Wie mir die Klinik half, meine Hyperbewusstseins-Zwangsgedanken anzunehmen

Von Laura, 28 Jahre

Ich kann mich noch genau an den Tag im Urlaub erinnern: Ich stand mit meinem Freund im Meer, sah das Glitzern im Wasser und spürte die Sonne auf meiner Haut. Alles war ruhig und friedlich – für mich eigentlich ein perfekter Tag. Ich war unglaublich glücklich, dass ich nach einer sehr turbulenten und belastenden Zeit mit meinem Freund im Urlaub war.

Um es vorwegzunehmen: Ich hatte mit sehr vielen gesundheitlichen Problemen in Bezug auf meinen Körper zu kämpfen gehabt und war auch mental an meine Grenzen gekommen. Eigentlich konnte jetzt alles nur bergauf gehen: Doch gerade, wenn man am angreifbarsten ist, freut sich der Zwang am meisten und zieht gerne wieder bei dir ein.

Eigentlich war der Moment im Wasser perfekt, doch eine gewisse Vorahnung machte sich in mir breit und schnürte mir die Luft ab. Ich hatte das große Bedürfnis, meinem Freund zu erzählen, dass ich in der Vergangenheit Erfahrungen mit Zwangsgedanken gemacht habe. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich kaum jemandem davon erzählt und zu wenig Wissen über Zwangsgedanken. Es machte mir einfach Angst.

Ich wusste, dass ich vor allem in der 7. Klasse stark mit unerwünschten Gedanken zu kämpfen hatte und des Öfteren „Gedankenspiele” durchführen musste, damit meinen Eltern nichts passiert. Beispielsweise musste ich immer aus einer gewissen Tasse trinken oder so lange einen Satz bzw. ein Bild im Kopf korrigieren, bis es sich richtig angefühlt hat. Mit der Zeit verloren die Gedanken immer mehr an Bedeutung und ein fast uneingeschränkter Alltag war möglich. Da ich mich jedoch nie mit dem Thema beschäftigt hatte und mich zwischendurch immer noch merkwürdige Gedanken quälten, konnte ich nur ahnen, dass das Thema „Zwang” noch in mir schlummerte.

Unter Tränen erzählte ich meinem Freund die Geschichte und wunderte mich, warum es mich so mitnahm. Klar waren die zwei Jahre in der Mittelstufe unerträglich, aber aktuell hatte ich doch eigentlich gar nicht mehr mit Zwangsgedanken zu tun.

Trotzdem nutzte ich den Urlaub und las jedes Forum und jeden Artikel, den ich über Zwangsgedanken fand. Hier schon mal als Tipp: Lest bitte nur Literatur, der ihr vertrauen könnt und die hilfreich ist. In meinem Fall hat mir die Internetrecherche nämlich noch mehr Angst bereitet und mir ein Feld mit vielen neuen Zwangsgedanken zur Verfügung gestellt, die ich schlimmer fand als das magische Denken.

Ich glaube tatsächlich, dass die Angst vor einer nächsten Katastrophe und meine geschwächte körperliche Verfassung dafür verantwortlich waren, dass die Zwangsgedanken nach dem Urlaub mit voller Wucht zurückkamen. Aber im Endeffekt habe ich die Antwort nicht und sie bringt dich auch nicht weiter. Du kannst den aktuellen Zustand auch nicht ändern, sondern nur annehmen und aktiv verändern. Jegliches Grübeln nach dem „wieso oder warum” bringt dich aus deiner Situation nicht heraus.

Neben magischen Zwangsgedanken hatte ich kurze Zeit auch aggressive Zwangsgedanken bis hin zu Hyperbewusstseins-Zwangsgedanken. Besonders eine Mischung aus Ohrwürmern und Bildern, die ich als quälend empfand, und der Fokus auf die Atmung machten mir sehr zu schaffen.

Allerdings wurde es noch schlimmer: Als ich mir bewusst machte, dass man einen Hyperfokus gefühlt auf alles haben kann, richtete sich der Fokus auf Körperbewegungen und das Denken über meine Gedanken.

Ihr fragt euch, wie sich das Hyperbewusstsein anfühlt?

Eine Hyperbewusstheits-Zwangsstörung fühlt sich so an, dass es einen quält und ich in gewisser Hinsicht, Angst vor dem Denken und den Wahrnehmungen bekommen habe. Man kommt nicht davon los, auf Prozesse zu achten, die der Körper sonst automatisch tätigt und bei dem er keine Hilfe braucht – sei es das Blinzeln, Atmen oder Denken.

Es fing an, dass ich fast sekündlich alle Körperbewegungen und Gedanken scannte. Auf einmal bekam ich große Angst, als ich feststellte, was der Körper alles gleichzeitig macht. Vorgänge, die ich zuvor nie hinterfragt hatte und als selbstverständlich betrachtet habe. Auf einmal war da diese neu geöffnete Tür, von der man niemals vermutet hätte, einen Eingang zu finden, und von der mein Zwang besessen war.

Ich sage ganz bewusst, dass mein Zwang „besessen” war und nicht ich. Ich wollte einfach nur, dass es aufhört und es mich nicht ständig weiter beeinträchtigt und quält. Ich wollte weder darüber nachdenken, noch all diese Bewegungen, die sonst automatisch laufen, durchgehend scannen.

