Vom Albtraum zur Akzeptanz: Mein Leben mit Zwangsgedanken nach der Geburt

Von Marica, 33 Jahre

Ich bin 33 Jahre alt und leidenschaftliche Mama von zwei kleinen Jungs. Das erste Mal hatte ich etwa sechs Wochen nach der Geburt meines ersten Kindes im Februar 2020 bewusst mit sehr belastenden Zwangsgedanken zu tun. Mittlerweile weiß ich, dass mein Zwangsleben unbewusst schon in meiner frühen Kindheit begann.

Aber zunächst einmal zum Jahr 2020: Mein Sohn war etwa sechs Wochen alt, als ich plötzlich den absurden Gedanken hatte, dass ich mein Baby aus dem Fenster werfen könnte. Keine Viertelstunde später überkam mich meine erste richtige Panikattacke. Ich ging zum Fenster, um sicherzustellen, dass ich dies nicht tun könnte, interpretierte das aber so, dass ich ein gefährlicher Mensch bin, der tatsächlich so etwas tun könnte. Dies ist die Zusammenfassung einiger furchtbarer Wochen, in denen ich vor Angst überflutet an nichts anderes mehr denken konnte. 

Ich vertraute mich meiner Mutter an, die sagte: „Oh nein, geh bitte mit deinem Kind zu deinem Mann, nicht dass etwas Schlimmes passiert.“ Super, genau das, was man in dieser Situation braucht. Ich bekam bestätigt, dass ich gefährlich bin und hatte unmenschliche Angst um mein Baby. 

Der totale Zusammenbruch und die Suche nach Hilfe

Es folgte der totale Nervenzusammenbruch und ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Mein Mann verstand absolut nicht, was mein Problem war, und so ging ich zu meinem Hausarzt. Ich sah mich schon im Gefängnis. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte meinem Arzt, dass ich panische Angst habe, meinem Kind etwas anzutun. Denn nach dem „Fenster-Gedanken“ zuckte ich auch bei jedem Küchenmesser zusammen und wollte keine Sekunde mehr mit meinem Baby allein sein, da ich davon ausging, die Kontrolle verlieren zu können.

Mein Arzt sagte mir sofort, dass ich Zwangsgedanken habe und ich meinem Kind niemals etwas antun könnte. Im Gegenteil, ich liebe mein Baby so abgöttisch, dass ich versuche, 100 % Sicherheit zu schaffen. Da es diese Sicherheit nicht gibt, sucht sich mein Gehirn gerade einen eigenen Weg, um sich diese „Sicherheit“ zu beschaffen. Ich bekam eine Überweisung zum Psychologen, und ich muss sagen, dass es mir einige Wochen später deutlich besser ging. Ich gewann mein Selbstvertrauen zurück und hatte ein paar Skills, um mir selbst zu helfen.

Es geht aber noch weiter.

Wie schon geschrieben, war dies meine erste bewusste Erfahrung mit solchen Gedanken, durch die ich mich selbst nicht wiedererkannte und bei denen ich dachte, mein Leben sei vorbei. Ich schreibe das hier in zwei Sätzen, aber es beinhaltet wirklich wochenlanges Leiden. Das Ausmaß an Gefühlen kann man sich wahrscheinlich nur vorstellen, wenn man selbst betroffen ist oder war. 

Frühere Zwangshandlungen: Rückblick in die Kindheit

Durch das Auseinandersetzen mit dem Thema „Zwang“ wurde mir auch klar, dass ich schon viel früher Zwangshandlungen ausgeführt habe. Hier ein paar Beispiele aus meiner frühen Kindheit:

  • Immer dreimal auf die Toilette gehen. Wenn es sich dann noch nicht „richtig“ angefühlt hat, bin ich auch teilweise zwölfmal auf die Toilette gegangen.  
  • Immer alle Namen aus der Familie aufsagen, damit niemandem etwas passiert.  
  • Eine Krankheit googeln, damit ich sie nicht bekomme.  
  • Immer bei einer schwangeren Frau das Wort „Angst“ sagen, damit ich nicht als ihr Kind auf die Welt komme und vorher sterben muss.

