Wie ich gewalttätige Gedanken gegenüber meinem Kind überwinden konnte
Von David, 31 Jahre
Mein Name ist David, ich bin 31 Jahre alt und habe die Diagnose Zwänge/Zwangsgedanken erhalten. Anfang 2023 begann ich, bewusst beängstigende und gewalttätige Zwangsgedanken zu entwickeln. In den Jahren zuvor war bei mir bereits eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit schweren Depressionen und suizidalen Gedanken diagnostiziert worden, weshalb ich anfangs dachte: „Kommt da wieder etwas zurück?“
Meine ersten Zwangsgedanken waren zunächst gar nicht so schlimm. Es fing an, dass ich bei alltäglichen Dingen, die unschön waren oder mit Gewalt zu tun hatten, an meinen Sohn (8), meine Frau oder Menschen, die mir nahestehen, dachte. Vor allem aber richteten sich meine Gedanken gegen meinen Sohn.
Beispiele:
- Beim Fußballspielen dachte ich plötzlich an den Kopf meines Sohnes statt an den Ball, sowohl beim Zusehen als auch beim gemeinsamen Spielen.
- Mein kleines Taschenmesser, das ich immer im Rucksack hatte, machte mir plötzlich Angst. Ich dachte, ich könnte jemanden damit verletzen oder die Kontrolle gegenüber meinen Sohn verlieren. (Damals vermied ich den Umgang mit dem Messer und warf es weg – ein Fehler, wie ich heute weiß.)
- Nachrichten, egal ob in sozialen Medien, Zeitungen oder im Fernsehen, über Gewalt, Mord oder Vergewaltigungen wurden von meinem Zwang „aufgeschnappt“. Mein Zwang versuchte mich zu überzeugen, dass ich zu denselben Taten fähig wäre.
- Selbst banale Kochvideos, bei denen Menschen Zwiebeln oder Fleisch schnitten, lösten in mir den Gedanken aus, dass ich mein Kind zerstückeln könnte. Eine harte Kost, besonders weil ich zu dieser Zeit noch nichts von Zwangsgedanken wusste.
- Dann kamen auch noch suizidale Gedanken hinzu. Ich dachte, ich müsse mich umbringen, um meine Familie vor mir zu schützen. Wie während meiner Depression waren diese Gedanken hartnäckig, und ich war fast dankbar dafür, weil sie weniger schlimm waren, als die Vorstellung, meiner Familie etwas anzutun. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer und ich verlor allmählich den Verstand.
Google und mein Therapeut
In meiner Verzweiflung begann ich zu googeln, was mit mir los war. Relativ schnell stieß ich auf Berichte und Bücher über Zwangsgedanken, die erklärten: „Zwangsgedanken sind für die Betroffenen extrem belastend, aber grundsätzlich ungefährlich.“ Das war meine erste Erleichterung. Für ein paar Tage schien alles besser zu sein – bis die Gedanken, viel schlimmer als zuvor, zurückkamen.
Ich kontaktierte meinen Therapeuten, den ich schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Bei unserem Termin schilderte ich ihm vorsichtig meine Gedanken, unsicher, ob es sich wirklich um Zwangsgedanken oder um eine monströse Seite von mir handelte.
Er erkannte schnell die Situation und informierte mich über Zwangsstörungen sowie die Konfrontationstherapie, die mir helfen könnte. Leider lehnte ich diese Hilfe ab. Der bloße Gedanke, mich bewusst mit meinen „kranken“ Gedanken zu konfrontieren, löste Panik in mir aus. Trotzdem verließ ich die Praxis beruhigt, da ich meinem Therapeuten vertraute, und für eine Weile schienen die Zwangsgedanken verschwunden.
Kurz und knackig: Mein Absturz im Jahr 2024
Gut ein Jahr später bekam ich zu meinen bis dato normalen Zwangsgedanken plötzlich noch extreme Ängste. Und die Gedanken wurden extremer. Es scheint so, als dachte sich mein Zwang: „So, du bist hartnäckig, aber ich bin hartnäckiger.“ Zum damaligen Zeitpunkt war das auch so. Bis jetzt.
