Der Zwang: Ein unbequemer Mantel, der immer bequemer wird

Von Toni, 26 Jahre

Hallo, mein Name ist Toni, ich bin 26 Jahre alt und ich hatte wirklich sehr viele Zwänge in meinem Leben. Von Zwangshandlungen bis zu Zwangsgedanken war sehr vieles dabei. Stark zu kämpfen hatte ich mit meinen Zwängen fast 10 Jahre bis ich dann zum Glück Hilfe bekommen habe.

Ich schreibe diese Zeilen für dich, um dir zu sagen, dass ich dich fühle und verstehe. Dass ich weiß, wie sich das alles anfühlt. Du bist nicht allein, wir sind eine große Community und gehen diesen Weg zur Heilung gemeinsam. Zugleich möchte ich dir mit meinen Zeilen Hoffnung schenken und dir sagen: Ja, es wird besser und du kannst wieder ein schönes Leben führen, in dem Zwangshandlungen und Zwangsgedanken nicht mehr deinen Alltag dominieren.

Nun interessiert dich sicher, wie ich das geschafft hab. All die Tipps, die ich dir gebe, sind Dinge, die mir persönlich stark geholfen haben, freier und besser zu leben. Aber natürlich funktioniert jeder anders und auch du musst schauen, was dir am besten hilft. Bitte verstehe meine Tipps also nur als Inspiration.

Lass dir helfen

Die Überschrift bringt es eigentlich auf den Punkt. Bitte, bitte lass dir helfen. Oftmals schämt man sich, Hilfe zu suchen oder anzunehmen, wenn es um mentale Probleme geht. Doch dafür gibt es absolut keinen Grund. Wenn wir uns das Bein brechen, gehen wir doch auch zum Arzt, oder nicht? Nur ist das eine eine physische Heilung und das andere eine psychische. Ich hätte mir viel Leid erspart und schneller meine Lebensqualität zurückbekommen, wenn ich mir früher therapeutische Hilfe geholt hätte.

Die größte Problematik liegt manchmal auch darin, dass man Angst vor außenstehenden Urteilen hat über das Thema Therapie. Doch das Problem liegt nicht an der Therapie, sondern eher daran, dass man öffentlich nicht genug darüber redet und klarmacht, dass es völlig ok und wichtig ist, sich Hilfe zu holen. So viele Leute haben gewisse Dinge zu verarbeiten - warum denn da allein durchgehen? Nicht umsonst haben wir so viele Leute, die einen Therapieplatz suchen und im Vergleich zu wenig Angebote. In meinem Freundeskreis lassen sich sehr viele therapeutisch helfen, weil jeder so seine Probleme hat. Es ist schön, dass wir darüber reden - so normalisieren wir das Thema immer mehr und bauen die Scham drum herum ab. Also warte nicht und lass dir helfen.

Der Zwang: Unser unbequemer Mantel

Was genau meine ich eigentlich damit? Nun ja, oftmals wenn wir versuchen, mentalen oder physischen Zwangsritualen zu widerstehen, drängen sich einem diverse Gefühle wie Angst, Schuld, Scham und vieles mehr auf. Der Grund, weshalb man meistens den Zwängen nachgibt, liegt daran, dass sich diese unangenehmen Gefühle immer mehr aufdrängen und nicht direkt verschwinden. Manchmal können sie mehrere Stunden und sogar auch Tage anhalten.

Genau da liegt der Knackpunkt. Wir müssen lernen, diese unangenehmen Gefühle zu tragen wie einen unbequemen Mantel - egal wie sehr die Gefühle versuchen, uns zu erpressen. Umso öfter wir das anwenden, desto einfacher wird es. Der Zwang nimmt jedes Mittel um dich wieder ins gewohnte Verhalten zurück zu drängen. Aber eine Sache ist glasklar: Zwänge auszuführen, ist nicht die Lösung.

Exposition und Reaktionsverhinderung (auf englisch abgekürzt: ERP)

Such dir bitte einen approbierten Verhaltenstherapeuten, der sich mit ERP auskennt. Denn das ist der Goldstandard für die Behandlung von Zwängen. ERP hilft dir sehr stark, um deine Zwänge zu heilen. Gehe nicht zu jemandem, der keine Lizenz hat, zu therapieren - nicht dass du hinters Licht geführt wirst und anschließend mehr Probleme hast als vorher.

