Mein Zwang mit Menschen

Von Marie, 38 Jahre

Meine Karriere als Mensch mit Zwangserkrankungen fing bereits in der Kindheit an, auch wenn es damals weder mir noch meinen Angehörigen bewusst war. Dass mein Verhalten nicht „normal“ war, habe ich gespürt und deshalb vieles heimlich gemacht.

So konnte ich z.B. im Grundschulalter erst dann schlafen (egal wie übermüdet ich war und am nächsten Morgen früh aufstehen musste), wenn die Uhr 0:05 Uhr angezeigt hat. Wie gerne hätte ich früher geschlafen! Wie sehr hasste ich das auf-den-Wecker-starren! Irgendwann verliefen sich diese kindlichen Zwänge jedoch und im frühen Erwachsenenalter war das Thema Zwang für mich erledigt. Bis ich Mitte 30 war.

Ich bekam zunehmend Probleme im Umgang mit meinen Kollegen, fühlte mich meinen Freunden immer fremder, konnte nicht mit ihnen sein, aber wenn ich alleine war, war es auch nicht gut. Mein schönes Haus empfand ich als Belastung, es schnürte mir regelrecht die Kehle zu, wenn ich frustriert von der langweiligen Arbeit nach Hause fuhr. Ich hatte (und habe) einen tollen Mann, aber irgendwie wusste das alles nur noch mein Kopf, gefühlsmäßig war ich taub. Alles war langweilig, alles eine Belastung, nichts machte Freude.

Eine Lösung musste her, ich suchte mir ein neues Hobby: Ich würde mich in einer kleinen Naturschutz-Gruppe engagieren! Das Drama begann, als ich die Vorsitzende dieser Gruppe kennenlernte und wir uns gleich sympathisch waren. Vom allerersten Moment an war in mir der brennende Gedanke entfacht: Mit der MUSST du befreundet sein!

Wir kennen das alle, dass wir nette Menschen treffen, die wir näher kennenlernen möchten. Aber das hier war anders: Der Gedanke, mit dieser jungen Frau befreundet sein zu müssen, wurde regelrecht existentiell. Ich engagierte mich sehr, um ihr zu gefallen. Dass das nicht „normal“ sein konnte, fiel mir im Urlaub auf, als ich mit meinem Mann verreist war. Der Kontakt zu dieser jungen Frau brach plötzlich ab. Ich war völlig aufgelöst, nichts anderes war mehr wichtig als dieses Thema. Nur mit Not schaffte ich es, meinem Mann gegenüber die Fassade einer entspannten Urlauberin einigermaßen aufrecht zu halten.

Ebenso viel Kraft kostete es mich, meine innere Panik gegenüber dieser jungen Frau geheim zu halten. Sie sollte nicht merken, wie bedürftig ich nach ihrem Kontakt war. Als wir wieder zuhause waren, meldete sich die junge Frau wieder, als sei nichts gewesen. Faktisch war auch nichts, ich hatte mir nur zwanghaft ausgemalt, dass sie mich nicht mehr mögen könnte. Und dieser Gedanke löste Panik in mir aus. Meine Lage - und somit auch mein Zwang mit ihr befreundet sein zu müssen - entspannte sich dann, weil klar wurde, dass wir tatsächlich befreundet waren.

Und dann kam Jack

Das wirkliche Drama begann allerdings, als sie erzählte, dass ihr neuer Freund einen „seltsamen“ Kumpel namens Jack habe. Ich fand die Stories über ihn interessant: Jack war unangepasst, unberechenbar, aufregend. Ich lernte Jack kennen.

Wart ihr schon mal verliebt? Bestimmt. Man denkt am liebsten 24/7 an diese wundervolle, tolle Person, die man da kennen gelernt hat, genießt diese Tagträumereien.

Und jetzt stellt euch das bitte mal so vor: Ihr lernt jemanden kennen, der einen schlimmen Charakter hat, der absolut das Gegenteil von dem ist, mit was ihr euch jemals anfreunden würdet. Und dann seid ihr nicht verliebt, nicht begeistert, sondern wisst, dass diese Person eigentlich überhaupt keiner positiven Aufmerksamkeit eurerseits wert wäre. Und dennoch habt ihr den brennenden Gedanken: Mit dem MUSS ich befreundet sein!

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Ihr denkt also viele Stunden am Tag an jemanden, der körperlich und seelisch für euch komplett uninteressant ist und könnt nicht anders, als mit dieser unpassenden Person befreundet sein zu wollen. Nicht nur ein bisschen bekannt, nein, richtig fest befreundet, obwohl es überhaupt nicht passt. So ging es mir mit Jack.

Innerhalb kürzester Zeit schien sich meine gesamte Existenz nur noch um diese Person zu drehen. Ich konnte kaum noch schlafen, kaum noch Essen, kaum noch an etwas anderes denken, obwohl ich es nicht wollte. Ich verabscheute mich selbst dafür. Ich schaute jede freie Minute aufs Handy, um zu checken, ob er auf WhatsApp online ist. Und wehe, er war es, ohne mit mir zu chatten! Herzrasen, Schweißausbrüche, völlige Verzweiflung meinerseits. Mein erster Gedanke beim Aufwachen: Hoffentlich meldet er sich heute bei mir. Kann ich mich bei ihm melden, ohne bedürftig zu wirken? Ich fühlte mich wie ein Zombie: Nur noch der eigene Körper, kein eigener, freier Gedanke mehr.

