Überwindung von Zwängen: Eine persönliche Erfahrung mit tiefer Hirnstimulation

Von Annette, 33 Jahre

Ich habe mir damals geschworen, dass sobald es mir besser geht, ich mich dafür einsetzen möchte, Menschen mit Zwangserkrankung (und eventueller Angststörung und Depressionen) irgendwie zu unterstützen. Und daher schreibe ich diesen Betroffenenbericht und erzähle euch meine Geschichte.

Anfänge der Zwangserkrankung und Entwicklung

Meine erste Erinnerung an den Zwang und das erste starke, depressive Gefühl, das in mir gelebt hat, geht wahrscheinlich zurück ins Jahr 1999, wo ich neun Jahre alt war. In diesem Sommer brach ein Serienmörder in NRW aus, der über mehrere Monate flüchtig war. Ich erinnere mich dunkel, dass mir Nachrichten aus dem Fernsehen sowie Zeitungsartikel mit Bildern vom Täter eine sehr intensive, seltsame Angst eingejagt haben. Ich habe drei Geschwister und hatte auf einmal eine panische Angst, dass sie diesem gefährlichen Menschen zum Opfer fallen könnten.

Zu diesem unguten Gefühl, das damals mehrere Wochen anhielt, gesellten sich die ersten Zwangsgedanken. Auf einmal war da nicht mehr nur die Angst, dass meinen Lieben oder mir selbst etwas zustoßen könnte, sondern dass in MIR SELBST ja vielleicht etwas Böses oder zutiefst Monströses stecken könnte.

Ich fing an, mir Fragen zu stellen wie “Wenn ich gleich in die Stadt gehe, besteht eventuell die Gefahr, dass ich die Fassung verliere und auf einen Menschen losgehe und versuche, diesen Menschen umzubringen?”

Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Mich überkamen Lawinen von Schuldgefühlen und großer Angst, ich könnte eine Psychopathin sein (damals wusste ich noch nicht, was ein Psychopath ist, aber ich verwende diesen Ausdruck jetzt stellvertretend für meine damaligen Vorstellungen) und eine Gefahr für meine direkte Umwelt darstellen.

Zu dieser Angst gesellte sich dann mehrere Monate später auch die Angst hinzu, ich könnte so etwas wie Zuneigung für diesen mittlerweile festgenommenen Serienmörder empfinden. Ich kam auf diese absurde Idee dadurch, dass meine Mutter mit meinem Vater am Essenstisch über einen Zeitungsartikel sprach, wo es wieder um diesen Täter ging. Dieses Mal ging es darum, dass es Frauen gab, die dem Täter Liebesbriefe ins Gefängnis schickten. Das war zu viel für mein anscheinend damals schon hochsensibles Kindergemüt.

Es kam dann die für mich hochgradig moralisch inakzeptable Möglichkeit in Betracht, dass ich (als Zehnjährige!) mich vielleicht in diesen Mann verlieben könnte. Und so ging es weiter: Ich stellte mir von da an die Frage, ob in mir, wenn ich an diesen Mann denke, nicht vielleicht ein zuneigendes Gefühl aufkeimte. Stand ich vielleicht darauf, mit einem Mann, der Menschen tötet, eine Liebesbeziehung zu führen? Und wenn es so sein sollte, was würde dann mit mir geschehen? Wäre ich dann das Monster, das ich sowieso schon zu sein glaubte?

Ab hier kann ich mich nicht mehr an den genauen Verlauf erinnern, es gab ab dann jedenfalls Auf uns Abs in den folgenden Jahren mit ähnlichen Szenarien in meinem Kopf – also gute Phasen mit weniger Ängsten und wieder Phasen mit starken Ängsten.

Damals habe ich mir mit Zwangshandlungen zu helfen versucht, da ich das Gefühl hatte, ich könne niemandem auf dieser Welt auch nur ein Sterbenswörtchen über meine Horrorgedanken erzählen. Ich dachte, ich bin grausam und gehöre ins Gefängnis – mit zu dem Monster aus der Zeitung. Ich konnte das meiner Familie einfach nicht erzählen. Ich hatte Angst, dass sie das eventuell nicht verstehen und ich für immer in eine Psychiatrie muss. (Damals hat eine Psychiatrie noch große Ängste ausgelöst, mittlerweile bin ich dankbar dafür, dass es diese gibt, und mir ist klar, dass es sich dabei um eine normale Klinik handelt, die einem im Notfall auffängt.)

Der Zwang sucht sich immer das Gegenteil von dem aus, wofür man eigentlich steht

Die Angst hat mich so stark bestimmt, dass ich nicht mehr klar sagen konnte, was ich fühlte.