Ich hörte damals in den Nachrichten, dass ein Staatsanwalt seinen 8-jährigen Sohn im Schlaf vergewaltigt hat und darauf plädierte, dass er schlafgewandelt sei.
Ab diesem Tag lag ich abends im Bett, weinte und hatte Angst und Panik, dass ich so etwas Schreckliches tun könnte. Plötzlich war der Zwang da, ich müsse jetzt nochmal zu meinem schlafenden Sohn gehen, ihm auf die Stirn küssen und mir beweisen, dass Ich Ihn liebe. Ich überlegte sogar, seine Tür nachts zuschließen zu lassen, damit so etwas nicht passieren kann. Zum Glück habe ich das nicht gemacht, da ich klar genug war, um zu erkennen, dass es sich hierbei um mein Problem handelte und mein Sohn damit nicht konfrontiert werden soll.
Ich räumte den Messerblock weg, hörte auf zu kochen und fasste kein Messer mehr an, weil Messer zu meinem größten Problem geworden waren. Ich begann, alles zu vermeiden – sogar mein Kickboxtraining. Jedes Mal, wenn ich meinen Trainer ansah, dachte ich: „Dieser Mensch bringt dir bei, dein Kind zu töten.“ Was früher ein Sport war, erschien mir nun wie Gewalt. Alles, wirklich alles, triggerte mich: Im Zug dachte ich, ich könnte jemanden auf die Gleise schubsen. Die alte Dame im Rollstuhl? Ich könnte sie schlagen. Messer, Scheren, sogar Löffel – alles, womit man auf absurdeste Art Gewalt ausüben konnte, wurde durch meinen Zwang zu einer Gefahr.
Also begann ich, mich vollständig aus meiner Welt zurückzuziehen. Ich spielte Aufbauspiele am PC, schaute dabei Finanzvideos und versuchte, mir alles so schwierig und anspruchsvoll wie möglich zu machen, nur um für einen Moment keine Zwangsgedanken zu haben. Inzwischen war ich wieder depressiv und wollte nur noch, dass die Tage vergehen und diese Gedanken endlich aufhören.
Klinikaufenthalt 2024, die Anfänge meiner Konfrontationstherapie und Entspannung bis zum heutigen Tag
Mittlerweile bemerkte mein Umfeld, wie schlecht es mir ging – allen voran meine Frau. Auch mir selbst wurde das zunehmend bewusst und heute bin ich unglaublich dankbar, dass meine Ärztin so geistesgegenwärtig reagierte und mir nahelegte, einen stationären Aufenthalt in einer Psychiatrie in Betracht zu ziehen. Vier Tage später ließ ich mich einweisen.
An dieser Stelle möchte ich kurz klarstellen: Ich werde nichts über Medikamente berichten, da jeder Arzt anders vorgeht und die Behandlung bei jedem Patienten individuell abgestimmt werden muss. Ich möchte nicht, dass jemand diesen Bericht liest und sich sagt: „Dem Typen haben die Medikamente geholfen, das brauche ich auch.“ Was ich aus meiner Erfahrung heraus definitiv sagen kann, ist: Konfrontationstherapie ist das A und O. Bei Zwangsgedanken und Zwängen ist sie langfristig die erfolgreichste Methode, um besser damit zu leben.
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Hier im Klinikum bekam ich natürlich erstmal wieder Rückversicherung über Rückversicherung. Die Therapie und das Reden taten gut, aber irgendwie ging es mir immer schlechter. Hier möchte ich ein bisschen vorspulen, denn ich denke, die meisten interessiert eher das Wie und Was – und nicht, wie es mir persönlich ging und was ich den ganzen lieben langen Tag so gemacht habe.
