mir zu beweisen, dass ich mit sehr guten Noten ja keine Versagerin sein kann. So viel zu den Dingen, die nicht hilfreich waren.
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Expositionen und ACT haben mir geholfen, meine Ängste und Zwänge zu überwinden
Nun zu meiner Genesung: Der erste wichtige Punkt für meine Genesung ist die Einsicht gewesen, krank zu sein und Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Ich habe irgendwann eingesehen, dass mein Verhalten mir absolut nicht mehr guttut und habe mir mit 24 Jahren eine Therapeutin gesucht. Seit gut 8 Jahren bin ich bei verschiedenen Therapeut*innen in Behandlung.
Zunächst haben wir an meiner Depression gearbeitet, die ich durch das viele unproduktive Grübeln und die eingeschränkten Freiräume, die mir noch blieben, entwickelt hatte. Ich habe auch ein Jahr lang SSRIs genommen. Anschließend haben wir uns der Angst zugewandt.
Der Zwang blieb allerdings noch einige Jahre unentdeckt. Dennoch habe ich in dieser Zeit erste Expositionen gewagt, die meine Therapeutin mir zur Behandlung von Angst vorschlug. Ich habe mir beim Unterrichten die Haare zusammengebunden und die Anspannung ertragen. Ich habe keinen Schal getragen und die Angst ausgehalten. Ich bin unzählige weitere Male rot geworden und habe trotzdem mit dem Unterricht weitergemacht und mir nicht gestattet, darüber zu grübeln (Reaktionsverhinderung), was die Schüler*Innen jetzt wohl über mein rotes Gesicht denken.
Mit meinen Freundinnen und der Familie habe ich nach und nach wieder andere Dinge unternommen, ohne Sektflasche im Gepäck. Das Wichtigste war hier für mich: Die Anspannung und die Angst auszuhalten, die intrusiven Gedanken da sein zu lassen, ihnen aber nicht weiter nachzugehen, sprich nicht zu grübeln (!) und trotzdem das zu tun, was mir wichtig ist. Dass dies ein Kerngedanke der ACT-Methode ist, weiß ich erst seit einem Jahr. Aber es war damals schon so hilfreich und ich habe damals schon begonnen, Expositionen mit Reaktionsverhinderung als auch ACT zu praktizieren.
Wenn mich jemand angesprochen hat, wieso ich so rot werde, was durchaus vorgekommen ist, habe ich meinen Mut zusammengenommen und gesagt: „Ich habe eine Angststörung. Das ist sehr belastend für mich, aber so ist es und ich habe jetzt Hilfe.“ Es kann sehr hilfreich sein, sich seinen Mitmenschen zu öffnen und von seinem Zwang zu erzählen. Oft höre ich seitdem: „Solche Gedanken kenne ich auch.“. Ich habe mich nicht länger für meine Erkrankung geschämt, sondern sie akzeptiert und anerkannt. Die Erkrankung durfte da sein. Ich wollte sie nicht mehr mit aller Macht in die Verbannung schicken.
Diese Veränderung in meinem Denken hat für mich eine enorme Entlastung bedeutet. Es war ein wichtiger Unterschied zu meinem bisherigen Verhalten, wo ich die Gedanken und Symptome einfach nur loswerden wollte. Dadurch fiel meine Scham auf ein deutlich niedrigeres Level und ich konnte wieder freier leben.
Durch die Expositionen, die ich nach und nach in meinen Alltag integrierte und langsam steigerte, entwickelte ich immer weniger Angst vor dem Erröten und habe in Folge auch immer weniger darüber nachgedacht.
Natürlich braucht so eine Entwicklung Zeit. Es braucht Übung und Durchhaltevermögen. Der Erfolg der Methoden ist auch nicht linear, sondern schwankt auch mal. Es gab Tage, da war ich gestresster, hatte weniger geschlafen als sonst, war kränklich oder hatte meine Periode. An diesem Tagen war der Zwang wieder etwas präsenter. An solchen Tagen haften intrusive Gedanken einfach besser. Auch dann muss man dranbleiben, egal wie verlockend es wäre, jetzt doch wieder zu grübeln oder dem Zwang auf irgendeine andere Weise nachzugeben.
Irgendwann kam ich ins Referendariat und musste jeden Tag stundenlang in den unterschiedlichsten Jahrgängen unterrichten - die perfekte Exposition! Nach ein paar Monaten der Übung hatte sich die Angst vor dem Erröten quasi erledigt. Natürlich wurde ich in manchen Situationen noch rot, weil das einfach menschlich ist. Aber ich spürte nicht mehr den Drang, darauf zu reagieren. Ich spürte keine Angst mehr. Die Anspannung stieg irgendwann einfach nicht mehr großartig an. Durch das ständige Üben von Expositionen mit Reaktionsverhinderung hatte ich ein enormes Maß an Freiheit zurückgewonnen. Der Job hat mir wieder Spaß gemacht und ich habe mich wieder selbstbewusst gefühlt in meiner Rolle als Lehrerin.
Dazu möchte ich sagen, dass ich damals noch nichts über Zwänge wusste, weil diese Erkrankung erst ein paar Jahre später diagnostiziert wurde, als ich R-OCD entwickelt hatte. Hätte ich bereits früher eine auf den Zwang zugeschnittene Therapie erhalten, wäre die Recovery vermutlich deutlich schneller gegangen. Ich konnte dann allerdings sehr schnell sehr viel über Zwänge lernen und mir wurde bewusst, dass ich bereits auf Erfahrung mit Exposition und Reaktionsverhinderung als auch auf ACT zurückgreifen konnte.
Besonders ans Herz legen kann ich euch die Akzeptanz-und Commitment-Therapie (ACT), falls ihr sie noch nicht ausprobiert habt. Natürlich gibt es noch Situationen, die mich antriggern und an diese schlimme Zwangsphase erinnern, aber mein Umgang mit diesen Triggern hat sich durch ERP und ACT grundlegend verändert.
Jana, 32 Jahre
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