Mein Leben mit Zwangsstörungen in Freiheit und (mit) Vertrauen

Von Jess, 42 Jahre

„Hallo, ich bin Jess" - Diesen Satz habe ich heute, am 15.08.2021, zusammen mit einem Bild von meinem Gesicht in meinem Blog und auf Instagram gepostet. Es hat fast 30 Jahre gedauert, bis ich es mit 42 Jahren geschafft habe, diesen Schritt in die Sichtbarkeit zu wagen. Aber lasst mich von vorne beginnen.

Meine erste Erinnerung an meine Zwänge führt mich in mein frühes Teenageralter. Ich saß auf meinem Bett und hatte plötzlich Angst, dass die Vorhänge, die unsere Heizkörper berührten, Feuer fangen könnten. Dazu muss ich erwähnen, dass diese Vorhänge keinesfalls neu aufgehängt waren, im Gegenteil: in meiner Erinnerung hingen sie schon immer so. Meine Gedanken kreisten immer wieder darum und ich fing an, die Vorhänge auf die Fensterbank zu legen und somit weg von der vermeintlichen Gefahrenquelle. Ohne diese Handlung konnte ich nicht mehr schlafen. Damals war mir nicht im Geringsten bewusst, was da in meinem Kopf los war und dass es dafür einen Namen gibt. Heute weiß ich, das war eine Zwangsstörung.

Zu dieser Zeit wussten meine Familie und ich nichts darüber und somit wurde die Krankheit auch nicht entdeckt. Was bei Zwangsstörungen übrigens enorm wichtig ist, dass sie schnellstmöglich behandelt werden. Denn dann ist der Heilungserfolg am höchsten. Doch bei den meisten Menschen mit Zwangssymptomen dauert es im Durchschnitt 10 Jahre, bis sie sich professionelle Hilfe holen. Viel Scham, aber auch Unwissenheit ist damit verbunden. Von daher ist es mir so wichtig, auf die Krankheit aufmerksam zu machen. Infos über sie zu verbreiten und somit dabei zu unterstützen, dass sie entstigmatisiert wird. Deshalb habe ich im Juli 2020 angefangen, einen anonymen Blog zu schreiben, in dem ich über meine Erfahrungen berichte und mit einem positiven Umgang anderen Menschen mit Zwangsstörungen Mut mache.

Meine Zwänge wurden langsam aber stetig immer mehr. Ich fing an, in der Küche meiner Eltern zu kontrollieren, ob der Herd auch wirklich aus. Dann kam die Angst vor Keimen, die mich erkranken lassen könnten und ich dann andere Menschen damit anstecken könnten. Händewaschen war daraufhin mein Zwangsritual, um das vermeintlich Kontaminierte zu entfernen. Es baute sich eine anschauliche Sammlung von ca. 100 Zwängen auf: Zwangshandlungen (z.B. das Händewaschen), aber auch Zwangsgedanken (z.B. habe ich während des Autofahrens aus Versehen einen Menschen überfahren?). Mit Ende 20 kam ich dann an den Punkt, dass nichts mehr ging. Ich hatte keine Kraft mehr, saß nur noch auf der Couch und habe vor mich hingestarrt. Es war ein Gefühl wie bei vollem Verstand verrückt zu werden.

Zum Glück hatte ich eine großartige Therapeutin, die mit mir zusammen einen Therapieplan erstellt hat. Zuerst habe ich Medikamente, Anti-Depressiva, bekommen, um erst mal wieder auf ein Niveau zu kommen, dass ich nicht ständig von meinen Zwängen gefesselt war. Und so konnte ich wieder ins Auto steigen und zu meiner Therapeutin fahren, um meine Verhaltenstherapie zu beginnen. Denn selbst das Autofahren, war wie bereits erwähnt, mit einem Zwangsgedanken verbunden.

Lesefaul?
Folge uns auf Social Media!


Als ich mich dann langsam besser fühlte, starteten wir mit meiner Verhaltenstherapie. Jeder Zwang wurde notiert und auf einer Skala von 1-100 eingeteilt, wie schlimm er sich für mich anfühlte. Mit einem mittleren haben wir begonnen. Zuerst hat meine Therapeutin mich dabei in ihrer Praxis begleitet und dann übte ich zu Hause, den jeweiligen Zwang auszuhalten. Das bedeutet z.B., dass ich etwas in meinen Augen kontaminiertes anfassen musste und danach nicht Hände waschen durfte. Denn das beste Hilfsmittel gegen die Zwänge ist, ihnen keinen Raum zu geben.

Nach ca. einem halben Jahr hatte ich es geschafft, ich habe meine Zwänge besiegt und war unglaublich stolz auf mich. Mein Leben war wieder lebenswert. Ich habe mich weiter unangenehmen Dingen ausgesetzt, um somit immer weiter zu üben. Die Medikamente habe ich langsam abgesetzt. Doch nach einiger Zeit in einer verzwickten Situation kamen die Zwänge wieder. Ich habe also meine Medikamente (wieder Anti-Depressiva, aber dieses Mal andere) genommen und innerhalb von kurzer Zeit ging es mir wieder gut.

Über 10 Jahre ging es mir richtig gut. Ich war so stolz auf mich und habe viele unangenehme Situation und auch schwere Zeiten gemeistert. Die Zwänge kamen nicht wieder.

Doch dieses Jahr im Frühling hatte ich einen heftigen, aber zum Glück kurzen, Rückfall. Es waren mehrere Gründe, die dazu geführt hatten. So habe ich bemerkt, dass ich noch ein bisschen was aufzuarbeiten habe und bin jetzt gerade wieder dran. U. a. ist ein Teil davon, sichtbar zu werden und mich für meine Zwänge nicht mehr zu schämen. Ich sehe den Zwang als meinen Helfer an, der mir aufzeigt, wo ich noch weiter wachsen kann. Nach und nach erzähle ich immer mehr Menschen von meiner Zwangsstörung. Sogar meiner Managerin habe ich davon berichtet. Demnächst möchte ich mal in kleinerer Runde einen Erfahrungsbericht geben und wie gesagt, heute, am 15.8.21, habe ich mein Gesicht auf meinem bis dahin anonymen Blog und Instagram Account gezeigt. Auch darauf bin ich gerade so stolz und freue mich auf alles, was noch kommt.

Für alle, die weiterlesen möchten: Hier findest du meinen Blog und hier meinen Instagram-Kanal.

Jess, 42 Jahre

Hinweis: Du willst deine Geschichte teilen? Schreibe uns eine E-Mail an oder eine Nachricht bei Instagram.