Ein positives und angenehmes Leben trotz sexueller Zwangsgedanken
Von Julian, 21 Jahre
Hey du! Es ist schön, dass du dir die Zeit nimmst, meine Lebens- und vor allem Leidensgeschichte durchzulesen. Zu mir: Ich heiße Julian, bin 21 Jahre alt und arbeite als Erzieher.
Rückblickend kann ich feststellen, dass mein gesamtes Leben schon von Zwängen geprägt war. Diese haben mich allerdings nicht so stark eingeschränkt, dass es mir auffiel. Beim Verlassen der Tür rief ich meine Oma an und bat sie, die Haustür von meinem Haus zu kontrollieren (sie wohnte nebenan), obwohl ich wusste, dass sie zu war. Vor dem Achterbahnfahren kontrollierte ich drei- bis viermal hintereinander, ob mein Handy etc. wirklich in der Tasche sind und diese zu ist.
Erst im Jahr 2019 merkte ich prompt, dass etwas nicht mit mir stimmen kann. Auf dem Weg zur Berufsschule entstand auf einmal die Angst, ich hätte vergessen, mir die Zähne zu putzen. Ich wusste, wie dumm dieser Gedanke und die damit verbundene Angst war, weil ich erstens natürlich immer Zähne putze und zweitens den Zahnpasta-Geschmack noch im Mund hatte. Trotzdem ging die Angst nicht weg. Die Sorge, ich könnte Mundgeruch haben und alle anderen würden sich vor mir ekeln, war riesengroß. Aufgrund dessen fing ich an, mir bei Edeka eine Zahnbürste und -pasta zu holen und mir auf die Schultoilette die Zähne zu putzen. Damit dies nicht nochmal passierte, fing ich an, Fotos zu machen, wie ich mir jeden Morgen die Zähne putze. Sollte dieser Gedanke dann nochmal erscheinen, konnte ich mich so rückversichern.
Dies ging über Monate lang gut, aber in den Vordergrund rückten nun Kontrollzwänge. Ich fing an, jedes Elektrogerät, sowie Haustür etc. mehrfach zu kontrollieren und am Ende musste ich auch hier wieder Fotos und Videos erstellen, um sicherzugehen. Dies hielt mehrere Monate an und es wurde durch gezielte Expositionen besser. Ich war glücklich, wieder mehr Leichtigkeit zu haben. Doch dann kam der Zwang im Februar 2021 mit neuer Kraft zurück.
Während des letzten Praktikums vor den Abschlussprüfungen der Ausbildung kam urplötzlich die Angst, ich könnte pädophil sein. Ich war entsetzt über diesen Gedanken und versuchte, ihn wieder loszuwerden, doch er hielt sich fest und blieb. Ich war mir immer unsicher über meine sexuelle Präferenz und wusste nicht, ob ich hetero, bi oder homosexuell sei. Ich tendiere eher zu Männern, finde allerdings auch manche Frauen attraktiv. Diese Unsicherheit nahm sich der Zwang und redete mir ein, ich sei pädophil, pervers und zugleich ein Kinderschänder.
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Mir ging es richtig schlecht und am Morgen jeden Tages kam direkt die Frage auf: „Bin ich pädophil?‘“. Es war wie eine innere Diskussion mit mir selbst. Ich habe noch nie auf Kinder masturbiert oder den Wunsch gehabt, mit Kindern intim zu sein. Rationale Argumente hatten allerdings keine Chance und ein gewisses unbegründetes Restrisiko ließ der Zwang immer da.
Eines Tages schaffte ich es nicht mehr und – Triggerwarnung – ich nahm eine Überdosis. Anmerkung: Es war der größte Fehler aller Zeiten und kann es wirklich niemanden empfehlen. Egal wie schlimm alles ist, das ist keine Lösung. Glücklicherweise konnte ich gerettet werden und danach entschied ich mich freiwillig für eine stationäre Therapie. Und ich bin so stolz auf mich, diesen Schritt gewagt zu haben.
Durch verhaltenstherapeutische Ansätze lernte ich, wie ich dem Zwang die Stirn bieten kann und wieder Herr der Lage werde. Klar war es anstrengend und kräftezehrend, doch nur so konnte ich wieder diese Leichtigkeit in mein Leben bekommen, die ich jetzt wieder habe. Die Angst, pädophil zu sein, dominiert weniger und auch die Zwangshandlungen lassen nach. Ich kann wieder schwitzen, ohne mich zu ekeln. Ich muss mir nicht fünf Mal am Tag die Zähne putzen und kann frei entscheiden. Es gibt gute Tage und schlechtere, aber die guten dominieren. Und das wird bei euch auch so sein!
Der Weg zum Zwanglosen ist nicht einfach und vor allem nicht gerade. Ihr dürft hinfallen, nur müsst ihr wieder aufstehen! Ihr seid stärker, als der Zwang und ihr könnt es definitiv schaffen. Scheut euch nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Menschen verstehen euch und wollen nur helfen. Ich musste auch mehrmals meine ambulante Therapeutin wechseln, weil sie tiefenpsychologisch orientiert war und ich damit nichts anfangen konnte. Doch das Suchen lohnt sich. Gebt nicht auf und stellt euch dem Zwang. Ich glaube an euch und das solltet ihr auch tun!
Liebe Grüße
Julian, 21 Jahre
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