Meine Bezugstherapeutin schlug mir erneut die Konfrontationstherapie vor und schickte mich in verschiedene Gruppen wie ACT, Ergotherapie und Achtsamkeit. Ich nahm alles dankend an, weil ich aus jedem Bereich etwas Positives mitnehmen konnte. Nur mit der Konfrontationstherapie wollte ich mich nicht anfreunden. Der Gedanke, absichtlich meine Zwangsgedanken zu denken oder auszusprechen, widerstrebte mir völlig. Ich wollte doch, dass die Gedanken verschwinden, und nicht, dass sie präsent bleiben. Ein großer Fehler, wie ich später erkannte.
Eines Tages kam ich nach einer Belastungserprobung am Wochenende von zuhause wieder zurück in die Klinik - völlig aufgelöst, weinend und verzweifelt. Da waren sie wieder: meine Zwangsgedanken, die Zweifel und die Katastrophenbilder, die sich in meinem Kopf abspielten. Ich war überzeugt, dass alle sich irren und ich keine Zwangsgedanken habe, sondern Psychosen bekomme, schizophren werde und mein Kind töte. Dass ich den Rest von meinem Leben in eine forensische Klinik komme und mein Kind tot ist! Sogar den Zeitungsartikel hatte ich bereits vor Augen: „Der loyale, fürsorgliche Typ aus der Nachbarschaft, von dem niemand gedacht hätte, dass er zu so etwas fähig ist.“
Genau darum ging es dann auch in meinem Einzelgespräch mit meiner Therapeutin. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die ersten 50 Minuten der Sitzung, aber die letzten 10 Minuten blieben mir sehr präsent – denn sie waren der Anfang von allem Guten, was danach kam. Meine Therapeutin sagte folgenden Satz: „Herr XXX, es gibt noch keinen Zeitungsbericht über Sie.“
Das war meine erste echte Konfrontation – keine Rückversicherung mehr. Auch nach mehrfacher Aufforderung weigerte sie sich, den Satz zurückzunehmen oder zu erklären. Sie ließ ihn einfach so stehen und gab mir keine Bestätigung, dass alles in Ordnung sei. Sie sagte auch nicht, dass sie sich versprochen habe. Und genau in diesem Zustand ließ Sie mich aus der Stunde gehen.
Da war er also: Der Zweifel, dass der Zwang tatsächlich Recht haben könnte… Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ich etwas Schreckliches tue und zum Monster mutiere. Sogar meine Therapeutin hatte es gesagt: „Es gibt NOCH keinen Zeitungsbericht.“
Die folgenden 36 bis 48 Stunden waren die schlimmsten, die ich je erlebt habe. Doch irgendwann kam der Moment, in dem ich mich aufraffte und erkannte: Ich brauche niemanden, der mir ständig versichert, dass ich meinem Kind nichts antue oder jemanden absichtlich verletze. Ich brauche niemanden, der mir sagt: „Du bist ein guter Mensch, du kümmerst dich toll um dein Kind, du bist für deine Frau da. Du kannst nicht mal eine Fliege erschlagen.“
Mit dieser Erkenntnis ging ich in die nächste Einzelstunde: „Hey, Sie haben mich konfrontiert. Mir ist das von ganz alleine klar geworden. Ich bin bereit für die Konfrontationstherapie – ich habe sogar Bock drauf.“
Das war der Wendepunkt. Mir wurde bewusst, dass ich den Zwang am Schopf packen und ihn in meinen Rucksack stecken muss – ihn mit mir tragen, aber nicht von ihm beherrscht werden. Kein Vermeiden mehr, keine Ausreden. Ich hörte auf, zu versuchen, keine Gedanken zu haben. Stattdessen ließ ich die Gedanken zu, nahm sie an und, wenn es gut lief, stritt ich sogar mit ihnen darüber, welcher Gedanke der schlimmste war. Ich zog sie ins Lächerliche und lernte, einen gesunden Abstand zu ihnen zu bekommen.
