Tinnitus, Atmung und „Pipi-Zwang“: Überwindung meiner Hyperbewusstheits-Zwangsstörung

Von Kathrin, 48 Jahre

Ich habe mich seit langer Zeit nicht mehr mit OCD Land beschäftigt. Warum? Weil ich gar nicht mehr darüber nachgedacht habe. Ist das nicht wunderbar? Dass das jemals wieder so sein könnte, war eine lange quälende Zeit gar nicht vorstellbar für mich.

Im Jahr 2021 fing das Drama an. Im April bekam ich eine Entzündung im Intimbereich. Für viele wahrscheinlich bekannt, aber peinlich und unangenehm. 

Ich erinnerte mich sofort daran, dass ich in meiner Jugend schon mal eine Entzündung mit starken Schmerzen hatte. Damals konnte keine Ursache gefunden werden und trotzdem hatte ich das Ganze 18 Monate lang. Und von einem Tag zum nächsten war es damals dann verschwunden. Hoffentlich ist es diesmal nicht auch wieder so lange. Was könnte das für meine Beziehung bedeuten?

Es kam, wie es kommen musste: Kein Arzt fand etwas. Ich konnte kaum noch sitzen. Ich hatte den schlimmsten Urlaub meines Lebens. Ich achtete nur noch auf die Symptome. 

Ich bekam unterschiedlichste Salben verschrieben und es wurde immer schlimmer, weil ich auf diesen Salben-Mix allergisch reagierte. Völlig verzweifelt fand ich dann eine Hautärztin, die mir helfen konnte. Und kaum als es allmählich besser wurde (und sich auch meine angstvolle Stimmung verbesserte), bekam ich von jetzt auf gleich einen Tinnitus auf beiden Ohren. 

Ich war zerstört und konnte nur noch auf das Pfeifen in meinen Ohren achten. Und das alles passierte mir, die so viel Wert auf Ruhe legt, die die Stille liebt. Was ist, wenn der Tinnitus nie mehr weggeht? 

Eine Panikattacke folgte der nächsten. Kortison machte alles nur noch schlimmer. Ich reagierte darauf mit Herzrasen und noch mehr Angst. Ich schlief elf Nächte am Stück nicht und nur ein Beruhigungsmittel brachte mir ein bisschen Ruhe. Da ich aber gelesen hatte, dass man hiervon schnell abhängig werden kann, setzte ich es nach neun Nächten ab. 

Ich reagierte schnell und ließ mich innerhalb von zwei Wochen auf Selbstkostenbasis in eine psychosomatische Klinik einweisen. Ich war hochdepressiv. Ich war weder in der Lage, meine Koffer zu packen, noch sonst einen Gedanken an etwas anderes zu "verschwenden". Meine Kinder waren mir egal. Ich lag nur noch da und wartete, dass es endlich zur Klinik ging.

Wie mein Zwang seinen Fokus vom Tinnitus aufs Schlucken und Atmen richtete

Dort angekommen, wurde mir viel über den Tinnitus beigebracht. Über Akzeptanz und so weiter. 

Aber der Tinnitus war recht schnell gar nicht mehr das Thema. Dort war ein Mädchen als Patientin, das nicht mehr schlucken konnte. Was, wenn ich das auch noch bekommen würde? Das hatte ich auch in meiner Jugend gehabt. Nicht so extrem, aber störend. 

Ich achtete nur noch darauf, wie ich aß und wo im Mund ich das Essen kaute. Ich aß extra vorsichtig, um zu überprüfen, ob ich noch schlucken konnte. Ich hatte von nun an Angst vor jeder Mahlzeit. Und ich hatte wieder Panikattacken.

Die Ärzte nahmen das leider nicht ernst: Ich bekam weder Medikamente (weil ich auf eines mit einer Lichtallergie reagiert hatte) noch eine entsprechende Therapie. Ich war ja wegen dem Tinnitus dort. Der interessierte mich allerdings gar nicht mehr - was für die Ärzte ein Erfolg war. 

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Als ich wieder zu Hause war, machte ich Atemübungen, die mir in der Klinik beigebracht wurden. Und da kam das Nächste: Ich konnte nicht aufhören an meine Atmung zu denken. 

