OCD ist OCD – egal, was der Gedanke ist

Von Robert, 32 Jahre

Alles fing schleichend an, als mein Schwiegervater an einem tragischen Arbeitsunfall ums Leben gekommen ist und wir unsere Hochzeit, welche einen Monat später angestanden wäre, erneut um ein Jahr schieben mussten.

Die Trauer war groß und ebenso war das Ganze mit großem Stress verbunden. Ich fing an, einen seltsamen Druck in der Brust zu verspüren, und da ich zu dieser Zeit noch Raucher war, dachte ich mir, dass dies der richtige Zeitpunkt wäre, um mit dem Rauchen aufzuhören, da ich dachte, dass dieser Druck bestimmt vom Rauchen stammt. Eigentlich war das meiner Meinung nach die Zündschnur meines Zweifelns. Logisch ist das Rauchen ungesund und man sollte es unterlassen, ich habe aber aus der falschen Begründung aufgehört und nicht aus reiner Überzeugung.

Zuerst ließ der Druck nach, kam aber später zurück - und zwar noch intensiver. Es fühlte sich sogar wie ein Brennen in der Brust an. Ich hatte große Angst und fing an, nach Lungenkrebs-Symptomen zu googlen. Natürlich fand ich etwas, was meinen Beschwerden entsprach. Dann ist es passiert: Ich bekam meine erste Panikattacke und wusste nicht was los war. Natürlich habe ich sofort einen Termin beim Arzt veranlasst und ließ auch den Brustkorb röntgen - aber ging ohne Befund wieder nach Hause.

Eine Zeit lang ging es mir dann wieder gut: Ich hatte keine Beschwerden, lebte mein Leben weiter und dachte nicht mehr daran. Einige Monate später hatte ich wieder diesen seltsamen Druck. Was noch dazu kam: Ich hatte teilweise blutige Spucke. Logischerweise dachte ich mir: "Ich muss doch etwas haben, ansonsten hätte ich nicht diese Blutspuren in der Spucke". (Die blutige Spucke kam in erster Linie vom entzündeten Zahnfleisch. Organisch hatte ich also nie etwas lebensbedrohliches, aber es fühlte sich manchmal so an.)

Ich habe wieder jegliche Untersuchungen gemacht. Ich war so ziemlich jede zweite Woche beim Arzt und ließ alles abchecken. Die Symptome wurden aber schlimmer und intensiver. Ich hatte so ziemlich alle Angstsymptome, die man körperlich verspüren kann: Druck in der Brust, Globusgefühl im Hals, Schweißausbrüche, benebelter Blick, Spannungskopfschmerzen, Taubheitsgefühle, Schwächegefühl, Derealisationsgefühl usw. Es war die reine Hölle für mich.

Ich war ständig am Grübeln. Ständig hatte ich irgendwelche Zweifel. Ich war permanent beim Arzt, aber es wurde nichts gefunden. Ich habe mich selbstverständlich informiert und mir war auch bewusst, dass solche Symptome durch Angst ausgelöst werden können. Trotzdem war immer die Angst da, dass ich doch irgendwie etwas Ernstes habe. Ich dachte mir: "Ok, jetzt ist fertig. Ich mache ein CT und kann mich final absichern, dass ich wirklich nichts habe". Gesagt getan: Aber auch beim CT wurde nichts gefunden. Ich bin also gesund, fühlte mich aber nicht so. Ich fühlte mich so schlecht und hatte diese starke innere Unruhe permanent in mir. 

Wie ein Hypnosevideo in meinem Kopf steckenblieb

Dann suchte ich ein Video zur Beruhigung - eine Meditation. Mir wurde auf YouTube ein Video vorgeschlagen über eine Hypnose-Meditation. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nichts über Hypnose, außer dass in der Grundschule mal ein Freund von mir behauptet hat, dass man es zulassen muss, wenn man sich einer Hypnose unterziehen will - ansonsten kann man Schäden davontragen. 

Ich habe mir also das Video angehört. Unterm Strich war es eigentlich nichts anderes als ein Meditationsvideo. Der Herr wiederholte dabei immer wieder den Satz "Ich bin innerlich ganz ruhig". Zum Schluss des Videos sagte er sowas wie: "In der Anfangszeit sollte man diese Hypnosemeditation regelmäßig hören". Für mich klang das bösartig. Ich fühlte mich manipuliert und bekam eine Panikattacke. 

Ich löschte umgehend das Video aus meinem Verlauf und dann geschah es: Der Gedanke "ich bin ruhig" kam immer wieder auf. Ich dachte mir, ich hätte jetzt wirklich einen Schaden. Ich versuchte, den Gedanken nicht zu denken, den Gedanken umzuwandeln - alles Mögliche. Natürlich funktionierte nichts davon und alle diese Versuche machten den Gedanken nur aggressiver.

