Wie ich den Umgang mit meiner Zwangsstörung erlernte, verlernte und wieder lerne
Von Henry, 23 Jahre
Schon als Kind war ich oft ängstlich und besorgt, weswegen mich meine Eltern früh zu Pädagogen und Psychologen schickten. Ich habe viele Verhaltenszüge, die häufig bei Betroffenen von Zwangsstörungen auftreten: übertrieben hohe Standards, übertriebenes Verantwortungsbewusstsein und die sogenannte „behavioral inhibition“, wegen der ich mich gerade als Kind beim Kontakt mit neuen Personen oder Orten zurückgezogen oder versteckt habe.
Richtig begonnen hat die Störung im Jahr 2013, als ich 13 Jahre alt war. Ich habe mich in dieser Zeit viel mit Horrorfilmen und Creepypastas (Horror-Geschichten) beschäftigt, da diese in der Schule gerade angesagt waren und ich mitreden wollte. Gerade die Creepypastas haben oft einen verstörenden Charakter und drehen sich häufig um das Thema Verrücktwerden.
Ich habe in dieser Zeit auch das erste Mal mit Schulkameraden Marihuana ausprobiert, fühlte mich aber extrem schuldig und genötigt, es meiner Mutter zu beichten. Diese war enttäuscht von mir und da passierte es: Auf einmal tauchte eine der Creepypasta-Geschichten in meinem Kopf auf, in der ein Junge verrückt und zu einem Mörder wird. Ich bekam Panik, zitterte, musste mich übergeben und nahm das als Indizien, dass mir das Gleiche wie in dieser Geschichte passieren könnte.
In der darauffolgenden Zeit drängten sich die Geschichten und Bilder immer wieder auf, wodurch ich Angst hatte, dass mit mir doch etwas nicht in Ordnung sein müsste. Ich war in dieser Zeit schon bei einem Kinderpsychologen, der leider tiefenpsychologisch gearbeitet hat, wodurch es nicht zur Diagnose der Zwangsgedanken kam. Ich vermied in Zukunft Horrorfilme und -geschichten, da ich Angst hatte, verrückt oder zu einem Mörder zu werden. Ich hatte auch immer mal wieder aggressive Zwangsgedanken, Hyperbewusstseins-Zwangsgedanken und natürlich die Zwangsgedanken rund um das Thema Verrücktwerden.
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In meiner Jugend ging es immer mal auf und ab mit der Zwangsstörung. Nach dem Abitur wurde es dann besonders schlimm. Ich hatte aggressive Zwangsgedanken, die sich auf mich selbst und auf andere bezogen. Dadurch habe ich mich gefühlt wie ein Sünder, obwohl ich nie mich selbst oder andere verletzt hatte. Ich könnte das nie tun. Ich begann selbstständig zu recherchieren und wusste irgendwann, dass man das, was ich hatte, Zwangsgedanken nannte - konnte mir aber immer noch wenig darunter vorstellen.
Ich schlief schlecht und entwickelte eine Depression. Das nährte meinen Zwang, weil ich Angst hatte, unter Schlaflosigkeit oder im Schlaf unbewusst mir selbst oder anderen etwas antun zu können. Es ging so weit, dass ich nachts eine Panikattacke bekam und meine Familie bat, einen Notarzt zu rufen, weil ich solche Angst hatte, die Kontrolle über mich zu verlieren.
Ich entschied mich dann, in eine Klinik zu gehen. Dort wurden mir eine Zwangsstörung, eine generalisierte Angststörung und eine akute Depression diagnostiziert. Der Chefarzt der Klinik hat zum Glück die S3-Leitlinie zur Behandlung von Zwangsstörungen mitverfasst, wodurch ich von der Behandlung sehr profitierte. Ein SSRI und das metakognitive Training haben mir am meisten geholfen.
In den folgenden Jahren ging die Symptomatik unter ambulanter Therapie bei einem Verhaltenstherapeuten immer weiter zurück - bis der Zwang durch private Krisen und Stress im Studium wiederkam.
Es ist schwer zu beschreiben, aber obwohl ich so viel über die Krankheit weiß, fiel ich wieder auf die Fallstricke des Zwangs rein. Mein Therapeut hat dann vor allem schematherapeutisch mit mir gearbeitet. Das hat mir aber nicht nachhaltig geholfen, sondern meinen Zwang eher noch genährt. Ich habe mich fälschlicherweise eher auf andere Baustellen konzentriert und den Zwang irgendwie hingenommen. Vermeidungs- und Kontrollverhalten sowie Neutralisierungen habe ich als notwendig erachtet und leider nicht als Zwang erkannt.
Aktuell bin ich wegen der alten Zwangsgedanken und ein paar weiteren (Hyperbewusstheits-Zwangsgedanken, Zwangsgedanken an vergangene Schmerzen) wieder in einer Klinik und habe erkannt, dass ich den Zwang beim Namen nennen muss. Da ich weiß, dass ich den Zwang schon einmal gezähmt habe, werde ich das wieder schaffen. Es zeigt mir aber, dass die Akzeptanz der Störung extrem wichtig ist, um nicht wieder auf diese hereinzufallen.
Henry, 23 Jahre
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