Das klingt wirklich verrückt und absurd, aber das ist ja die Sache mit solchen Gedanken. Mir ist bewusst, wie absurd solche Vorstellungen sind, und trotzdem konnte ich es nicht lassen, diese Gedankengänge durchzuführen.

Das Wiederaufflammen der Zwangsgedanken

2021 ist mein zweiter Sohn zur Welt gekommen und mir ging es prima! Einen Winter später allerdings waren wir oft krank, wie so viele Menschen zu dieser Zeit. Die Kinder haben uns einen Virus nach dem anderen nach Hause geschleppt, und mich hat es einmal richtig erwischt. Ich lag mit einer beginnenden urologischen Sepsis im Krankenhaus. 

Mir ging es körperlich schnell besser, aber einige Symptome blieben und ließen sich einfach nicht erklären: ständiger Schwindel, Übelkeit, Schweißausbrüche und eine zunehmende Traurigkeit, die sich in mir ausbreitete. Ich zog mich immer mehr zurück und war irgendwann nicht mehr fähig, unbeschwert das Haus zu verlassen. 

Nach gefühlt 500 Arztbesuchen und Untersuchungen (MRT, Magenspiegelung) sagte mir endlich ein Arzt, dass ich „einfach nur“ Angst habe. Ich suchte daraufhin verzweifelt einen Therapieplatz, fand aber einfach nichts Geeignetes. Ich hatte es leid, ständig über mein inneres Kind zu reden, und hatte immer das Gefühl, dass dies alles nichts mehr bringt.

Die Eskalation im Oktober 2023: Als die Zwangsgedanken die Oberhand gewannen

Einen Tag im Oktober 2023 schlug dann der Zwang mit voller Wucht in die geöffnete Wunde meiner Psyche. Es ging wie folgt:  „Du musst dich trennen und deine Familie verlassen, es hat alles keinen Sinn mehr, du solltest dir die Adern aufschneiden…“ Es war der Horror. 

Zu meiner bereits generalisierten Angst kamen Panik und das Gefühl der Unwirklichkeit (Derealisation/Depersonalisation) - bis hin zur kompletten Dissoziation. Ich war kaum noch ansprechbar, und mein Mann wusste sich auch nicht mehr zu helfen und rief unseren Hausarzt an, der dann drei Stunden später bei uns im Wohnzimmer saß und versuchte, mich irgendwie aufzubauen. Tief in mir hatte ich die Hoffnung, dass alles gut werden würde und die Gedanken nicht dem entsprechen, was ich wirklich will. An Zwangsgedanken hatte ich trotz meiner Erfahrungen im Jahr 2020 aber nicht gedacht.

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Zusätzlich kam bei mir ein mit 15 Jahren erlebtes Trauma hoch. Ich war mit all den starken Gefühlen aus der Jugend überfordert. Mir fiel es wirklich schwer, die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden.

Ein Weg zur Heilung: Der Aufenthalt in der Tagesklinik

Also sind wir zwei Tage später in eine psychiatrische Klinik gefahren. Ich dachte wirklich, das war’s, mein Leben ist vorbei.

Ich war schlussendlich sieben Wochen in einer Tagesklinik. So konnte ich weiterhin für meine Kinder da sein (das war mir immer das Wichtigste und hat mir auch unheimlich geholfen, aufzustehen, wenn ich keine Kraft mehr hatte). Der Aufenthalt in der Klinik war das Allerbeste, was mir zu dem Zeitpunkt hätte passieren können. Die Psychiatrie ist ein warmer Ort, und all die Menschen dort haben ihre eigene Geschichte.  

Wir haben viel über den Umgang mit Gefühlen gelernt. Und mir wurde beigebracht, zu akzeptieren und werteorientiert zu handeln. Auch der Austausch mit anderen Patienten, auch wenn alle ganz unterschiedliche Beschwerden hatten, tat so gut. Ich fühlte mich sicher und lernte, mit meiner Angst umzugehen. 