Hatte ich eventuell liebende Gefühle bei Gedanken an diesen Täter? Könnte es mir vielleicht einen Kick geben, wenn ich mir vorstelle, ich töte einen Menschen? Ich war mir nicht sicher. Irgendein Impuls war doch da in mir. Ein Impuls, Böses zu tun. Oder war es einfach nur die Anspannung, die permanent in mir lebte? Oder bildete ich mir diesen Impuls letzten Endes nur ein?

Ich habe mir selbst nicht mehr über den Weg getraut. Mittlerweile weiß ich, dass ein Impuls nur ein Impuls ist und nichts mit den echten Wünschen zu tun hat, die der Erkrankte hat. Im Gegenteil! Es handelt sich ja bei den Ängsten paradoxerweise immer um Dinge, die einem besonders am Herzen liegen. Wenn ich meinen Bruder oder meinen Freund liebe und ihm niemals etwas antun wollen würde, kommt der Zwangsgedanke, ich könnte gerade diesem geliebten Menschen etwas antun. Auf der anderen Seite, wenn ich mich besonders vor bösartigen Menschen und deren Taten fürchte oder ich eine Person verabscheue, kommt der Gedanke, ich könnte diesen Personen ja vielleicht Wohlwollen gegenüber fühlen und/oder dieselbe Tat durchführen wollen.

Der Zwang sucht sich immer das Gegenteil von dem aus, wofür man eigentlich steht. An das, wofür man Liebe empfindet, tritt vermeintlicher Hass und Grausamkeit und an das, was man als grausam und schrecklich empfindet, tritt vermeintliches Wohlwollen, Liebe und Gefühle von Anziehung.

Zwangshandlungen, mit denen ich versuchte, meine schlechten Gedanken zu neutralisieren

Ich führte in den Jahren, wo ich etwa 9 bis 14 Jahre alt war, so genannte Zwangshandlungen aus. Das sah zum Beispiel so aus, dass ich die Türklinke, den Fenstergriff oder irgendeinen x- beliebigen Gegenstand im Raum zu einer bestimmten Anzahl berühren musste, damit nichts Schlimmes auf der Welt passiert und ich nicht die Schuld daran trage. Völlig absurd! Also zum Beispiel 7x die Türklinke oder 14x den Kugelschreiber. Auch habe ich bei den Hausaufgaben teilweise 5x ein Wort hintereinanderschreiben müssen, damit die “Gefahr gebannt ist”. Nachher habe ich diese mit Tintenkiller natürlich wieder entfernt, weil mir ganz genau klar war, dass das absurd ist.

Habe ich dann z.B. eine Aktivität zu wenig oft durchgeführt, stieg die ohnehin schon große Anspannung um ein weiteres an. Dann hatte ich Angst, dass, wenn am nächsten Tag etwas Schreckliches in den Nachrichten kommt, das wahrscheinlich MEINE Schuld war. Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich kopfschüttelnd vor dem PC und kann nicht fassen, welchen Horror ich im Stillen als so junges Mädchen durchgemacht habe und glücklicherweise größtenteils überstanden habe!

Die Anfänge meiner Behandlung und mein erstes Verständnis darüber, was eine Zwangserkrankung ist

Als junge Erwachsene habe ich mir endlich ein Herz gefasst und habe mich unter Tränen meiner Mutter anvertraut. Sie war sehr verständnisvoll und meinte zu mir, dass ich an einer Krankheit litt und das behandelbar sei. Ich solle mir keine Sorgen machen. Ich war natürlich erstmal kurz sehr beruhigt, dass meine geliebte Mama mir sofort versichert hat, dass sie IMMER, egal was ist, hinter mir steht. Das hat mir anfänglich die erste große Kraft gegeben, den Kampf anzugehen - den langen, steinigen Kampf hin zu einem endlich glücklicheren Leben.

Mit Anfang 20 trat ich dann meine erste Psychotherapie an, in der ich zunächst mal lernte, dass es sich bei meinen Zwangsgedanken NICHT um einen Wunsch handelt, sondern um eine Angst und dass jeder Mensch solche Gedanken hat. Nur, dass Leute wie ich an den Gedanken hängen bleiben und sie wichtig nehmen und bewerten. Jemand mit einer Zwangsstörung hat intensive Angst vor dieser Art von Gedanken und befürchtet, er könne diese vielleicht in die Tat umsetzen. Die Person befindet sich quasi in einer Daueranspannung.