Der Anfang vom Ende meiner Zwänge
Ich begann damit, meinen Zwangsgedanken einen Namen zu geben. Da meine Therapeutin, meine Frau und ich Fans von Harry Potter sind, wurde dies ein Teil meiner Therapie. Innerlich rief ich oft „Riddikulus!“ und zog meine Zwangsgedanken ins Lächerliche, oder ich sprach sie als „Dementoren“ an. Ich fing an, meine Gedanken aufzuschreiben und gab ihnen bewusst Raum – aber nur dann, wenn ich es wollte. Um meine innere Unruhe zu bewältigen, ging ich viel in den Wald. Das sogenannte „Waldbaden“ half mir sehr (das mache ich heute noch – in der Hängematte im Wald, wo ich manchmal Konfrontationstherapie mache oder einfach nur entspanne).
Meine erste richtige, geführte Konfrontationstherapie war ein bemerkenswertes Erlebnis. Ziel davon ist es, zu lernen, dass die Angst und Anspannung, die während der Zwangsgedanken auftreten, von allein nachlassen, wenn wir die Gedanken einfach da sein lassen und nicht zwanghaft versuchen, sie loszuwerden.
Meine – und ich muss es erwähnen – schwangere Therapeutin legte ein Messer auf den Tisch zwischen uns. Ich musste es in die Hand nehmen, meine Zwangsgedanken äußern, das Messer gegen sie und mich selbst richten und dabei nicht abschweifen, sondern voll präsent bleiben. Es war ein Albtraum, gerade wegen ihres Babybauchs. Die Panik und Angst schossen ins Unermessliche, und ich war oft kurz davor, die Übung abzubrechen. Doch mit ihrer Motivation zog ich es durch. Nach etwa zehn Minuten änderten sich meine Gefühle. Ich konnte sogar lächeln, und es war mir fast peinlich, mit einem Messer dazusitzen. Die Angst verschwand, meine Anspannung ließ nach, und die Gedanken wurden immer weniger belastend. Wir beendeten die Sitzung mit einem positiven Gefühl.
Die gesamte Übung wurde mit meinem Handy aufgenommen, und meine tägliche Hausaufgabe war es, mir die Aufnahme jeden Tag anzuhören, solange, bis es langweilig wurde – einmal täglich für 10-15 Minuten.
Nach meinem Klinikaufenthalt begann ich, intensiv mit der Konfrontation zu arbeiten. Ich nahm bewusst wieder Messer in die Hand, verbrachte bewusst Zeit allein mit meinem Sohn. Auch mit meinem ambulanten Therapeuten mache ich regelmäßig Konfrontationen, sowohl zu alten als auch zu neuen Zwängen. Es fühlt sich gut an, und es wird von Tag zu Tag besser.
Für alle, die diesen Bericht bis hierhin gelesen haben: Therapie, Konfrontation und darüber sprechen, nicht vermeiden – und sich Hilfe holen. Das sind die Schlüssel. Ungewollte Gedanken hat jeder Mensch, der einzige Unterschied von uns Betroffenen liegt in der Bewertung dieser Gedanken. Gedanken werden nicht zu Taten. Rückversicherungen helfen nur kurzfristig, aber Therapie verspricht langfristigen Erfolg. Ich hoffe, ich kann den einen oder anderen motivieren, der unter Zwangsgedanken oder Zwängen leidet, sich zu konfrontieren, um die negativen Gefühle langfristig zu lindern.
Mittlerweile macht mir die Konfrontation mehr Spaß, als dass sie mir Angst bereitet – denn sie hilft mir! Die Gedanken sind nicht weg, aber sie sind längst nicht mehr so belastend und sind mit Sicherheit um gute 80 % zurückgegangen. Ich werde also weiterhin alles tun, was mir hilft: genug Zeit für Ruhe und Natur einplanen, Sport treiben, um mich körperlich auszupowern, und die Konfrontationstherapie fortsetzen. Selbstfürsorge ist kein Egoismus. Sprecht mit eurem Partner, euren Eltern oder euren besten Freunden darüber. Erklärt es ihnen. Holt euch Unterstützung und versucht, Stress zu minimieren. In Ruhe und Entspannung regenerieren wir. Dadurch wurden auch meine Zwänge besser.
Vielen Dank fürs lesen und viel Erfolg bei der Konfrontationstherapie!
David, 31 Jahre
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