Mein Leben mit Kontrollzwang und Sozialphobie
Von Sayah, 21 Jahre
Der Zwang ist für mich wie ein böser Papagei, der ständig auf der Schulter sitzt und mir einredet, was alles passieren würde, wenn ich nicht kontrollieren würde. Seit Herbst 2017 plagen mich Zwangsgedanken und Zwangshandlungen - Zwangshandlungen in Form von ständigem Kontrollieren.
Zum Beginn wusste ich nicht, dass dahinter etwas „Krankhaftes" steckt bzw. ich habe das gar nicht so richtig wahrgenommen. Bis zu einem Zeitpunkt als mich jemand darauf ansprach, dass alles auf eine Zwangserkrankung hindeutet.
Danach akzeptierte ich diese Problematik und dachte, dass ich das so hinnehmen muss und ich keine Hilfe benötige. Warum auch? Es war ja bis dato nicht so ausgeprägt und ich habe die Krankheit selbst heruntergespielt. Denn ich war naiv zu glauben, dass die Gedanken und Handlungen von selbst weggehen und eher weniger werden. Aber Pustekuchen. Ich merkte nicht, dass ich bereits ein Sicherheitsverhalten entwickelt habe. Zudem war ich auch überzeugt davon, dass man erst Hilfe verdient, wenn man nicht mehr aus dem eigenen Haus kommt und alles vernachlässigt.
2018 nahm die Zwangserkrankung zu. Ich fotografierte und filmte ständig. Dieses Verhalten gab mir die gewisse Sicherheit, die mir fehlte. Ich war mehr im Zwang verwickelt als ich glaubte. Der Zwang brachte mich zum Zweifeln, ich starrte Türen und Wasserhähne an, da ich meinen eigenen Augen nicht mehr vertraute. Bei Anrufen musste ich Protokolle führen, da ich danach Angst hatte, dass ich mich verhört habe und alles falsch verstanden habe. Manchmal zweifelte ich sogar meine Protokolle an.
Meine Mutter wurde auch mit in den Zwang einbezogen. Ich schickte ihr Bilder von geschlossenen Fenstern und ausgeschalteten Geräten. Während ich Zwangshandlungen durchführte, weinte ich, denn ich wollte das nicht. Aber ich musste - denn der innere Druck und diese qualvolle Unruhe waren zu hoch.
Ich verzweifelte immer mehr und vertraute mir selbst immer weniger.
Als ich 2019 mal allein zuhause und mitten in einem Praktikum war, stellte ich mir morgens einen Wecker, der quasi als Stopp für das Kontrollieren diente. Als Stoppzeichen und als kleine Erinnerung, dass ich zum Bahnhof muss. Auch während des Praktikums merkte ich immer wieder den Zwang. Ich ging manchmal sogar auf die Toilette, um zu weinen. In solchen Momenten, wo ich weinte, waren die Anspannung und Angst aufgrund der Zwangsgedanken zu groß und zu stark.
Gleichzeitig machte mir die Arbeit sehr viel Spaß. Generell waren das Praktikum und mein Berufswunsch die Motivation, dass ich eine Psychotherapie benötige. Allein konnte ich es nicht mehr bewältigen, denn ich war zu tief in dem Zwang verwickelt.
Ich war auf der Suche nach Hoffnung. Aber ich merkte schnell, dass die Suche sehr kompliziert ist. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass es mehrere psychotherapeutische Verfahren gibt. Traurig, oder?
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Deshalb ging ich später zu meinem vertrauten Hausarzt und erzählte ihm von meiner Symptomatik. Er riet mir zu einer kognitiven Verhaltenstherapie. Zusätzlich gab mir der Hausarzt eine Adresse mit. Ich rief dort an und bekam einen Termin zum Erstgespräch.
Im Juli 2019 hatte ich mein Erstgespräch bei meiner jetzigen Therapeutin. Aufgrund der Kassensitzproblematik in Deutschland betrug die Wartezeit fünf Monate. In der Zeit war der Zwang auch im schulischen Bereich präsent. Beispielsweise kontrollierte ich Klausuren mehr als sieben Mal und meinen Sitzplatz musste ich auch heimlich abfotografieren. Trotz der Kontrolle hatte ich starke Angst, dass ich vielleicht den Text gar nicht geschrieben habe und es pure Einbildung war. In dieser Zeit war auch das Rückversicherungsverhalten ein gängiger Begleiter.
