Es gibt Hoffnung - Von der Sklaverei des Zwangs befreit

Von Damaris, 32 Jahre

Anfang 2023 machte ich eine schwierige Zeit mit einigen Schicksalsschlägen durch, die in eine depressive Phase mündeten. In dieser Zeit weinte ich viel und geriet in eine Negativ-Spirale aus Gedanken und Gefühlen, die mich bergab zogen. Inmitten dieser Spirale kam jedoch die größte Herausforderung der letzten Jahre hinzu: Es entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit eine Phase von Zwängen, wie ich sie zuvor nie erlebt hatte.

Die Phase begann damit, dass ich auf dem Höhepunkt meiner Trauer über einen menschlichen Verlust plötzlich von einem Tag auf den anderen nicht mehr weinen konnte. Das führte zu dem schrecklichen Gedanken, nie wieder weinen zu können, sodass ich vor Angst nicht mehr schlafen konnte, Kälteschauer bekam und an nichts anderes mehr denken konnte. 

Dies wiederum führte zu einer Spirale aus vielen weiteren Körper-Kontrollzwängen und Angstattacken. Ich bespiegelte mich immer mehr von außen und kontrollierte ununterbrochen alle meine Körperreaktionen. Aber vor allem kam eine Angst vor diesen Angstgedanken hinzu. Ich bekam immer häufiger Panikattacken mit Kälteschauern und das Gefühl, gleich aufgrund meiner Zwangsgedanken ohnmächtig zu werden. 

Auf Arbeit hatte ich das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können und auch mit keinem Menschen mehr richtig reden zu können. Ich konnte keine Gespräche mehr führen, ohne auf mein Lachen, meine Sprache, alle meine Reaktionen zu achten. Hyperfokussierungs-Zwänge jeglicher Art plagten mich enorm. Hinzu kamen philosophische, existentielle Zwänge. Ich fühlte mich nicht mehr real, hinterfragte alles, was ich sah, vertraute meinem Körper nicht mehr.

Von Kindheit an: Die Entwicklung meiner Zwangsstörungen

Jetzt, rückblickend, bin ich sehr dankbar für diese Zeit, denn plötzlich konnte ich eine rote Linie in meinem Leben erkennen. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, und ich erkannte Zusammenhänge zwischen unterschiedlichsten Zwängen, die mich seit meiner Kindheit begleitet hatten. 

Ich war schockiert, da ich mehr als 20 verschiedene Zwänge identifizieren konnte, die bis in meine jüngste Kindheit hinein reichten. Da war von blasphemischen Zwangsgedanken bis hin zur Angst verrückt zu werden, Depersonalisationsstörungen und dem Gefühl, Rituale durchführen zu müssen, wie z. B. 20 Mal um einen Stuhl rennen, alles dabei. Schon als Kind hatte ich manchmal Phasen, wo ich nicht im Auto mitfahren wollte, aus Angst, gegen meinen Willen während der Fahrt die Autotür öffnen zu müssen. Oder ich bekam im Theater Angst, aufzustehen und laut losschreien zu müssen. 

Je mehr ich mein Leben analysierte, desto mehr entdeckte ich viele weitere Zwänge, die, wie ich heute meine, aus übersteigertem Perfektionismus resultieren. 

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Beispielsweise der Zwang, sich perfekt gesund zu ernähren: Stundenlang kreisten meine Gedanken ums Essen. Oder das perfekte Ordnungssystem zu haben: Niemals ein Lebensmittel wegzuschmeißen und wirklich zwanghaft Stunden damit zu verbringen, wie ich die Lebensmittel perfekt verbrauchen könnte. Der Sparzwang, ja keinen Euro in irgendeiner Weise zu verschwenden, sodass ich auch manchmal schier verzweifelte, wenn das nicht gelang. Oder der Drang, nach jedem Gespräch oder Treffen mit Leuten zu analysieren, was man wie gesagt und eventuell falsch gesagt hat, oder ob man Leute verletzt hat. Und so weiter und so fort - die Liste würde lang werden, würde ich alles aufzählen.

Ich erkannte auch, dass meine Vergangenheit (verschiedene Erfahrungen und meine Erziehung), aber vor allem meine Genetik eine große Rolle spielen. Ich habe zwei Elternteile, die beide sowohl perfektionistisch veranlagt sind als auch unter Ängsten leiden. Perfektionismus gepaart mit Angst ist wiederum die „beste“ Voraussetzung, dass Zwangsgedanken entstehen und einen in die Verzweiflung treiben.

Was mir im Umgang mit meinen Zwängen geholfen hat

In der anfangs geschilderten Zeit vor gut einem Jahr fing ich an zu recherchieren und stieß unter anderem auf die Website von OCD Land. Ich begann, mich in die Thematik hineinzulesen. Es war wie eine Offenbarung zu sehen, wie viele andere auch unter Zwangsgedanken leiden und dass man nicht alleine dasteht. Vor allem der Bericht von Sarina über ihre Hyperfokussierungszwänge war wie ein Aufatmen für mich. Er sprach mir so aus der Seele. 

