ROCD: Liebe ist eine Entscheidung

Von Anna, 29 Jahre

Dass ich mal einen Betroffenenbericht schreibe, hätte ich nicht gedacht. Ich möchte ihn schreiben, um allen Mut zu machen - ob du dich in einer schweren Zwangsphase, mitten in der Therapie oder schon auf dem Weg der Besserung befindest.

Nach meinem Umzug nach Hamburg begann ich ein duales Studium, welches sehr anspruchsvoll war. Mitten im Studium machte mir mein damaliger Freund einen Antrag. Noch während dem Antrag durchfuhr es mich wie ein Blitz und ich war mir nicht mehr sicher. Auf einmal fragte ich mich, ob ich ihn wirklich liebte. Doch nach zwei schrecklichen Wochen verflüchtigten sich die Gedanken.

Wir heirateten, ich schloss das Studium mit summa cum laude ab und wir zogen zusammen. Doch auf einmal waren da wieder meine Gedanken. Ich fühlte mich nicht glücklich, ich wusste nicht was mit mir los war. Liebte ich ihn etwa nicht? Was, wenn es ein Fehler war ihn zu heiraten?

Es wurde immer schlimmer - bis ich mich vor lauter Gedanken übergeben musste. Ich konnte Nächte lang nicht schlafen und so ging ich zu meinem Hausarzt. Er nahm mich ernst, stufte es aber als kleine Depression ein. Er verschrieb mir ein Antidepressivum und riet mir eine Therapie.

Da ich aus dem Gesundheitsbereich komme, wusste ich gute Adressen und so kam ich recht schnell zu einer Therapeutin. Meine Diagnose nach dem Erstgespräch: Mittlere depressive Episode und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung. Zwei Jahre verbrachte ich mit ihr und der tiefenpsychologisch fundierten Therapie.

Ich will nicht sagen, dass es verlorene Jahre waren. Durch sie lernte ich, dass ich aus einem schwierigen Elternhaus kam und viel erlitten hatte. So erklärte sich für mich die Vulnerabilität für psychische Erkrankungen. Doch meine Gedanken wurden nicht besser.

Ich hatte erneut eine schwere Zwangsphase - mit Erbrechen, Schlaflosigkeit und Depression. Meine Therapeutin wusste mir auch nicht mehr zu helfen.

Nichts machte mir mehr Spaß, nichts konnte mich aufmuntern. Ich wollte nur, dass es aufhört. Mein Mann war überfordert und sagte mir immer wieder, dass alles gut werden wird.

Ich betrieb ohne Ende Rückversicherung. Ich fing an, wie wild zu recherchieren. All die Klassiker wie: „Was ist Liebe?“, „Wann weiß ich, dass ich mich trennen muss?“, „Warum spüre ich keine Liebe mehr?“. Schließlich stieß ich auf den Artikel von OCD Land und Frau Dr. Fricke: ROCD.

Das erste Mal las ich davon und fand mich wieder - oder doch nicht? Ich zeigte es meiner Therapeutin und sie bestätigte nach zwei Sitzungen: „Ja, Frau S., Sie haben Zwangsgedanken“. Dennoch gingen wir weiter in der Tiefenpsychologie.

Es folge meine dritte Zwangsphase, in der ich mich nun nicht mehr mit Fragen und „Was wäre, wenn…?“-Gedanken konfrontiert sah, sondern mit Befehlen und dem Gefühl, dass es mein Wille war: „Trenn dich endlich, du willst dieses Leben nicht, du lügst dir nur was vor“, sagte mir der Zwang.

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Ich las die Leitlinie zu Zwangsstörungen und meldete mich außerdem bei einem englischsprachigen Online-Angebot zu ROCD an. Dort erhielt ich eine gute Psychoedukation aber das Beste: Ich lernte eine Betroffene aus der Schweiz kennen, die genau dieselben Gedanken und Gefühle hatte wie ich. Wir tauschten uns intensiv aus. Sie war schon in einer Verhaltenstherapie für Zwänge und ich wusste: Ich muss das auch machen.

