Zwangserkrankungen und Tabuthemen im Journalismus (Teil 1)

Von Alicia Schweizer und Burkhard Ciupka-Schön

Alte Schreibmaschine auf einem hölzernen Tisch.

Wie kann journalistische Berichterstattung dazu beitragen, Tabu-Themen, um psychische Erkrankungen aus dem Verborgenen zu holen? Alicia Schweizer spricht mit dem Spezialisten für Zwangsstörungen Burkhard Ciupka-Schön darüber, wie Medieninhalte diesen Themen gerecht werden können, weshalb Medienarbeit auch für Therapeut:innen und Betroffene wichtig ist und was er sich von Journalist:innen in der Berichterstattung wünscht, um Tabus zu brechen.

Erklärung vorab – Was ist eine Zwangserkrankung/OCD?

Betroffene einer Zwangserkrankung, oder auf englisch „Obsessive Compulsive Disorder“ (OCD), leiden an wiederkehrenden Gedanken, Impulsen und Vorstellungen, die aufdringlichen Charakter haben und Unbehagen und Angst hervorrufen. Bemühungen, diese Gedanken zu unterdrücken, bleiben erfolglos und steigern oft sogar ihre Stärke (Quelle: Deutsche Gesellschaft für Zwangserkrankungen). Diese aufdringlichen Gedanken sind ego-dyston. Das heißt, sie sind entgegen dem, was Betroffene als Teil ihres Selbst und ihres Wertesystems empfinden. Betroffene entwickeln in diesem Zuge Handlungen und Rituale, um den quälenden Charakter dieser aufdringlichen Gedanken zu mildern, sogenannte Zwangshandlungen. Dabei kann es sich um sichtbare, physische Handlungen handeln, wie Waschen oder Kontrollieren. Jedoch gehören auch mentale Rituale, wie zwanghaftes Grübeln, Eigen- und Fremdrückversicherung oder mentales Überprüfen mit dazu.

Das Themenspektrum dieser Zwangsgedanken ist sehr breit. Zu den verbreiteten aufdringlichen Gedanken gehören beispielsweise die Angst, Mitmenschen Schaden zufügen zu können sowie aufdringliche aggressive und sexuelle Gedanken. Auch die Befürchtung, eine körperliche Erkrankung zu haben oder durch verunreinigte Gegenstände kontaminiert zu werden, gehören zu den häufigen Zwangs-Themen. Weitere Zwänge beziehen sich auf die Angst, eigentlich pädophile Neigungen haben oder den/die Partner:in nicht aufrichtig zu lieben.

Darstellung von Unterformen der Zwangsstörungen als Eisberg.

Zwangserkrankungen haben viele Gesichter.

Die Zwangshandlungen, die Betroffene ausführen, um diese quälenden Gedanken zu lindern, verstärken diese jedoch langfristig. Deshalb sind die Gedanken nicht das eigentliche Problem der Erkrankung, sondern die extremen Reaktionen der Betroffenen darauf.

Zwangserkrankungen werden in der kognitiven Verhaltenstherapie aus diesem Grund nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen effektiv mit Exposition mit Reaktionsverhinderung behandelt. Dabei setzen sich Betroffene bewusst angstauslösenden Situationen und Gedanken aus, ohne ihre darauffolgenden Handlungen und Rituale durchzuführen.

Die Zwangsstörung - Ein Tabuthema?

In vielen Kreisen und Bereichen der Gesellschaft sind psychische Erkrankungen noch immer ein Tabu-Thema, über das wenig gesprochen wird. Das führt dazu, dass innerhalb der Bevölkerung große Wissenslücken über viele Krankheitsbilder vorhanden sind. Betroffene halten sich oft im Verborgenen. Viele wissen selbst nicht, dass ihre Symptome Teil eines behandelbaren Krankheitsbildes sind und suchen deshalb auch nicht nach therapeutischer Hilfe. Ein Beispiel hierfür sind Betroffene einer Zwangserkrankung. Geschätzt suchen 2/3 der Betroffenen keine professionelle Hilfe auf. Im Durchschnitt vergehen bis zu 6 Jahre, bis Zwangserkrankte sich das erste Mal in Kontakt mit Psychotherapeut:innen begeben. Das liegt auch daran, dass öffentlich wenig darüber gesprochen wird, was Zwangserkrankungen eigentlich sind. Wie kann journalistische Berichterstattung dazu beitragen, Tabu-Themen, um psychische Erkrankungen aus dem Verborgenen zu holen?