ERP bedeutet im Grunde, dass wir versuchen, uns unseren Ängsten so gut es geht zu stellen, und anschließend unsere gewohnte Reaktion daraufhin zu verhindern. Jemand, der jetzt zum Beispiel im Bereich des magischen Denkens die Angst hat, dass jemandem was passiert, wenn er nicht einen bestimmten Satz aufsagt, oder ein bestimmtes Ritual macht, der sollte versuchen, genau diese Dinge zu unterlassen. Merke dir: Zwänge auszuführen hält den Zwang am LEBEN.

Akzeptanz und Vertrauen

Um die Zwänge zu heilen, sollten wir unsere Gefühle, Gedanken und andere körperlichen Empfindungen versuchen zu akzeptieren. Akzeptanz bedeutet nicht, dass wir uns damit identifizieren oder das mögen, was wir erfahren. Ganz im Gegenteil, es bedeutet einfach, dass wir die Anwesenheit dieser Empfindungen akzeptieren und nicht mehr bekämpfen und auch nicht mehr überinterpretieren. Denn das Bekämpfen hält den Zwang nur noch weiter unnötig in unserem Leben fest.

Wenn wir mit aller Gewalt versuchen, nicht an einen weißen Eisbären zu denken, dann denken wir zu 100% an einen weißen Eisbären. Stattdessen akzeptiere ich, dass der weiße Eisbär in meinen Gedanken auftaucht bis er irgendwann nicht mehr existent ist. Währenddessen kümmern wir uns um unser Leben und die Dinge, die uns wichtig sind.

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Auch ist es wichtig, in sich selbst und anderen wieder Vertrauen aufzubauen. Versuche mit der Zeit - auch wenn es dir momentan schwerfällt - immer ein kleines bisschen daran zu arbeiten.

Grübeln ist nicht die Lösung, sondern das Problem

Ehrlich gesagt ist Grübeln 'ne einzige Sackgasse. Ich habe immer geglaubt, dass ich - wenn ich lang genug nachdenke - irgendeine Lösung zu meinem Problem finde. Das Problem ist nur, dass es uns nicht dabei hilft, die Probleme zu lösen, sondern vielmehr die Probleme am Leben erhält und alles noch schwerer macht.

Grübeln ist wieder ein Zwang. Seit ich mich von Grübeleien entfernt habe, geht es mir sehr viel besser. Das war auch ein wichtiger Punkt in meiner Heilung. Wichtig ist, Grübeln zu erkennen und zu unterlassen, denn manchmal ist der Zwang raffiniert und will uns weismachen, dass wir jetzt intensiv darüber nachdenken müssen. Wenn es sich zwanghaft anfühlt dann ist es höchstwahrscheinlich auch ein Zwang. Lass dich nicht in die Irre führen.

Wir können ängstlich und zugleich glücklich sein

Diese Erkenntnis war auch ein enorm wichtiger Baustein auf meiner Reise. Jeder, der Zwänge hat, weiß genau, wie sich diese Angst anfühlt, die man verspürt - die Angst, die einen lähmt und einfach fast unfähig macht für alles in seinem Leben.

Diese Art von Angst hat so viel Macht über einen. Doch genau diese Macht müssen wir der Angst entziehen. Auf meiner Reise zu Heilung habe ich angefangen, die Angst zu akzeptieren und sie nicht mehr wegzudrängen. Wenn sie da war, durfte sie da sein. Auch musste ich lernen, dass die Angst, wenn sie da ist, nicht sofort verschwinden muss. Ich gab ihr Zeit, anwesend zu sein bis sie sich mit immer mehr Übung anfing, Stück für Stück in den Hintergrund zu verziehen.