Ich wusste, ich schaffe das nicht mehr allein und brauche Hilfe. Zum Glück erhielt ich schnell einen Platz bei einem Therapeuten. Leider half mir dieser nur bedingt. Er konnte mein Problem zwar als Zwangsgedanken identifizieren, jedoch haben mir die Gesprächstherapien nie wirklich geholfen. Klar: Er konnte aus meiner Vergangenheit irgendwelche Muster erkennen, welches mein Gehirn jetzt für die falschen Situationen anwendet, jedoch konnte ich mit dieser Erkenntnis allein mein Problem nicht lösen.

Zu jedem Zwangsgedanken gehören auch (mentale) Zwangshandlungen

Also habe ich selbst etwas recherchiert, Bücher gelesen und diverse YouTube-Videos dazu angeschaut. Ich hatte ungefähr eine Vorstellung wie das Ganze funktioniert und versuchte auch diverse Tools anzuwenden. Ich hatte aber immer irgendeinen Zweifel: Mein Gedanke ist ja neutral, nicht bösartig. Außerdem möchte er mir keinen Impuls zu einer Handlung geben. 

Zwischenzeitlich hatte ich auch die starke Angst, dass ich schizophren werden könnte oder sonst irgendwie eine unerklärliche schwere psychische Krankheit habe oder bekommen könnte. Ich dachte auch immer, ich habe keine Zwangshandlungen: Physisch mache ich ja nichts. Der Gedanke kommt so oder so - egal was ich mache. 

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Ich merkte schnell, dass ich das alleine nicht schaffe, und bin anschließend auf die richtige Person mit der richtigen Behandlungsmethode gestoßen: die Exposition. Während meiner Psychoedukation wurde immer erwähnt, dass der Zwang durch die Zwangshandlungen aufrechterhalten wird. 

Ich dachte mir immer, ich habe aber ja keine Zwangshandlungen. Falsch gedacht: Ich merkte, wie ich ständig recherchierte, ständig grübelte und gewisse Tätigkeiten vermieden habe. Auch die Gedanken sowie gewisse Gefühle wollte ich nicht haben. Manchmal lief mir auch die Hintergrundmelodie des Videos durch den Kopf, was ich als sehr unangenehm bewertet habe. Auch dort versuchte ich, die Melodie wegzudrücken oder in eine andere Melodie umwandeln. Natürlich funktionierte auch das nicht. 

Eine Zeit lang habe ich mich auch aktiv mit dem christlichen Glauben auseinandergesetzt. “Lustigerweise” kamen dann plötzlich auch blasphemische Zwangsgedanken dazu. Als ich recherchiert habe, was laut Bibel die unverzeihliche Sünde ist, bombardierte mich mein Zwang direkt mit diesem Gedanken. Der Gedanke hielt aber nicht lange an, da ich bereits wusste, wie ich darauf reagieren muss. 

Was mir bei meinen Zwangsgedanken besonders geholfen hat

Das größte Fundament meiner Recovery war für mich die Akzeptanz. Logischerweise wollte ich nicht ständig den gleichen Gedanken haben oder mich schlecht fühlen, aber jeden Kampf gegen die Psyche verliert man - das habe ich auf die harte Art und Weise gelernt. 

Gedanken kann man nicht steuern und wird man auch nie steuern können, aktives Grübeln aber schon. Ich erwische mich noch tagtäglich beim Grübeln, weil ich jemand bin, der Probleme lösen möchte. Jedoch funktioniert das mit unserer Psyche nicht so, wie wir es uns wünschen. 

Vor allem braucht es sehr viel Zeit, Geduld, Mitgefühl, Akzeptanz und Kontinuität. Die ganze Reise geht bei mir jetzt schon 1,5 Jahre. Von den physischen Symptomen spüre ich so gut wie gar nichts mehr. Meinen Zwangsgedanken "ich bin ruhig" habe ich nach wie vor, aber nicht mehr so aggressiv, laut und vor allem nicht mehr alle paar Minuten. 

Ich bin noch nicht ganz dort, wo ich sein möchte, werde ich es aber jemals sein? Ich weiß es nicht, aber das ist auch gut so, denn eine absolute Gewissheit gibt es im Leben nun mal nicht und dies gilt es zu akzeptieren. 

So schrecklich die Reise für mich war / ist: Was positiv ist an der ganzen Sache ist, dass ich ich sehr viel gelernt habe. Heute würde ich behaupten, dass meine Lebensqualität wieder bei 70 - 80% ist. Aber auch das ist OK, denn vor kurzem war diese noch bei 10% und ich dachte, nur der Tod könnte mein Leiden beenden. 

Ich möchte jedem Mut machen und mit meiner Geschichte zeigen, dass es egal ist, was der Gedanke ist. In meinem Fall war dieser zwar neutral, aber ich habe ihn trotzdem mit meinen Zwangshandlungen aufrechterhalten. Auch die Akzeptanz kommt nicht einfach von heute auf morgen. Sie kommt Stück für Stück. Nur weil man sich selbst sagt "ich akzeptiere es", hat man es längst noch nicht wirklich getan.

Ich wünsche jedem auf seiner Heilungsreise viel Kraft, Geduld und vor allem Akzeptanz - und auch die Akzeptanz, in der Ungewissheit zu leben. Denn gewiss ist nur eins: Dass das Leben einen Anfang und ein Ende hat.

Robert, 32 Jahre

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