Meine Geschichte mit magischen Zwangsgedanken und Wiederholungszwängen

Von Pauli, 31 Jahre

Mein Name ist Pauli, ich bin 31 Jahre alt und leide seit fast 20 Jahren an einer Zwangsstörung. Diese Zwangsstörung ist ein stiller, aber ständiger Begleiter, der mich und meinen Alltag oft fest im Griff hat. Es ist ein Leben voller Wiederholungen, Ängste und Rituale, die mich manchmal daran hindern, die Dinge zu tun, die mir wirklich wichtig sind. Im Sommer dieses Jahres hatte ich jedoch die Chance, sechs Wochen in der AMEOS-Klinik in Bad Aussee zu verbringen – ein Aufenthalt, der mir eine völlig neue Perspektive auf die Zwangsstörung eröffnet hat.

Die Klinik besteht aus einer Privatklinik und einem Bereich, der über die Krankenkasse abgerechnet wird. Dort können alle Menschen mit psychischen Erkrankungen behandelt werden. Es ist zwar offiziell ein Krankenhaus, doch die Atmosphäre und die Umgebung sind alles andere als klinisch. Es ist nahezu der perfekte Ort, um zu entschleunigen und dem Alltag zu entfliehen. Die Klinik liegt inmitten einer wunderschönen Landschaft mit Bergen und einigen der schönsten Seen Österreichs. Und – das Wichtigste – sie ist eine der wenigen Kliniken in Österreich mit einer speziellen Zwangsgruppe, also einer separaten Gruppe für Patienten mit einer Zwangsstörung. 

In meiner Gruppe waren hauptsächlich Patienten mit Wasch- oder Kontrollzwängen. Eine Patientin musste täglich drei Stunden duschen, um sich „sauber“ zu fühlen, eine andere kontrollierte die Wäschetrommel in der Waschmaschine zum 150. Mal, ein weiterer Patient litt ebenfalls unter Wiederholungszwängen – genau wie ich. 

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in einem Raum mit Menschen, die ebenfalls gegen Zwangsgedanken und -handlungen kämpfen. Wir haben über unsere Ängste und Erfahrungen gesprochen, einander zugehört und uns verstanden. So absurd mir die Geschichten der anderen manchmal vorkamen, so absurd erschienen meine Gedanken und Erlebnisse für sie. Ich leide nämlich an Wiederholungszwängen mit extrem aggressiven Gedanken und einer Form des magischen Denkens.

So fingen bei mir die Zwänge an

Doch zunächst zum Anfang: Ich verbrachte die ersten fünf Jahre meines Lebens bei meinen Eltern. Beide mussten immer lange arbeiten, daher hatte ich in den ersten drei Jahren ein Kindermädchen. Als ich drei Jahre alt war, musste mein Kindermädchen zurück nach Polen gehen – das traf mich sehr. Laut meinen Großeltern zeigte ich damals bereits erste Anzeichen von leichten Zwängen, die jedoch bald wieder verschwanden.

Als ich acht Jahre alt war, hatte ich einen Unfall: Ich fiel von einem Trapez, brach mir die rechte Hand und renkte mir den Ellbogen aus – ein sehr dramatisches Ereignis für mich. Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich an diesem Morgen aufgewacht war und Zwangsgedanken hatte, die mir sagten: „Du musst dieses und jenes tun, sonst passiert etwas.“ Ich ignorierte diese Gedanken, ging ganz normal zum Frühstück und später zum Spielen. Am Nachmittag geschah dann der Unfall. Alles ging sehr schnell, und ich erinnere mich nur bruchstückhaft an das Geschehen. Ich wurde ins Unfallkrankenhaus gebracht, wo man sich sehr gut um mich kümmerte. Mein Arm wurde wieder eingerenkt. Die Tage danach waren sehr schmerzhaft. Das ist alles, woran ich mich noch erinnere.

Doch seit diesem Tag habe ich Zwänge – immer unterschiedlich und immer anders. Es fing an mit Dingen wie auf den Boden zu greifen, Türklinken zu meiden, nicht über Gullydeckel zu gehen und abends zehnmal aufs Klo zu gehen, bevor ich ins Bett ging. Die Gedanken dahinter waren jedoch immer dieselben: „Du musst das jetzt machen, sonst bekommst du eine Blinddarmentzündung.“ Das klingt vielleicht harmlos, doch das Letzte, was ich wollte, war, dass dieser Gedanke Realität wird. Erst nachdem ich die Zwangshandlung ausgeführt hatte, ließ der Gedanke los.