Herr Ciupka-Schön, erzählen Sie mir zu Anfang doch etwas über sich und ihren Werdegang. Wie sind Sie zu ihrem Schwerpunkt Zwänge gekommen?

Ciupka-Schön: Burkhard Ciupka-Schön ist mein Name. Ich bin 59 Jahre alt, habe jetzt mein dreißigstes Berufsjubiläum gefeiert und die meiste Zeit meiner Berufstätigkeit habe ich mich bislang mit Zwangsstörungen beschäftigt. 1995 war ich einer der Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen, wo wir sowohl Unterstützung und Gründung von Selbsthilfegruppen betrieben als auch die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit zu Forschung im Bereich Zwangsstörung motiviert haben. Wir haben in erster Linie Betroffene an Selbsthilfegruppen, niedergelassene Therapeuten im ambulanten Bereich und Kliniken, die sich auf Zwangsstörungen spezialisiert waren, vermittelt. Weil auch immer wieder Journalisten angerufen haben - Printmedien, TV und Rundfunk - bin ich in diesen fünf Jahren auch immer wieder journalistisch tätig gewesen.

Journalistische Formate für Aufklärungsarbeit nutzen

Wie sahen diese journalistischen Tätigkeiten damals aus und was war ihre Motivation dahinter?

Ciupka-Schön: Wir haben erstaunlich viel journalistisch gearbeitet. Wir haben eine Vereinszeitschrift zu allen möglichen Themen rund um die Zwangserkrankung herausgegeben, die vierteljährlich erschienen ist. Betroffene sind da zu Wort gekommen, neue Forschungsansätze wurden vorgestellt, Kliniken haben sich dort vorgestellt und ich habe auch selbst immer wieder kleine Artikel über Themen, mit denen ich auch über das Beratungstelefon in Berührung gekommen bin, veröffentlicht. Ich bin auch immer wieder in Interviews mit den Medien Print, Funk und Fernsehen aktiv gewesen, zum Beispiel in Live-Sendungen und Talkshows. Meistens war es dafür erforderlich, sogenannte Originaltöne von Betroffenen mitzubringen. Das heißt, es mussten auch immer Betroffene selbst mit dabei sein. Nur allein ein Experte in einer Talkshow - das wäre nicht gegangen und deswegen war es immer die Kombination: Ein Experte begleitet eine Betroffene, die dann vor großem Publikum über das Thema Zwangserkrankung berichtet.

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Medienarbeit holt Betroffene aus ihrem Schattendasein

Und ihr Ansporn war es, das Thema bekannter zu machen und mehr Menschen, die selbst betroffen sind, zu erreichen?

Ciupka-Schön: Ja, ganz genau! Ich glaube, einer der Anstöße für die Gründung der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen im Jahr 1995 war eine aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis - und zwar, dass die Zwangserkrankung viel häufiger war als man bis dahin angenommen hatte. Damals ging man so von 1,5 % aus. Mittlerweile geht man sogar von 4 % Zwangserkrankten in der Bevölkerung aus, während man in allen Veröffentlichungen Zwänge für ein seltenes Randphänomen gehalten hat. Zwangserkrankte, das muss man vorab sagen, neigen dazu, im Verborgenen zu leben. Man kann auch sagen: „Zwänge, das ist die versteckte Erkrankung“. Deshalb stellte sich schnell heraus, dass gerade Medienarbeit, eigentlich eine eher unübliche Arbeit für Psychologen, das Mittel der ersten Wahl ist, um die Betroffenen aus ihrem Schattendasein zu holen und sie zu motivieren, sich Hilfe zu suchen. Denn ganz allein, ohne professionelle Hilfe, geht das in den meisten Fällen leider nicht.

