ROCD: Wie mich der Zwang an meiner Beziehung zweifeln ließ

Von Emilia, 39 Jahre

Direkt nach meiner zweiten Elternzeit trat ich einen neuen Job an. Ich hatte mich umorientiert und konnte mit Null Vorkenntnissen im IT-Bereich als E-Commerce-Manager anfangen. Meine Abteilung bestand aus meinem Chef und mir. Schon am ersten Tag war es komisch. Mein Chef begrüßte mich zwar, führte mich aber nicht, wie man das am ersten Tag macht, durch die Abteilung. Keiner sonst schien mich zu bemerken. Keiner nahm mich mit in die Mittagspause. Ich bekam nur ein Blatt als Einführung. „Irgendwas stimmt nicht.", dachte ich und fühlte das mir schon lange vertraute Angststechen in der Brust. So vergingen die nächsten sechs Wochen. Mein Chef überließ mich den ganzen Arbeitstag mir selbst und ich konnte sonst keine Kontakte in dem Unternehmen knüpfen. Aus einem ängstlichen Gedanken wurde ein Monster, das mich nur noch in lauter Panik leben ließ. „Du bist ein nichts, wenn andere dich nicht beachten." Dieser Satz hämmerte Tag und Nacht in meinem Kopf und raubte mir den Schlaf. Ich nahm meinen Mut zusammen und bat meinen Chef zum Gespräch. Ich sagte ihm, wie ich mich fühlte.

Von da an änderte sich plötzlich alles. Er stellte einen zweiten Schreibtisch in sein Büro und ließ mich an allen seinen Aufgaben teilhaben. Er gab mir sinnvolle Aufgaben und erklärte mir Zusammenhänge, die ich nicht verstand. Plötzlich interessierten sich auch die anderen Kollegen für mich und ich fand die Gemeinschaft und Anerkennung, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte. Meine Angst fiel von mir ab und wurde von wachsender Euphorie über die neue Arbeit abgelöst. Ich stand unter Adrenalin. Aber diesmal glücklich schwebend über all die Aufmerksamkeit und die Dinge, die ich immer mehr lernte. Meinem Chef schien nichts wichtiger zu sein, als mich zufrieden zu stellen. Er nahm mich zu allen seinen Terminen mit und bald hatte ich den Ruf der „Löwenbezwingerin" - eine Frau, die es geschafft hat, mit ihm zusammen zu arbeiten. Mein Selbstbewusstsein schien unendlich groß zu werden vor lauter Anerkennung. Und ich band diesen Zustand an diesen Mann. In meiner Vorstellung hatte er mich dazu gemacht, was die Menschen in mir sahen und was ich sah. Am Wochenende erwischte ich mich dabei, den Montag herbeizusehnen, obwohl ich die Zeit mit meinen Kindern und meinem Mann bisher immer als erfüllend empfand. Dieses neue Arbeitsleben war nur sehr aufregend. Das zu Hause schien langweilig dagegen.

Eines Tages, nach der Weihnachtsfeier, kam es dazu, dass ich mit meinem Chef alleine in der Bar zurückblieb. Wir redeten über unsere Kinder, sein Haus und über Kollegen. Auf dem Rückweg gestand er mir, dass ich ihn an eine Freundin aus der Vergangenheit erinnere. Er deutete an, eine Affäre mit ihr gehabt zu haben und erwähnte, ich sei ihr sehr ähnlich. An diesem Abend schrillten alle meine Alarmglocken. Was wollte er mir mit dieser Geschichte sagen? War ich zu weit gegangen? Hatte ich die Grenze des beruflichen Kontexts überschritten? Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, ließ mich nicht los.

Ich stellte ihn zur Rede. Weil es schon beim ersten Mal geholfen zu haben schien, sprach ich auch dieses Mal offen über meine Gefühle, dass ich den Eindruck hatte, abhängig von seiner Anerkennung zu sein und dass ich mir mehr Abstand wünschte. Durch dieses Gespräch erhoffte ich mir, eine Balance zwischen meinem bis dahin eigentlich immer harmonischen und wunderschönen Familienleben und meinem Beruf zu finden.