Außerdem lernte ich, dass ich neben Angst noch mehr Dinge fühlen kann, nämlich Freude, Liebe und noch mehr schöne Gefühle. Wir können tolle Momente haben - auch wenn wir uns ängstlich fühlen. Das musste ich erst verstehen. So entziehen wir der Angst die Macht. Schau deinem Angstgefühl ins Auge, Akzeptiere, dass sie da ist, und lass Zeit vergehen. Kümmere dich um die Dinge, die dir wichtig sind und die dir Freude bereiten im Leben.

Sicherheit & Selbstmitgefühl

Die letzten Punkte sind mir auch besonders wichtig. Die Aufgabe des Zwangs ist es, dir immer ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Dass du und die Menschen, die dir wichtig sind, immer sicher sind. Nun ist dieses Gefühl von Sicherheit aber immer nur kurzweilig - bis der nächste Zwang um die Ecke kommt. Und außerdem hält es den ganzen Zwangszyklus am Leben. Hinzu kommt noch, dass der Zwang dir eiskalt ins Gesicht lügt. Denn er verkauft dir etwas, das nicht existiert, und das ist Sicherheit. Die Sicherheit, dass - wenn du schön alle Zwänge ausführst - nichts passiert. Aber das ist einfach eine Lüge. Nichts ist 100% sicher.

Ein weiterer wichtiger Baustein war für mich, Unsicherheit zu Akzeptieren. Wenn ich Zwangsritualen widerstanden habe und mich dieses Gefühl von Unsicherheit ereilte hatte, dann musste ich lernen, dieses Gefühl zu akzeptieren, und nicht ständig zu versuchen, Sicherheit herzustellen. Ich weiß, das ist nicht immer einfach, aber es wird dir auf dem Weg zur Heilung helfen. Versuch dem Zwang die Stirn zu bieten.

Neben all der Arbeit, die du leistest, um den Weg zur Heilung anzutreten, bitte ich dich auch, mit dir gut umzugehen. Sei gut zu dir. Versuche, mit dir Mitgefühl zu haben und einen liebevollen Umgang mit dir zu pflegen. So sind deine Chancen noch höher, dein Ziel zu erreichen.

Natürlich ist es sehr wichtig, aus Fehlern zu lernen, aber sich ständig fertigzumachen ist auch keine gute Strategie auf dem Weg zur Heilung. Achte drauf, wie du mit dir umgehst. Frage dich, ob du genauso mit jemandem umgehen würdest, der dir wichtig ist. Studien haben auch gezeigt, dass ein besserer Umgang mit sich selbst den Therapie-Erfolg anhebt.

All die Tipps kommen aus Erfahrungen, die ich gemacht, und Lektüren, die ich gelesen habe. Bin ich heute komplett zwangsfrei? Nein das nicht, aber ich führe ein sehr freies Leben und der Zwang ärgert mich nur noch sehr selten. Dank dem erlernten Wissen, weiß ich, was ich tun muss. Dennoch lerne ich nie aus. Deshalb lege ich dir ans Herz, auch außerhalb der Therapie soviel es geht über deine Zwänge zu lernen.

Gib nicht auf. Egal, wie schwer es manchmal ist, es wird besser von Zeit zu Zeit. Wichtig ist es, geduldig zu sein auf dem Weg zur Heilung.

Ich hoffe, das konnte dir helfen. Ich will, dass du weißt, dass du das packst und du stärker bist als du glaubst. Ich glaube an dich. Ich bin in Gedanken bei dir und schenke dir viel Kraft auf deiner Reise zur Heilung.

Meine Lektüren, die mir geholfen haben

  • “Self-Help for Your Nerves” von Dr. Claire Weekes
  • “The Self-Compassion Workbook for OCD” von Kimberley Quinlan
  • “Tyrannen in meinem Kopf“ von Sally M. Winston & Martin N. Seif

Instagram Accounts für Zwänge

  • @ocdfriends
  • @ocdland
  • @ocdnotmeawareness
  • @obsessively_anxious
  • @the_ocdproject
  • @youranxietytoolkit (sie ist die Autorin des zweiten Buchs)
  • @alexandraisobsessed
  • @obsessivelyeverafter
  • @ocdexcellence

Podcasts

  • Zwanglos von OCD Land
  • The OCD Stories

Alles Liebe

Toni, 26 Jahre

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