Meine Kontrollzwänge sagen nichts über meine Persönlichkeit aus

Von Vanessa, 23 Jahre

Wenn ich zurückblicke, gab es schon in meiner Kindheit zwanghafte Züge, die mir natürlich nicht bewusst gewesen sind. In der achten Klasse rief ich meine Mutter über das Sekretariatstelefon an, sie soll bitte gucken, ob ich das Glätteisen ausgeschaltet habe.

Als hätte jemand geschnipst kamen dann 2019 diese komischen Gedanken. Habe ich das Bügeleisen ausgemacht? Ist der Herd aus? Stopp! Ich bin heute noch gar nicht in der Küche oder im Waschraum gewesen! Egal, ich gucke nochmal, um auf Nummer sicher zu gehen. Wir wollen ja nicht, dass ich schuld bin, wenn das Haus abbrennt. Irgendwann reichte einmal nachgucken nicht mehr aus und ich war klitschnass gebadet, wenn ich morgens das Haus verlassen musste. Mir kam die blendende Idee, den Stecker vom Bügeleisen sowie die Herdplatten zu fotografieren („Say Hello, Zwangshandlung“). Irgendwann kam noch der Gedanke „ist die Haustüre abgeschlossen“ dazu.

Nach ungefähr 2-3 Monaten fuhr ich Strecken mit dem Auto zurück, weil ich dachte, ich hätte jemanden überfahren. Dazu kamen noch etliche weitere Themen wie die Angst, mich mit HIV angesteckt und unsittliche Dinge zu Mitmenschen gesagt zu haben sowie der Versuch, mich an jedes Stück von Gesprächen zu erinnern.

Ich glaube, dass nachher mein Kopf aus fast jeder Sache versucht hat, einen Zwang zu erschaffen – wobei das ja klar ist, was ich auch nachher in der Therapie gelernt habe: Der Zwang sucht sich immer die Themen, mit denen man sich am wenigsten identifizieren kann.

Mitten am helllichten Tag hatte ich auf einmal den Gedanken, was wäre, wenn du eine x-beliebige Person auf der Straße geküsst hättest. Die Stimme der Vernunft in meinem Kopf sagte mir natürlich: „Was redest du für einen Quatsch? Man geht auf der Straße nicht einfach auf irgendeine Person los und küsst sie“. Ja, auch Betroffene wissen, dass diese Gedanken schwachsinnig sind, aber leider können sie diese nicht ausstellen.

Ich ging nach der neuen Thematik nur noch mit gesenktem Kopf durch die Gegend und traute mich kaum, jemanden anzuschauen. Nach mehreren Panikattacken und Zusammenbrüchen entschloss ich mich, dass es so nicht weitergehen kann. Und dann kam Corona meinen Zwängen zugute und ich hatte auch noch einen Grund, um nicht mehr rauszugehen.

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Ich öffnete Google und suchte nach komischen Gedanken und - zack - da stand es: Zwangsgedanken und -handlungen. Ich fand mich zu 100% in der beschriebenen Thematik wieder. Nach anfänglicher Angst, bei Therapeuten anzurufen, schaffte ich es: Ich hatte ein Erstgespräch. Die Therapeutin sagte mir, mit 3 Jahren nach Beginn der Zwänge wäre ich zum Glück noch sehr früh dran, da die meisten Betroffenen erst nach 5 bis 10 Jahren therapeutische Hilfe suchen.

Ich erzählte alles ausführlich. Ihr müsst wirklich keine Angst haben. Die Therapeuten hören sowas nicht zum ersten Mal. Jedes Mal, wenn ich etwas erzählte, begann ich den Satz mit: „Bitte halten Sie mich nicht für verrückt“ - und nein, die Therapeutin hielt mich nicht für verrückt. Es ist eine Krankheit und somit auch behandelbar. Ich glaube, dieser Satz hat mir am meisten geholfen. Da ich mir ziemlich schnell Hilfe gesucht habe, sind die Chancen auch noch sehr gut. Auch wenn die Schambelastung sehr hoch ist. Das weiß ich auch.

Was hat mir geholfen?

  • Podcasts zum Thema Zwangserkrankung („Psychologie to go!“ von Franca Cerutti und „Zwanglos“ von OCD Land)
  • Entspannungstechniken (Meditation)
  • Achtsamkeitsübungen
  • Systemische Therapie
  • Verhaltenstherapie
  • Bücher, z.B. „Zwangsgedanken Stoppen“ von Clara Markgraf, „Alles nur in meinem Kopf“ von Ellen Mersdorf (Pseudonym)

Geholfen hat mir auch die Gewissheit, dass es „nur Gedanken“ sind. Nur weil ich diese Gedanken habe, heißt es nicht das ich Sie auch ausführe!

Wieso sollte ich jemanden anfahren und einfach weiterfahren? Es entspricht nicht meinen moralischen Werten. Ich bin sehr pflichtbewusst und verantwortungsvoll und genau darauf stürzt sich der Zwang. Genau auf die Werte, die wir vertreten, damit wir uns im Nachhinein nicht mehr wiedererkennen. Du bist nicht deine Gedanken. Jeder Mensch hat manchmal komische Gedanken, doch wir als Betroffene schenken ihnen Beachtung, die sie nicht verdienen.

Ich bin glücklich darüber, dass ich wieder mit erhobenem Kopf durch die Straßen gehen kann und das Leben genieße. Klar, die Zwangsstörung ist in manchen Situationen noch da, aber sie bestimmt nicht mehr mein Leben.

P.S.: Wir sind nicht allein.

I didn't pay attention to the light in the dark – Disclosure ft. Sam Smith

Vanessa, 23 Jahre

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