Da gleichzeitig, neben dem Gefühl der Anspannung, auch Adrenalin ausgeschüttet wird, hatte ich manchmal den Eindruck, da sei auch etwas wie Kitzel neben der Angst. Was aber absolut im Vordergrund war, war ein immenses Angst- und Schuldgefühl. Wenn man dann anfängt, in sich zu gehen und jedes Gefühl in sich anfängt zu interpretieren, wird man wahnsinnig.

Ich habe mir so oft die Frage gestellt: “Oh Gott, war da nicht gerade der Wunsch in mir, dies oder das Schlimme zu tun?” Wie ich bereits sagte, ist man aber in dem Zustand der permanenten Angst gar nicht in der Lage, rational seine eigenen Gefühle zu bewerten. Das Gehirn gaukelt einem in diesem Zwangszustand vor, man fühle Wohlwollen in Bezug auf grausame Dinge.

Daher ist Folgendes etwas sehr Wichtiges zu verstehen:

Die Angst davor, gewisse Gefühle zu empfinden, lässt dieses Gefühl erst entstehen.

Es ist außerdem sehr wichtig zu verstehen, dass ein Gefühl oder ein Gedanke NICHT GEFÄHRLICH ist. Nie. Der Zwangserkrankte ist weit entfernt von böse, pervers oder kriminell. Menschen, die pervers, bösartig oder kriminell sind, haben keine Angstgefühle vor ihren Gedanken/Gefühlen und hadern nicht mit sich. Im Gegenteil – sie empfinden Gefallen an ihren Vorstellungen und planen nicht selten eine Tatumsetzung.

Nochmal zum Mitschreiben: Jemand, der wirklich gefährlich für seine Mitmenschen ist, LEIDET nicht unter seinem Gedankengut.

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Die lange Suche nach der richtigen Hilfe/Therapie

Was hat mir geholfen? Ich habe mich in meinen 20ern mit Antidepressiva und Verhaltenstherapieversuchen über Wasser gehalten. Es vergingen Jahre mit immer wieder monatelangen schweren Depressionen und Angstzuständen. Ich konnte mich mit sehr starkem Zusammenreißen einigermaßen durch mein BWL-Studium schlagen, habe auch mit einem Bachelor abgeschlossen und bin damals mit meinem Freund in die Schweiz gezogen.

Ich habe nach vielen Jahren, wo nichts so richtig funktionieren wollte und ich in den Therapien auch nie so richtig ein Expositionstraining bis zu Ende durchgeführt habe, endlich im Jahr 2021 einen Therapeuten gefunden, der sich zu 100% mit der Funktionalität einer Zwangsstörung auskennt und mich sehr kompetent an die Hand genommen hat.

Er hat mich gelehrt, wie man das kranke Gehirn wieder auf die richtige Fährte zurückkriegen kann. Ich muss dazu sagen, dass mir das alleine nicht geholfen hat. Ich habe im Herbst 2022 zusammen mit meinem Psychiater eine Mischung aus Antidepressiva (zuletzt das Anafranil), Lyrica und Betablockern gefunden, mit der ich endlich wieder konstant (mehrere Wochen am Stück) Ruhe aber auch Antrieb, Tatendrang und Lebenslust verspüren darf.

Die tiefe Hirnstimulation und wie es mir endlich anfing, besser zu gehen

Und dann habe ich 2022 eine zurzeit noch eher unbekannte Hilfe für Zwangserkrankte in Anspruch genommen – und zwar hatte ich das große Glück, eine tiefe Hirnstimulation (THS) durchführen zu lassen bzw. zu erhalten.

Dabei werden zwei Elektroden ins Belohnungszentrum des Gehirns (Nucleus accumbens) eingepflanzt und mittels eines nicht sichtbaren und subkutan verlaufenden Kabels mit einem Schrittmacher verbunden, der sich oberhalb meiner linken Brust unter der Haut befindet. Mittels permanenten, leichten Stromimpulsen “versorgt” dieser Schrittmacher diesen Teil des Gehirns und schafft auf diese Weise über Monate hinweg neue neurologische Bahnen.

Circa sechs Monate nach der Operation und mit dem Starten der oben genannten Medikamente merkte ich auf einmal Besserung - ich kann mich noch genau an den Tag erinnern.

Ich kann nicht sicher sagen, woher genau die Besserung kam. Ob sie von dem Schrittmacher oder von den Medikamenten gekommen ist oder ob es sich um eine Kombination aus beidem gehandelt hat, können weder ich noch mein Psychiater genau beantworten. Was wichtig ist: Mir geht es sehr, sehr viel besser - and that’s it. Nichts zählt mehr als das. Die tiefe Hirnstimulation war übrigens ursprünglich für Parkinsonerkrankte indiziert. Im Laufe der letzten ca. 15-20 Jahre wird sie auch für psychiatrische Erkrankungen angewendet.