Dieses offene Gespräch bewirkte jedoch das Gegenteil. Mein Chef gestand mir, dass er sich in mich verliebt hatte. Dieses Geständnis führte bei mir zu Panik. Ich fragte mich, ob ich mich auch verliebt hatte. Und jedes Mal, wenn ich diese Frage nicht beantworten konnte, überkam mich eine neue Welle der Panik. Da mein Chef kein Problem in der Situation sah und nichts ändern wollte, sah ich für mich nur noch den Ausweg in einer sofortigen Kündigung. Ich hatte Angst, wenn ich einen Tag länger bliebe, eine Affäre zu beginnen. Ich fühlte mich fremdgesteuert und nicht mehr als Herrin meiner Handlungen und Gefühle. Das wäre in meinen Augen das Schlimmste, was ich jemals hätte tun können. Ich setzte es einem Mord gleich. Denn zu Hause wartete mein Mann, mein bester Freund, meine Liebe, die schon seit 15 Jahren unangezweifelt bestand. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher und versuchte meine Panik dadurch zu lindern, indem ich meinem Mann alles beichtete. Dieses „Alles" bestand aus der Annahme, dass ich mich womöglich in meinen Chef verliebt hatte. Ich war mir zwar nicht sicher, aber ich hatte eine Liste an Argumenten gesammelt, die dafür sprachen. Das erste Mal im Leben sah ich meinen Mann weinen. Er verstand die Welt nicht mehr, denn wir hatten nie zuvor Probleme gehabt und er hatte es nicht kommen sehen.

Am Tag darauf verließ ich das Unternehmen. Ich wollte diesen Alptraum hinter mich bringen und endlich wieder mein altes Leben zurück. Doch die Panik packte mich noch fester. „Du hast nicht mehr genug Gefühle für deinen Mann!", hämmerte mir durch den Kopf. Jedes Mal, wenn dieser Gedanke kam, strengte ich mich an, Argumente für oder dagegen zu finden. Ich hörte auf zu schlafen und zu essen. Ich ging kaum noch aus dem Haus und weinte vor Erschöpfung, wenn die immer wiederkehrende Panik nachließ. Ich weinte um mein Leben, um meine Liebe und um all das, was ich verloren zu haben glaubte. Ich hatte Angst, Männer anzusehen, geschweige denn mit ihnen zu sprechen, denn in meiner Vorstellung bestand die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, mich in sie zu verlieben. Um die Panik loszuwerden, schrieb ich Listen. Ich sammelte Argumente für oder gegen diese Beziehung. Und wenn ich keine Punkte mehr aufschreiben konnte, fing ich wieder von vorne an. Ich telefonierte endlos mit Freundinnen und meiner Mutter, die mir alle versicherten, dass es nicht sein konnte, die Liebe für meinen Mann zu verlieren. Diese Rückversicherungen reichten für ein paar Minuten, vielleicht für mehrere Stunden, dann brannte die Frage wieder dringend in meinem Kopf. Ich googelte endlos nach Antworten von Paartherapeuten. Mir ging es aber nicht besser, sondern schlechter. Nachts war es am schlimmsten. Zwei Mal war meine Angst so unerträglich, dass ich meinen Mann weckte, um ihm zu sagen, dass wir uns sofort trennen müssten. Da er auch nicht mehr wusste, was zu tun war, zog er sich an, um zu gehen. Ich warf mich vor ihn auf den Boden und flehte ihn an zu bleiben, weil ich ohne ihn nicht leben konnte. Beim zweiten Mal fuhr er mich am Morgen danach auf eigenen Wunsch in die Psychiatrie. Ich erzählte die Geschichte einer etwas unterkühlten hochschwangeren Ärztin. Ihre Antwort war: "Liebe kann manchmal gehen. Das ist normal." Mit diesen Worten und einem Rezept für ein Antidepressivum ließ sie mich nach Hause gehen. Wir wussten nicht mehr weiter. Wir fühlten uns allein, unverstanden und verlassen.

Kurz darauf vereinbarte mein Vater einen Termin bei einer seiner Bekannten. Sie war Therapeutin. Ich ging hin und erzählte ihr meine Geschichte. Sie stellte Fragen zu meinem Leben, sie erklärte mir, dass Höhen und Tiefen zu einer Beziehung dazugehören, sie gab mir die Rückversicherung, dass es bei mir nicht nach einer Ehekrise aussah. Aber was war es dann? In unserer fünften Stunde stellte sie fest, dass wir in der Therapie nicht vorankamen. „Du stellst immer dieselben Fragen", sagte sie. Daraufhin sprach sie von einer Zwangserkrankung. Ich war enttäuscht. Auch sie schien mich nicht zu verstehen. Das einzige, was ich wissen wollte, war doch nur, ob ich meinen Mann noch liebte. Ich wollte sicher sein. Ganz sicher sein. Sie empfahl mir einen Spezialisten.