Es war, als ob der Zwang minütlich im Kopf kommentiert, was ich gerade bewege oder tue. Ich fühlte mich gelähmt vom Zwang.

Für einen Menschen ohne Zwangsgedanken mag das jetzt sehr komisch klingen, aber mir machten diese Gedanken immer mehr Angst.

Gerade beim Hyperbewusstsein ist nicht der Fokus auf dem Atmen / Blinzeln / Denken das eigentliche Problem. Das Problem ist die Angst vor deinem befürchteten Horrorszenario: Du wirst dein Leben nicht mehr genießen können, wenn du den Hyperfokus nicht mehr loswirst. Du wirst irgendwann verrückt.

Aber genau das ist der Punkt: Je mehr es einen quält und je größer die Angst über die Gedanken und dein Horrorszenario werden, desto lauter werden die Zwangsgedanken und umso stärker die Wahrnehmungen. Der Zwang wird umso lauter, je mehr du dich vor ihm fürchtest.

Eigentlich kann man das auf alle Zwangsgedanken anwenden.

Wie ich schon eingangs schrieb, hatte ich auch eine Zeit lang mit magischem Denken zu tun und auch da verlor ich die Angst, als ich mich das erste Mal mit Büchern über Zwangsgedanken auseinandergesetzt habe. Am meisten half mir der Satz: „Du bist nicht dein Denken”.

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Also warum konnte ich das nicht auf mein Hyperbewusstsein anwenden?

Manchmal können Bücher sehr hilfreich sein, aber manchmal ist man auch schon an einem Punkt, an dem der Zwang dich zu sehr im Griff hat. Du verstehst zwar die Theorie, aber die Umsetzung scheitert.

Genau an diesem Punkt war ich. Mein Alltag war so sehr eingeschränkt, dass ich es morgens vom Bett, nur noch auf das Sofa geschafft habe. Mein Freund zwang mich zu essen, aber Appetit hatte ich schon lange nicht mehr. Jeder Tag war geprägt von Angst, Verzweiflung, Tränen und Hoffnungslosigkeit. Auch bei der Arbeit war ich schon einige Wochen krankgeschrieben.

Schnell war mir bewusst, dass ich diesen Alltag keine Minute mehr fortführen möchte und ging freiwillig ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) auf die Station für Angst- und Zwangsstörungen. Es war ein sehr großer Schritt für mich und ich hatte wirklich Respekt vor einem Klinikaufenthalt, aber heute kann ich sagen, dass es mir wirklich besser geht.

Die Therapeuten merkten schnell, dass ich schon viel Ahnung von Zwangsgedanken hatte, jedoch lernte ich zum ersten Mal, wie wichtig die Angstreduktion und die Akzeptanz war.

Neben sehr guten Einzel- und Gruppentherapien gab es eine gute Mischung aus Sport, Ergotherapie und Entspannungstechniken. Auch im UKE ist der Mittelpunkt der kognitiven Verhaltenstherapie das Expositionstraining mit Reaktionsmanagement. Aber auch das metakognitive Training zu den Denkverzerrungen half vielen Patienten, sich auf anschauliche und teilweise humorvolle Weise mit dem Denken über das Denken auseinanderzusetzen und Denkverzerrungen auf den Grund zu gehen.

Zusätzlich bietet das UKE eine neue Studie aus Norwegen an, das sogenannte „Bergen 4-Day Treatment”. Dabei handelt es sich um eine neue viertägige Kompaktbehandlung bei Zwangsstörungen mit intensivem Expositionstraining.

Zudem half mir auch der Kontakt zu anderen Patienten und das Gefühl, nicht allein mit meinen Gedanken zu sein. Meine Zweifel, dass mir nicht geholfen werden kann und dass die Hyperbewusstseins-Zwangsstörung gerade in Deutschland nicht weit verbreitet und somit nicht behandelbar ist, wurden entkräftigt.

Ich kann nur jedem ans Herz legen, sich Hilfe zu suchen und Unterstützung anzunehmen. Es ist nicht schlimm, wenn man irgendwann an einem Punkt sein sollte, wo man es nicht mehr allein schafft.

Ich dachte auch mein Leben lang, ich schaffe alles allein. Aber sich einzugestehen, dass man Unterstützung annehmen muss, zeigt viel mehr Stärke.

Mir geht es noch lange nicht hundertprozentig gut, aber ich erobere mir meinen Alltag von Tag zu Tag mehr zurück und habe vor allem eins gelernt: Ich bin der Boss und nicht mein Zwang. Er kann gern noch auf meiner Schulter sitzen und zwischendurch blöde Kommentare abgeben, aber er wird mich nicht mehr in einen lähmenden Zustand bringen. Dafür habe ich viel zu viel gelernt.

Angst ist nur ein Gefühl und je mehr du verstehst, dass Zwangsgedanken nicht mit Angst verbunden werden müssen, desto unwichtiger werden diese Gedanken für dein Gehirn. Es ist immer wieder möglich, Denkverzerrungen neu zu strukturieren.

Ich weiß, wie lang und anstrengend dieser Weg sein kann und wie viel Leid man zu tragen hat, aber lasst euch gesagt sein: Es lohnt sich. Zwänge sind gut therapierbar und nach jeder schlechten Phase kommt auch wieder Licht am Ende des Tunnels.

Laura, 28 Jahre

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