Jeder Atemzug war von nun an kontrolliert. Ich hatte nachts das Gefühl, zu ersticken. Ich kam in die nächste Hölle. Ich war nur noch am Weinen. 

Ich liebte es, zu schlafen, da war alles gut. Erst beim Aufwachen fing der Albtraum an. In jeder wachen Minute dachte ich nur noch an meinen Atem. Ich wusste gar nicht mehr, wie man "richtig" atmet. Wurde ich jetzt verrückt? 

Ich verfiel noch mehr in Depressionen. Ich fing an, über das Thema zu googeln. Dort fand ich dann so Tipps, wie "Lenk dich ab!", "Guck Fernsehen" oder "Nach 3 Wochen ist das wieder weg". Aber es waren ja jetzt schon vier Wochen!

Wie ich herausfand, dass ich eine Hyperbewussheits-Zwangsstörung hatte – und was mir schließlich geholfen hat

Zum Glück bin ich auf ein YouTube-Video von Sarina gestoßen. Da erklärte ein junges Mädchen exakt das, was ich grade durchmachte. Ich hatte also eine Zwangserkrankung. 

Ab diesem Zeitpunkt begann ich, mich mit Büchern über das Thema einzudecken. Ich bekam ein angstlösendes Antidepressivum verschrieben. Außerdem suchte ich mir einen Therapeuten. Dieser konnte mir allerdings überhaupt nicht helfen. Die Therapie brach ich daher nach sechs Wochen ab. 

Dann fand ich diese Seite (OCD Land). So viel Wissen! So viele Tipps! So viel Verständnis! 

Ich begann mit Expositionsübungen und irgendwann hatte ich meine Ängste im Griff. Ich habe gelernt, dass es gar nicht schlimm ist, an die Atmung zu denken. Nur meine Einstellung, dass es so nicht sein soll, war der Fehler. Mich nervte das mit der Atmung zwar noch, aber es wurde weniger. 

Andere Zwänge kamen noch dazu - am Ende sogar die Angst, dass ich mir absichtlich in die Hose pinkeln könnte. Aber ich hatte begriffen, dass mein Umgang mit den Gedanken falsch war. Ab sofort machte ich Expositionsübungen, unterstützt von einem ganz wunderbaren Therapeuten, der die Therapie mit mir online durchführte. 

Nach und nach kam die Akzeptanz: Es ist halt grade so wie es ist. Mach das Beste draus. Leb dein Leben - zur Not mit den Gedanken, zur Not mit der Angst. Aber lebe es, mach Urlaube, geh zur Arbeit. Freu dich wieder auf schöne Dinge! Unterlasse Zwangshandlungen wie Grübeln, im Internet recherchieren oder beim „Pinkelzwang“ Einlagen benutzen. Tu so, als hättest du gar keinen Zwang. Fake it, till you make it! 

Seit Januar 2024 brauche ich keine medikamentöse Unterstützung mehr. Ich lebe so wie vor Beginn der Zwangserkrankung. Ich bin sogar glücklicher als vorher, weil ich weiß, was ich kann. Ich kann Dinge besser akzeptieren. 

Neue Zwangsgedanken sind bisher nicht mehr dazugekommen. Die alten Zwangsgedanken klopfen häufig an, aber stören mich nicht. Es sind halt nur Gedanken. Es gibt selten mal einen schlechten Tag, aber den hat ja nun wohl jeder. Ich meditiere viel, aber nicht wegen der Gedanken, sondern weil ich mich mittlerweile sehr viel mit solchen Themen beschäftige. Und dass ich dabei auf meine Atmung achte, ist wunderbar. Auch das Pfeifen im Ohr nehme ich kaum noch wahr. Und wenn es gefühlt lauter wird, weiß ich, dass ich eine Auszeit brauche. 

Ich möchte euch einfach Mut machen. Ich bin glücklicher und vor allem zufriedener als ich es mir je geträumt hätte. Und mit dem richtigen Wissen schafft das jeder!

Kathrin, 48 Jahre

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