OCD Land - Aufklärung und Unterstützung für Betroffene

Seit einiger Zeit sind Sie aktiv bei OCD Land. Was genau ist das für eine Plattform, wie sind Sie dazu gekommen und welche Ziele verfolgen Sie dort?

Ciupka-Schön: Martin Niebuhr, der Gründer von OCD Land, kam vor etwa 1 ½ Jahren mit der Idee auf mich zu, eine Gesundheits-App zu programmieren. Es stellte sich schnell heraus, dass Martin selbst OCD-Betroffener ist und dann sagte ich zu ihm: „Es ist ja auch wichtig, das ganze professionell und mit therapeutischer Unterstützung aufzuziehen“.

Neben der Möglichkeit, dass man therapeutische Übungen mit dieser Gesundheits-App macht, haben wir sehr viel Zeit investiert und Mühe aufgebracht, um Texte zu schreiben. Und zwar Texte, die verständlich sind und trotzdem einer wissenschaftlichen Betrachtung standhalten können. Das ist etwas, was sehr viele Betroffene angesprochen hat, weil wir sehr viel Wert daraufgelegt haben, auf verständliche Art und Weise zu motivieren und Mut zu machen, die eigentlich entscheidenden Schritte zu gehen. Diese sind therapeutisch gesehen erst mal sehr einfach, sie werden von den Betroffenen aber häufig nicht gemacht. Deshalb ist die gesamte Therapiearbeit eine Motivationsarbeit. Deswegen habe ich mein Buch auch „Das Mutmachbuch“ genannt. Und die Motivation und das Mutmachen, das setzt schon mit der Medienarbeit ein. Die Medienarbeit hat im Vorfeld, vor der Therapie als Mutmach-Instrument, eine ganz wichtige Rolle.

OCD Land richtet sich sowohl an Betroffene als auch an Psychotherapeut:innen

Sie schreiben auch Artikel für den Blog von OCD Land habe ich gesehen. Haben Sie dort bestimmte Themenschwerpunkte?

Ciupka-Schön: Wir haben das in der Anfangsphase so gemacht, und das setzen wir auch so fort, dass immer ein Betroffener einen Artikel schreibt und ihn von einem Profi, also einem Therapeuten, gegenlesen, ergänzen und verbessern lässt. Umgekehrt, wenn ich als Therapeut einen Artikel schreibe, wird der auch von einem Betroffenen oder einer Betroffenen gegengelesen, der auf Dinge aufmerksam macht, für die wir als Therapeuten vielleicht nicht immer ganz sensibel sind, wie zum Beispiel die Selbststigmatisierung.

Es ist ganz wichtig, dass die Artikel, die wir schreiben, aus der Feder dieser beider Perspektiven kommen. Ich denke, auf diese Art und Weise ist uns etwas gelungen, was sowohl Betroffene als auch die Kollegen anspricht. Die Themen, die wir besprochen haben, waren zum Beispiel: „Was ist eigentlich eine Verhaltenstherapie?“, oder auch „Welche Medikamente kann man einnehmen?“. Jetzt sind wir gerade in einer Phase, in der wir versuchen, die Spannbreite der verschiedenen Zwänge, die es gibt, abzudecken.

Klicke HIER, um Teil 2 des Interviews zu lesen. 

Klicke HIER, um Teil 3 des Interviews zu lesen.

Über die Autoren
Alicia Schweizer

Alicia Schweizer ist selbst OCD-Betroffene und setzt sich dafür ein, psychische Erkrankungen öffentlich zu entstigmatisieren. Im Zuge ihres Masterarbeitsprojekts hat sie sich mit der medialen Darstellung psychischer Erkrankungen befasst. Dafür hat sie mit Burkhard Ciupka-Schön auch darüber gesprochen, wie journalistische Medien dazu beitragen können, OCD-Betroffene aus ihrem Schattendasein herauszuholen.

Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.