So schleppte ich mich zur ersten Therapeutin, erzählte ihr meine Geschichte. Sie schaute mich abwertend an, fragte, warum ich so bin. Ich sei glücklich verheiratet, da sollte ich mich schämen und ein schlechtes Gewissen haben, anstatt diesem jungen Mann hinterher zu laufen! Ich erklärte ihr, dass ich nicht in Jack verliebt sei. Sie glaubte es mir nicht.

Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich nicht mehr an Heilung oder Besserung für mich. Mein Leben drehte sich fast ausschließlich darum, mit Jack in Kontakt zu sein, ohne ihn meine Bedürftigkeit spüren zu lassen. Ich tat ihm gegenüber cool und selbstbewusst. Wenn wir uns trafen, war es für mich langweilig und zäh. Der Typ war kaum zu einem Gespräch fähig, seine Einstellungen und Werte widersprachen den meinen komplett.

Dann kam mir die Idee: Schreib auf, was dich so bedrückt, dann wird es besser! Es wurde dadurch nur noch schlimmer. Ich schrieb weit über 100 Seiten darüber, dass ich den Typen eigentlich nicht mal leiden konnte, aber unbedingt mit ihm befreundet sein wollte. Ich wälzte sämtliche Gedanken, Gesprächsverläufe, Ideen dazu hin und her, analysierte ohne Ende. Auch das Schreiben wurde zum Zwang. Das Ergebnis war ein Nervenzusammenbruch. Ich war längere Zeit krankgeschrieben.

Wie mir die Therapie half, zu mir zurückzufinden

Zum Glück fand ich eine andere Therapeutin. Hier stand die Diagnose Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, gemischt, sowie eine schwere depressive Episode relativ schnell fest. Ich bekam von meiner Krankenkasse 50 Stunden Verhaltenstherapie genehmigt. Zudem bekam ich hochdosiert Antidepressiva, die auch den Zwang reduzieren sollten.

Die Therapie half mir, indem mir klar gemacht wurde, dass ich erkrankt sei. Es war nicht mein „schlechter“ Charakter, sondern eine Erkrankung, die mich so sein lies. Eine große Erleichterung!

Auch das Ausmaß dieses Zwanges wurde in der Therapie offen gelegt. Denn den hatte ich mir klein zu reden versucht. Mit viel Hilfe der Therapeutin schaffte ich es zu meiner eigenen Überraschung sogar, den Kontakt zu Jack von mir aus abzubrechen. Erst danach wurde es langsam besser, denn natürlich war mit dem Kontaktabbruch nicht mein Kontrollzwang ihm gegenüber beendet. Der Weg aus diesem Zwang hat insgesamt ein Jahr gedauert.

Heute ist das Thema Jack für mich zwar noch präsent, aber in einem so kleinen Ausmaß, dass ich gut damit leben kann. Heute weiß ich: Wenn die Gedanken an Jack größer werden, dann habe ich Stress. Unter Stress möchte mein Zwang wiederkommen.

Aber ich habe gelernt, die Warnzeichen zu erkennen und dagegen zu steuern. Meiner Erfahrung nach hätten die Antidepressiva den Zwang alleine nicht besiegen können. Aber sie haben geholfen, in dem sie ihn soweit abgemildert haben, dass ich überhaupt zu einer Verhaltenstherapie fähig war. Nach ca. sechs Monaten konnte ich die Antidepressiva langsam ausschleichen. Die Verhaltenstherapie hat insgesamt etwa zwei Jahre gedauert, weil ich später noch weitere Stunden von meiner Krankenkasse genehmigt bekommen habe.

Ich habe mich lange gefragt, warum mich ausgerechnet diese Zwänge treffen. Heute denke ich, dass es daran liegt, dass mir die Themen soziale Kontakte und Freundschaften sehr wichtig sind. Ich bin ziemlich wählerisch und vorsichtig, wenn es darum geht Freundschaften zu knüpfen. Zwänge treffen uns oft dort, wo wir am verletzlichsten sind - bei den Themen, die uns besonders wichtig sind. Ausgerechnet da, wo es für die Betroffenen am unerträglichsten ist, nistet sich der Zwang gerne ein. Das ist meine persönliche Erklärung, warum es mich mit diesen Themen getroffen hat.

Ich bin erstaunt, wenn ich sehe, wie gut es mir heute geht. Denn das hätte ich nicht mehr erwartet. Ich war ernsthaft davon überzeugt, dass ich aus diesem Zwang nicht mehr herauskommen kann. Deshalb möchte ich euch Mut machen: Egal, wie schlimm euer Zwang ist, egal, wie schambehaftet oder seltsam er sein mag: Holt euch Hilfe!

Marie, 38 Jahre

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