Lange Zeit war die Angst vor einer Blinddarmentzündung mein Hauptthema, dann kamen Gedanken über einen möglichen Tod meiner Mutter hinzu. Mit den Jahren wuchsen die Ängste, doch sie waren anfangs noch überschaubar. Ich konnte den Zwang oder die Zwangsgedanken schnell neutralisieren und fühlte mich dadurch nicht besonders eingeschränkt. Ob ich nun einmal kurz auf den Boden griff (merkt ja eh keiner, ich tat einfach so, als würde ich meine Schuhe zumachen) oder einen Gullydeckel mied – für mich war das harmlos. Langsam, aber stetig, entwickelte ich immer mehr Rituale, die ich täglich ausführen musste, wie zum Beispiel unbedingt vor dem Schlafengehen aufs Klo zu gehen oder mich immer in der gleichen Reihenfolge anzuziehen.

Irgendwann war es so weit, dass ich ständig von schlechten Gedanken und Ängsten geplagt war. Ich hatte mittlerweile Angst vor Krankheiten wie Krebs oder einem Hirntumor, dem Locked-in-Syndrom, einem Genickbruch oder davor, dass jemand aus meinem Umfeld stirbt, den ich liebe. Dem Zwang fällt immer wieder etwas Neues ein – und er hört einfach nicht auf. Vor meinem Klinikaufenthalt geriet ich sogar in regelrechte „Loops“, die teilweise vier bis fünf Stunden andauerten.

Hier ein Beispiel: Ich stehe in meinem Wohnzimmer und will in die Wohnküche gehen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Ich nehme also ein Glas, drehe den Wasserhahn auf, fülle das Glas, trinke und gehe zurück ins Wohnzimmer. Und jetzt fängt der Spaß erst richtig an. Mein Kopf sagt: „Falsch.“ Oder es fühlt sich einfach nicht richtig an, oder ich habe beim Trinken an eine meiner oben genannten Ängste gedacht. Also muss ich den ganzen Ablauf rückgängig machen, damit dieser Gedanke neutralisiert wird. Um ein Ende zu finden, schlucke ich einmal und mache den gesamten Ablauf von vorne – diesmal „richtig“. Ich trinke (genau die gleiche Anzahl von Schlucken wie vorhin), drehe den Wasserhahn genauso auf wie vorher und gehe in exakt denselben Schritten von der Wohnküche zurück ins Wohnzimmer. Wenn ich versehentlich einen Schluck zu viel mache, muss ich auch das wieder neutralisieren und ein neues „Ende“ finden.

Diese Spirale zog sich oft über Stunden hin, und so kam es vor, dass ich wortwörtlich vier bis fünf Stunden brauchte, nur um ein Glas Wasser zu trinken. Irgendwann begann ich deshalb, vieles zu vermeiden: Ich aß kaum noch (weil ich mir nichts mehr kochen konnte), ging nicht mehr raus und wartete nur noch darauf, dass ich endlich schlafen gehen konnte, um von den Gedanken loszukommen.

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Deshalb war ich wirklich glücklich, endlich in der Klinik angekommen zu sein. Und siehe da – die ersten zwei Tage waren quasi symptomfrei, kein einziger Zwang. Es war, als hätte ich die Zwänge zuhause vergessen. Doch die Freude war zu früh – am dritten Tag kamen sie langsam zurück. Mit Hilfe der Therapien gelang es mir jedoch, die Zwänge überschaubar zu halten. Auch der Austausch mit den anderen Patienten hat mir gezeigt, dass ich mit meinen Sorgen nicht allein bin und dass es tatsächlich möglich ist, die Kontrolle über die Zwänge zurückzugewinnen – auch wenn es schwer ist.

Therapeutische Fortschritte und der Wert der Expositionstherapie

Während meines Klinikaufenthalts habe ich vor allem die Expositionstherapie intensiv kennengelernt. In den Einzeltherapien haben wir gezielt Situationen und Gedanken herausgearbeitet, die bei mir Zwangsgedanken und Ängste auslösen. Eine Exposition bedeutet – wie die meisten von euch wissen – sich diesen Ängsten zu stellen, ohne die gewohnten Zwangshandlungen auszuführen, die normalerweise für eine (kurzfristige) Erleichterung sorgen. Diese Übungen waren oft hart und herausfordernd. Der Körper reagiert, als ob eine reale Bedrohung vorliegt, und alles in mir wollte den Zwangshandlungen nachgeben, um die Angst zu lindern. Der reinste Wahnsinn.