Derealisation, Hyperbewussheit, existenzielle Zwangsgedanken und die Angst, schizophren zu sein

In den Einzelgesprächen ging es viel um mein erlebtes Trauma und Dinge aus der Kindheit, die unbedingt mal aufgeräumt werden mussten. Nach den sieben Wochen fühlte ich mich wieder lebensfähig. Dennoch war da eine Sache, mit der ich nicht klargekommen bin. Ich hatte eine Hyperwahrnehmung und war ständig dabei, meine eigenen Gedanken so zu analysieren und zu überdenken, dass mich wieder Fragen beschlichen wie „Ist das eigentlich alles real?“ - und zack, verabschiedete ich mich wieder in eine Derealisation. 

Mir kam dieser Zustand so hässlich und kaum auszuhalten vor. Ich steigerte mich hinein, eventuell doch schizophren zu sein. Daraufhin kamen wieder und wieder die Zweifel, ob ich je wieder glücklich sein kann und ob es nicht vielleicht sogar gefährlich wäre, meine eigenen Kinder zu behüten, die ich doch so abgöttisch liebe und für die ich mein Herz hergeben würde. Ein Teufelskreis. Das Schlimme daran war, dass ich dachte, nach all dem Gelernten aus der Klinik müsste doch alles gut sein, also welches Puzzleteil fehlt denn nur?

Meine wunderbare Therapeutin aus der Klinik betreute mich auch weiterhin einmal die Woche, und wir erarbeiteten neben der Traumatherapie eine neue Sichtweise auf diesen Zustand (diesen Kobold in mir), der mich eigentlich nur beschützen will. 

Gleichzeitig stieß ich im Internet auf OCD Land, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich fühlte mich so verstanden, und es machte mir so viel Hoffnung, die Erfahrungsberichte der anderen zu lesen. 

Wie mir Akzeptanz geholfen hat, meine Zwangsgedanken zu überwinden

Auch für mich war das Akzeptieren meines Dilemmas der Weg in die richtige Richtung. Das hat mir unbewusst auch in der Klinik schon sehr geholfen.

Was heißt akzeptieren für mich? Ja, ich werde dann halt mein Leben lang einen Fokus auf meine Wahrnehmung haben, kann mich aber trotzdem darauf konzentrieren, meinen Kindern heute eine gute Mutter zu sein und ein Eis essen zu gehen. Akzeptieren heißt für mich auch, sich etwas Gutes tun bzw. nach seinen Werten handeln. Es geht also darum, an meiner Gelassenheit zu arbeiten und darauf zu vertrauen, dass sich mein Zustand normalisiert. 

Ich denke, es ist unheimlich schwer zu akzeptieren, aber man muss betonen, dass unser Gehirn eine super Selbstheilungskraft hat, und mit der Akzeptanz stellt sich ein gewisses „Egal“-Gefühl ein. Das Gehirn “regeneriert” sich dadurch von allein wieder. Ich muss aber betonen, dass es bei dieser Akzeptanz nicht darum geht, jetzt ein Leben lang diesen Zustand zu akzeptieren, sondern nur eine Weile. Bei mir normalisierten sich die Missempfindungen fast nach vier Tagen komplett.

Schlussendlich hat mir die Erkenntnis über OCD so viel Erleichterung verschafft, dass ich wirklich aufatmen konnte. Nach dem Motto: „Wenn das Kind einen Namen trägt, kann ich mich besser davon distanzieren.” 

Es gibt immer noch Phasen, in denen der Zweifel in mir sehr stark ist, aber durch meine neu gewonnene Perspektive auf diesen Zustand komme ich immer besser damit zurecht. Sicherlich wird es immer wieder herausfordernde Zeiten geben, aber diese gehören wohl zu jedem Leben dazu - ob mit OCD oder ohne. Wenn ich den Fokus auf all das Wunderbare lege, das mich umgibt, erkenne ich, wie lebenswert das Leben mit all seinen Herausforderungen ist.

Durch meine Zeit in der Klinik habe ich so wunderbare Menschen kennengelernt, und mit meinem Bericht hier hoffe ich, auch anderen eine große Portion Hoffnung schenken zu können. 

Es ist machbar und es wird besser!

Marica, 33 Jahre

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