Also sagte ich die Tiefenpsychologie ab und meldete mich bei Martin von OCD Land. Ich fragte, ob er NOCD kenne (ein englischsprachiges Videotherapie-Angebot speziell für Zwänge). Er sprach sehr positiv davon, wies mich aber auch darauf hin, dass OCD Land aktuell ein vergleichbares Angebot im deutschsprachigen Angebot aufbaut.

Also nahm ich an der Therapievermittlung von OCD Land teil - zweifelnd, ob es denn überhaupt OCD ist oder ob ich das hier alles nur mache, weil ich mir etwas nicht eingestehen will. Glücklicherweise bekam ich schnell zwei Therapie-Angebote, von denen ich eines annahm.

Bei unserem Erstgespräch hatte ich Angst ohne Ende, doch meine neue Therapeutin sprach die Gedanken aus, die mir im Kopf umhergingen. Ich fühlte mich so verstanden! Sie sagte mir: „Es ist machbar“.

Nun bin ich seit einem halben Jahr bei ihr in Therapie. Leicht ist es nicht und angenehm ist es auch nicht. Am Anfang war es hart: Sie malte mit mir meinen Zwang auf einen Flipchart. Da war er nun. Doch ich zweifelte immer wieder: „Habe ich wirklich einen Zwang?“.

Das Wichtigste, was ich mitnahm, war, als sie mir eindrücklich sagte, dass ich mich dafür entscheiden muss, dass es ein Zwang ist. Es war keine Entscheidung, die auf dem Gefühl der Sicherheit gründet, sondern eine Entscheidung, daran zu glauben und von nun an nicht mehr an dem Zwang selbst zu zweifeln. Doch es fiel mir so schwer.

Durch meine Therapeutin habe ich gelernt, dass es Mut und vor allem Durchhaltevermögen braucht - wie ein Kind, was Laufen lernt und immer und immer wieder hinfällt. Oft genug wäre ich sitzen geblieben, hätte sie mir nicht gezeigt: Es lohnt sich, aber es bedarf Durchhaltevermögen und Geduld.

Das beste Beispiel war: „Stellen sie sich vor, Sie fahren auf einmal in Schottland Auto auf der linken Seite. Alles in ihnen schreit: ,NEIN, ich will das nicht‘. Doch je länger sie fahren, desto einfacher wird es.“

Durch die richtige Therapie bin ich nun so weit, dass ich meine Krankheit als das ansehe, was sie ist: eine Krankheit. Meine Werte sind wichtiger und nach ihnen zu handeln wird immer einfacher. Lange genug waren sie verdeckt. Nun bin ich sogar aufgeregt, Expositionen mit Reaktionsverhinderung machen zu dürfen, weil ich weiß, wie meine Reaktionsverhinderung auszusehen hat.

Der Austausch mit meiner Freundin aus der Schweiz, hat sich zu einer engen Freundschaft entwickelt. Wir haben uns gegenseitig besucht und arbeiten zusammen daran, unseren Zwang (Rüdiger und Eugen) nicht unser Leben bestimmen zu lassen.

Ich möchte jedem Mut machen: Bleibt dran! Es lohnt sich, auch wenn ihr noch nicht dran glauben könnt. In meinen dunkelsten Tagen hatte ich es auch nicht geglaubt. Und hier sitze ich und darf einen Betroffenenbericht schreiben vom Kampf gegen meinen Zwang, der mir nicht nur meine Werte aufgezeigt, sondern mir auch noch eine tolle Freundin verschafft hat.

Ich bin mit meinem Mann nun zehn Jahre zusammen und ROCD hat uns so viel gelehrt. Es waren schreckliche Zeiten, aber nun weiß ich: Ich kann das schaffen!

Liebe ist eine Entscheidung.

Anna, 29 Jahre

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