Aber wo findet man einen Spezialisten für die Frage, ob man seinen Mann noch liebt? Nachdem ich über vierzig kassenzugelassene Therapeuten kontaktiert hatte und jedes Mal eine negative Antwort auf meine Frage nach Spezialisierung auf Zwänge bekam, erwähnte eine der Therapeutinnen eine sogenannte Zwangssprechstunde in der nahegelegenen Universitätsklinik. In meiner Verzweiflung machte ich dort einen Termin aus und fuhr dennoch erwartungslos hin. Ich traf auf einen Professor, der sich auf die Behandlung von Zwängen spezialisierte. Ich erzählte zum x-ten Mal meine Geschichte. Zum ersten Mal seit dem Beginn meines Leidens fühlte ich mich verstanden. Nach dieser Therapiestunde bekam ich Hoffnung, dass ich kein hoffnungsloser Fall war. Und vor allem stand es im Krankenbericht schwarz auf weiß: Diagnose Zwangsstörung. Nicht Diagnose: „liebt ihren Mann nicht mehr", sondern Zwangsstörung! Ich hatte an diesem Tag das Gefühl, dass schon allein diese Erkenntnis mich geheilt hatte.

Dem war leider nicht so. Schon kurze Zeit darauf wurde ich wieder von der Furcht überrollt, doch in der falschen Beziehung zu sein. Ich war mir sicher, die letzten 15 Jahre etwas übersehen zu haben. Ich fragte mich, ob meine Gefühle während unserer damals empfundenen perfekten Hochzeit nicht doch nur eingebildet waren. Ich überprüfte, ob ich den Geruch meines Mannes als störend empfand. Heute war sein Akzent unerträglich, morgen seine Arme zu dünn, übermorgen langweilte ich mich mit ihm und dann war er nicht sportlich genug. Diese Obsessionen und die damit verbundenen Angstgefühle lösten eine Reihe von zwanghaftem Checken aus. Checken von Gefühlen, Worten und Erinnerungen. Ich suchte nach Sicherheit und Halt und das einzige, was ich fand, war noch mehr Unsicherheit. Sobald er in meiner Nähe war, bekam ich Angst. Ich schämte mich für jeden dieser Gedanken. Ich wollte nicht mehr so leben. Und wenn nicht, wäre ich wahrscheinlich im Stande, mich umzubringen. Obsessionen zu Selbstmord kamen hinzu.

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Parallel zu der Suche nach einer geeigneten Therapie, fand ich viele hilfreiche Informationen auf Instagram. Ich fand über das zwanghafte Googeln den Account „awaken into love", der sich auf das spezielle Thema Zwang in Bezug auf die Beziehung - ROCD - spezialisierte. Diesem Account folgen über 8.000 Betroffene, was mir das Gefühl gab, nicht allein zu sein. Mich überraschte in erster Linie, dass andere Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen, von unterschiedlichen Kontinenten sich mit gleichen Ängsten und identischen Fragen zu ihren Beziehungen plagten. Ich war nicht allein! Und es gab einen Weg. Die Coaches, die diesen Account leiten, sprachen darüber, falsche Erwartungen an Beziehungen abzulegen und sich seinen Triggern zu stellen. Ich verstand nun, dass meine Versuche, die Angst loszuwerden nicht nur sinnlos, sondern sogar schädlich waren und den Zwang nur fütterten. Ich verstand, dass meine Scham mir kein guter Wegweiser gewesen ist. Und ich verstand, dass ich viel Selbstmitgefühl entwickeln musste, um nicht bei jedem Stolpern zu verzweifeln. Und ganz wichtig war die Erkenntnis, dass ich nun an mir arbeiten musste, um endlich mein Leben zurückzubekommen, das drohte mir aus den Händen zu gleiten. Ich wollte nicht mehr den Zwang am Steuer meiner Entscheidungen sehen, sondern mich. Und das bedeutete, dass ich meine Angst annehmen musste und die von mir so sehnlichst erhoffte absolute Sicherheit loslassen musste. Ich durfte mich jeden Tag neu für meinen Mann entscheiden, egal, was der Zwang sagte.

Ich durfte zudem eine Gruppentherapie bei dem Professor machen, der die Zwangssprechstunde anbot. Dort bekam ich zusätzliche Informationen zu den Prozessen in meinem Gehirn, zu unterschiedlichen Behandlungsmethoden und vor allem wurde ich darin bestärkt, dass nur meine Reaktion auf den Zwang zählte: Exposition mit Reaktionsverhinderung. Das Thema des Zwangs war dabei in unserer Therapiegruppe irrelevant, wir waren zehn Menschen mit unterschiedlichen Lebensumständen und Hintergründen, wir hätten nicht unterschiedlicher sein können. Und dennoch verband uns dasselbe Leiden: die Suche nach Sicherheit.