Auch einige Beiträge im Forum sowie Artikel und Youtube-Videos von OCD Land halfen mir sehr. Durch das Buch Tyrannen in meinem Kopf* lernte ich immer mehr, mir bewusst zu machen, dass die Gedanken selbst nicht schaden können, sondern immer Gedanken bleiben werden, und dass es „nur“ die Angst ist, die diese Gedanken aufrechterhält. Das Bild des nervenden Partygastes war für mich eine Erleuchtung. Ich habe meine Zwangs-Kontrollgedanken kurzerhand „Erna“ genannt und mir eine alte Frau mit Krückstock vorgestellt, die mich tyrannisiert. Das hat meine Ängste extrem entschärft.

Hilfreich, um weniger unter meinen Gedanken zu leiden, waren zudem die sechs Schritte aus dem Buch „Tyrannen in meinem Kopf“:

  1. Die Gedanken zunächst einmal zu erkennen,
  2. sie zu benennen und festzustellen, dass sie bloß Gedanken sind,
  3. sie zu akzeptieren, d.h. sich wirklich mit ihnen anzufreunden und nicht mehr heimlich den Wunsch zu hegen, sie doch wieder los zu werden,
  4. die Gedanken neutral zu beobachten,
  5. Zeit gewinnen und
  6. weitermachen.

Diese Schritte konnte ich insbesondere auf meine Hyperfokussierungszwänge anwenden. Immer mehr lernte ich, die Gedanken, mich selbst zu beobachten, nicht mehr loswerden zu wollen, sondern sie wirklich komplett zu akzeptieren und damit zu leben. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, sind speziell die Hyperfokussierungszwänge nur noch wenig vorhanden. Aber auch, wenn sie stärker wiederkommen würden oder werden, ist das nicht schlimm.

Was ich auch tat, war, jeglichen Rückzug zu vermeiden. Das war schwer, aber ein notweniger Teil der Besserung. Ich ging gerade dann zu Feiern, wenn ich das Gefühl hatte, mit niemandem mehr kommunizieren zu können. Dann zu sehen, dass es dennoch möglich ist, sich nett mit Menschen zu unterhalten, auch wenn dein Kopf dir permanent das Gegenteil sagt, war so befreiend.

Was mir jedoch ganz besonders im Kampf gegen meine Zwänge geholfen hat, ist mein Glaube an den Gott der Bibel. In der Zeit der größten Angst habe ich mich viel damit beschäftigt, wer Gott ist und was die Bibel über ihn sagt. Ich bin überzeugt davon, dass er allmächtig ist und dass jeder, der sich an ihn wendet, keine Angst mehr vor irgendetwas haben muss (Psalm 27,1). In dieser intensiven Angstphase habe ich das erlebt und konnte von meinem Perfektionismus loslassen, um meinen Fokus auf Gott und andere Menschen zu richten.

Ich bin sehr dankbar zu sehen, wie Gott alles zum Guten verändert hat und dass auch unrealistische Ängste dabei kein Hindernis für ihn waren. Die Bibel sagt, dass Jesus gekommen ist, um Menschen wirklich frei zu machen (Johannes 8,36), wenn sie zu ihm umkehren. Das kann ich von ganzem Herzen bezeugen. Auch wenn ich hin und wieder Rückfälle habe, fühle ich mich von meinen Zwängen nicht mehr versklavt. Im Gegenteil. Ich bin sogar froh und dankbar darüber, denn jeder Rückfall gibt mir Gelegenheit, neu auf Gott zu vertrauen und zu sehen wie er durchträgt.

Anmerkung der OCD Land-Redaktion

Die Mission von OCD Land ist es, fundierte Informationen über wissenschaftlich basierte Behandlungsansätze für Zwangsstörungen bereitzustellen. Dabei ist es uns wichtig zu unterstreichen, dass persönlicher Glaube – obwohl er für einige Betroffene von großer Bedeutung sein mag – keine wissenschaftlich basierten, leitliniengerechten Therapieverfahren ersetzen kann.

Wir erkennen jedoch an, dass bspw. im Rahmen der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) individuelle Werte und Ziele eine unterstützende Rolle im Therapieprozess spielen können. Das kann für die einen die Familie sein, für andere ein bestimmtes Hobby und für wiederum andere ihr Glaube. Der Bericht von Damaris wurde unter anderem mit der Absicht veröffentlicht, diese Perspektive darzustellen.

Es ist uns wichtig zu betonen, dass dieser Bericht eine individuelle Sichtweise und Erfahrung darstellt und nicht als allgemein gültiger Ansatz für die Behandlung von Zwangsstörungen angesehen werden sollte. Wir wollen ein breites Spektrum an Erfahrungen teilen, dabei aber stets den Fokus auf evidenzbasierte, wissenschaftlich fundierte Behandlungsmethoden legen.

Damaris, 32 Jahre

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