Ich vertraute meiner damaligen Klassenlehrerin und meinen engsten Freunden die Problematik an. Auch wenn die Scham und die Angst vor negativer Verurteilung groß waren, habe ich es durchgezogen. Ich habe mich geöffnet und sie haben sehr nett darauf reagiert. Klar, es gab auch Ausnahmen, aber wenn der Großteil nett und liebevoll reagieren, fühlt man sich definitiv besser aufgehoben. Ich war danach so erleichtert und dankbar.
Im Dezember 2019 fing die Therapie an. Die ersten vier Stunden dienen der Diagnostik und zum ,,Kennenlernen". Dann hatte ich die Diagnose(n) schwarz auf weiß: Zwangshandlungen und Zwangsgedanken gemischt sowie soziale Phobie. Die beiden Diagnosen triggern sich auch gerne mal gegenseitig.
Nach einigen Therapiestunden merkte ich Veränderungen. Veränderungen in meinem Handeln und in meinen Gedanken. Ich ließ das Sicherheitsverhalten immer mehr weg. Zuhause führte ich Expositionen durch, die mir immer mehr Selbstvertrauen schenkten.
Ergänzend zur Verhaltenstherapie nehme ich ein SSRI, also ein Antidepressivum, ein. Es dient als Krücke. Im Herbst 2020 war der Zwang weniger, aber dafür die soziale Phobie lauter. Das SSRI (in meinem Fall Escitalopram) lindert die Symptomatik bezüglich der Zwangsstörung und der sozialen Phobie.
Und ja, ich habe immer noch Tiefpunkte und ich verheddere mich noch ab und an in der Zwanghaftigkeit. Ich muss bzw. möchte diese dann mit der Therapeutin durchgehen und wir entwickeln Strategien.
Ich spüre mehr Leichtigkeit, weniger innere Schwere, die mich einengt. Es gibt einen Weg aus dem Tunnel. Es ist ein harter Weg und gefühlt eine Achterbahnfahrt. Aber eine lohnenswerte, wilde Achterbahnfahrt.
Hilfe zu bekommen, muss nicht erst verdient sein. Egal, ob man noch aus dem Haus kommt oder nicht - jeder darf sich Hilfe holen. Jeder Betroffene einer Zwangsstörung bzw. Verdacht auf Zwangsstörung hat Hilfe verdient, auch wenn der Zwang Euch das komplette Gegenteil einredet. Deshalb rate ich allen Betroffen zur frühzeitigen Behandlung. Auch das Anvertrauen der Symptomatik ist wichtig, denn viele Betroffene schämen sich und isolieren sich. In meinem Fall dachte ich auch erst: „Oh schreck, jetzt denken meine Freunde und meine Lehrerin, dass ich voll der Freak oder voll die Verrückte bin." Aber was habe ich erhalten? Genau: Verständnis.
Manchmal bekommt man echt negative Sprüche zu hören, aber verschließt Euch danach nicht. Außerhalb der Therapie benötigt man jetzt nicht eine ganze Horde zum Reden. Eine Person reicht schon aus. Denn ihr müsst da nicht alleine durch - holt Euch Unterstützung. Unterstützung ist kein Zeichen von Schwäche.
Ich gehe immer noch schamvoll mit dem Thema um. Wenn ich anonym bleibe, dann ist es einfacher und wenn man sich hinter einem Text versteckt, umso mehr.
Es gibt ein Leben ohne Zwang oder besser gesagt eine „Zwang-Light"-Version vom Leben.
Die Therapie ist definitiv mehr als nur Quatschen. Sie beinhaltet zum Beispiel praktische Übungen unter Aufsicht, das Aussprechen der Zwangsgedanken und auch sogenannte Hausaufgaben. Aber auch andere Konflikte werden besprochen.
Es ist anstrengend, aber auch schön zu sehen, wie wirksam alles ist.
Man erlangt so viel mehr an Freiheit.
Was auch wichtig ist, ist die Geduld. Manchmal wird die Zwangssymptomatik schlimmer, besonders zum Anfang der Therapie, danach wird es meist besser. Seid nicht böse auf Euch, wenn Ihr doch im Laufe Eurer Genesung in die Fallen des Zwangs tappt.
Ihr schafft es. Haltet die Ohren steif.
Sayah, 21 Jahre
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