Kurz nach Ende der Gruppentherapie begann ich, Expositionen in Eigenregie zu planen. Ich begann, mich mit all den Dingen zu konfrontieren, die ich bis dahin penibel gemieden hatte. Ich sah mir Liebesfilme an und versuchte dem Drang zu widerstehen, meine Beziehung mit der im Film zu vergleichen, um Sicherheit über meine Gefühle zu erhalten. Ich traf mich wieder mit Freunden, die geschieden waren und hatte keine Angst davor, von ihrem Lebensstil „angesteckt" zu werden (ich weiß, diese Angst ist so absurd, aber sie fühlte sich so real an!). Ich sprach mit Männern, bei denen ich besonders Angst hatte, ein Verliebtheitsgefühl zu entwickeln. Während ich das tat, fühlte ich die Angst hochsteigen. Aber mein Wissen um das Ziel von Expositionen trug mich durch diese schwierige Zeit. Ich versuchte, die Alarmgedanken, die mein Gehirn mir schickte, da sein zu lassen und mich darauf zu konzentrieren, was ich gerade tat.

Am schwierigsten waren die Wochenenden. Sie unterschieden sich von Wochentagen darin, dass keine vorgegebene Struktur durch Schule und Arbeit vorlag. Das sind Dinge, weshalb andere sich auf ihre Wochenenden freuen. Ich dagegen war schon am Freitagmorgen angespannt. Denn ich hatte Angst vor den Gedanken und Gefühlen, die mich am Wochenende quälen würden. Und ich hatte Angst, dass ich dem Drang nachgehen würde, meinem Mann all diese für mich sehr realen und erschreckenden Gedanken „beichten" zu müssen. Das tat ich auch und das ruinierte oft unsere gemeinsame Zeit. Das Beichten verletzte ihn und gab uns den Eindruck, als wären wir wieder ganz am Anfang - ein Rückschlag. Das waren wir aber nicht, denn mit der Zeit merkte ich, dass ich mich schneller von den Rückschlägen erholte. Ein Trigger schubste mich nicht mehr für mehrere Tage in ein tiefes Grübelloch voller Angst. Zuerst waren es nur Stunden, dann nur Minuten und dann fühlte sich die Reaktion weniger schmerzhaft, weniger intensiv und nicht mehr so leuchtend und alarmierend an.

Als nächstes kamen die „echten" Gefühle zurück. Wieso ich von „echt" spreche? Weil alles, was ich durch mein Checken und Grübeln erreichte, ein geprüftes Gefühl von Liebe war. Das fühlte sich unecht und erzwungen an. Und das wiederum schickte mich gleich in mein Grübelloch zurück, aus dem ich versuchte zu entkommen. Als ich das dringende Bedürfnis zu checken (zugegeben mit viel Kraft) einstellte, konnte ich mit der Zeit wieder etwas anderes außer Angst fühlen. Das war ein großer Meilenstein für mich. Wie lange das dauerte? Vielleicht mehrere Wochen oder mehrere Monate, ich weiß es nicht. Es war ein Fortschritt der langsamen Natur gewesen, das Gegenteil von linear und nicht jeden Tag sichtbar.

Irgendwann verfolgten mich die für mich furchtbaren Bilder von mir mit anderen Männern nicht mehr. Ich konnte mich auf Dinge konzentrieren, ich konnte wieder Hobbys nachgehen, Sport machen und das Essen genießen.

Wenn ich heute zurückschaue, bin ich meinem jüngeren Ich so dankbar, nicht aufgegeben zu haben. Ich weiß, dass es gute und schlechte Tage gibt. Und ich weiß, dass der Zwang chronisch ist. Ich erwarte keine Wunder, denn ich bin ausgerüstet mit Werkzeugen. Ich lerne, was es bedeutet Selbstliebe zu praktizieren und achtsam mit mir selbst umzugehen. Und ich bin noch lange nicht da, wo ich gerne hin möchte. Aber schon das Wissen darum, dass ich die Entscheidungen für mein Leben treffe und nicht der Zwang, gibt mir die Kraft zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Und aus Erfahrung weiß ich: mit harter Arbeit wird es besser, egal wie schlimm und echt es sich momentan anfühlt!

Emilia, 39 Jahre

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