Doch Stück für Stück habe ich gelernt, die Angst auszuhalten, ohne die Zwangshandlungen auszuführen. Mit der Zeit stellte sich eine kleine Veränderung ein – die Ängste wurden weniger intensiv und die Katastrophengedanken verloren etwas von ihrer Macht. Es ist ein langsamer Prozess, aber die Expositionstherapie hat mir gezeigt, dass ich die Kontrolle zurückgewinnen kann und die Zwänge nicht über mein Leben bestimmen müssen. Dieses Gefühl war befreiend.

Neben der Expositionstherapie habe ich durch die Kunsttherapie einen neuen Zugang zu meinen Gefühlen gefunden. Farben und Formen zu nutzen, um das auszudrücken, was oft nur schwer in Worte zu fassen ist, war ein wichtiger Teil meiner Heilung. Auch die Tanztherapie, in der ich meinen Körper bewusst bewegen und spüren konnte, hat mir geholfen, mich wieder stärker mit mir selbst zu verbinden und das Vertrauen in meinen Körper zurückzugewinnen.

Neue Ziele und Motivation durch Sport

Die Klinik hat mir einen neuen Start gegeben, doch ich wusste, dass der Weg danach weitergehen würde. Zwänge lassen sich nicht einfach „abstellen“, und auch nach meiner Entlassung kehrten sie zurück – manchmal in altbekannten Mustern, manchmal in neuen Varianten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nun besser vorbereitet zu sein. Der Sport wurde für mich eine neue Quelle der Stärke und Energie. Ich habe mir das Ziel gesetzt, im nächsten Jahr beim Ironman 70.3 in Jesolo anzutreten. Dieses Ziel gibt mir Halt und ein Gefühl von Fokus, das mich auch im Alltag unterstützt.

Im Training habe ich oft die Gelegenheit, Expositionen zu integrieren. Zum Beispiel, wenn ich aufhören muss, einem Impuls nachzugeben, der mir beim Sport in den Kopf kommt. Ich stelle mich dem Zwang, lasse ihn zu, und erinnere mich daran, dass die Gedanken vorbeigehen, wenn ich sie zulasse, ohne zu handeln.

Zusätzlich habe ich Achtsamkeitsrituale wie Kaltduschen und Atemübungen in meinen Alltag integriert. Diese Praktiken unterstützen mich, meinen Kopf klar und meinen Fokus auf das Hier und Jetzt zu richten. Auch wenn diese Methoden die Zwänge nicht direkt „heilen“, helfen sie mir, in Balance zu bleiben und die tägliche Herausforderung der Zwangsstörung gestärkt anzugehen. Es ist wichtig, dass ich das Bewusstsein für diese Rituale pflege, ohne sie selbst zu Zwangshandlungen werden zu lassen. Die richtige Balance zu finden, ist eine tägliche Übung.

Eine positive Bilanz und der Wunsch, anderen zu helfen

Ich schreibe diesen Bericht, weil ich möchte, dass andere Betroffene wissen, dass sie nicht alleine sind. Oftmals ging ich davon aus, dass ich das bin. Nun weiß ich, dass viele Menschen unter Zwängen leiden und oft das Gefühl haben, isoliert zu sein. Es kann schwer sein, mit anderen über diese Gedanken zu sprechen, und noch schwerer, die Hoffnung nicht zu verlieren, dass man einen Ausweg finden kann.

Die Expositionstherapie hat mir geholfen, Stück für Stück Kontrolle zurückzugewinnen, und ich hoffe, dass meine Erfahrungen anderen Mut machen können, diese bewährte Methode auszuprobieren und durchzuhalten, auch wenn es am Anfang schwer ist.

In Zukunft möchte ich gerne mit anderen Betroffenen gemeinsam etwas unternehmen, insbesondere sportliche Aktivitäten. Bewegung kann ein Ventil sein – ein Weg, sich selbst besser kennenzulernen, den eigenen Körper zu spüren und neue Kraft zu schöpfen. Ich glaube daran, dass wir gemeinsam, durch Austausch und Unterstützung, Wege finden können, die Zwangsstörung in den Griff zu bekommen und zurück in die eigene Kraft zu finden. 

Pauli, 31 Jahre

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