Eine tolle Stütze während des vergangenen Jahres war natürlich auch OCD Land. Die Seite und die täglich neu erscheinenden Posts auf Instagram haben mich innerlich immer wieder “Aha!“ sagen lassen. So viele wesentliche Aspekte über die Krankheit werden mithilfe von Berichten, der Community (in der Fragen gestellt werden dürfen), Bildern, kurzen Statements sowie Podcasts vermittelt. Endlich, endlich mal eine Seite, die ausschließlich relevante und nützliche Inhalte zur Zwangserkrankung (englisch: Obsessive Compulsive Discorder) bietet. Ich kann vor allem auch die Community empfehlen, in der sich Mitglieder von OCD Land austauschen können, indem sie Fragen über jegliches Thema rund um Zwangserkrankung stellen. Ich selbst habe auch mal etwas gefragt und ziemlich rasch Antworten erhalten.

Meine erste erfolgreiche Psychotherapie

Was auch sehr wichtig zu erwähnen ist: Ich habe mittels meines sehr erfahrenen Psychotherapeuten wichtige Erkenntnisse erlangt, die ich über die monatelangen Sitzungen und vielen Wiederholungen irgendwann richtig aufnehmen konnte.

Was mir da speziell geholfen hat, war die Erkenntnis über die psychische Metaebene. Nicht der Gedanke an sich ist das Problem, sondern der Umgang und die Bewertung. Ich sollte mich daher bei auftretenden Zwangsgedanken immer ganz strikt nicht mit dem Inhalt beschäftigen, sondern “eiskalt” weiter mit dem machen, was ich gerade am Tun war. Ich habe lange Zeit gebraucht, um zu verstehen und zu fühlen, dass darin ein Großteil der Lösung liegt. Gefährlicher Gedanke kommt, löst Angst aus und versetzt mich sofort in eine Art Starre. Und dann war die Aufgabe, zurück ins Hier und Jetzt zu kommen: Was sehe ich vor meinen Augen? Was höre ich? Was bin ich gerade am Tun? Was habe ich heute noch vor?

Klar, der Schmerz der Angst und des Schuldgefühls gehen nicht sofort weg, sie begleiten einen und man muss sie leider aushalten. Aber nach einer bestimmten Weile - bei mir hat es Monate gedauert - erschien Licht am Horizont. Im Prinzip klingt das sehr banal und das ist es am Ende auch. Aber für einen Zwangserkrankten fühlt es sich erst mal schwer an, das auch umzusetzen, da das Grübeln, nachdem ein Zwangsgedanken aufgetreten ist, nahezu automatisch eintritt und praktisch einfach “passiert”.

Mein persönliches Fazit der letzten Jahre mit dem Zwang

  1. In meinem Fall wäre es ohne Medikamente oder THS sicher nicht gegangen,
  2. Das bedeutet nicht (!), dass bei anderen Zwangserkrankten nicht auch allein eine Verhaltenstherapie funktioniert!

Ich denke, dass ein langsames Herantasten wichtig ist. Durch Ausprobieren findet man als Erkrankter irgendwann die richtige Kombination. Dass das mitunter lange dauern kann, ist ebenso normal und ich möchte jeden dazu ermutigen, Geduld zu bewahren.

Ich wünsche allen auf ihrem Weg zwischen dem ständigen Sich-Zusammenreißen, Kämpfen, Weinen und Verzweifeln immer wieder klitzekleine Erfolge! Es geht! Und niemals nach hinten schauen. Nur die Zukunft zählt 😊.

Anmerkung der OCD Land-Redaktion

Obwohl es für die tiefe Hirnstimulation wissenschaftliche Nachweise gibt, ist die Empfehlung der S3-Behandlungsleitlinie dazu sehr konservativ: “Die beidseitige tiefe Hirnstimulation kann unter kritischer Nutzen-/Risikoabwägung bei schwerstbetroffenen Patienten mit Zwangsstörung mit fehlendem Ansprechen auf mehrere leitliniengerechte Therapien durchgeführt werden.“ Es wird also klar empfohlen, eine leitliniengerechte Psychotherapie sowie medikamentöse Standardverfahren durchzuführen, bevor eine tiefe Hirnstimulation in Betracht gezogen werden sollte.

Annette, 33 Jahre

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