Vom Home-Office in die Psychiatrie: Aggressive Zwangsgedanken nach zwei Fehldiagnosen
Von Marie, 26 Jahre
Rückblickend begann meine Geschichte mit dem Zwang nach der Pandemie. Während der Pandemie habe ich nur im Home-Office gearbeitet und so gut wie keine Menschen gesehen. Ich wollte mich und andere schützen. Was dabei wohl lange auf der Strecke blieb, war mein Bedürfnis, soziale Kontakte zu pflegen.
Nachdem alle Geschäfte wieder öffneten, merke ich, dass ich mich zunehmend schlecht fühlte. Irgendwann kam ich nicht mehr allein zu recht, sodass ich mich in Therapie begab. Laut meiner Therapeutin litt ich unter einer (generalisierten) Angststörung und die haben wir auch versucht zu therapieren.
Ich habe mich echt überall hingeqüalt, habe meinen Alltag versucht zu schaffen und mich immer wieder der Angst gestellt. Dabei habe ich mich komplett verloren und 13 kg abgenommen. Egal wie oft ich mich der Angst stellte, es wurde einfach nur erträglicher, aber jeder Tag war immer noch ein Kampf.
Dann kam der November 2023. Ich merkte, dass irgendwas nicht stimmt. Mein Umfeld sagte mir, dass ich ja immer mal wieder so Phasen hatte, aber diesmal war es anders! Wie ein Vulkan, der bald ausbricht. Und das tat er auch.
Meine ersten Zwangsgedanken, die ich bewusst wahrgenommen habe
Mitte November nahm ich meine ersten aggressiven teilweise suizidalen Zwangsgedanken wahr und diese trafen mich wie ein Blitz. Ich konnte nicht mehr klar denken. Mein Körper zitterte und ich bekam Todesangst. Ich habe gar nichts mehr verstanden. Ich wollte diese Dinge doch auch gar nicht tun!
Es hat keine drei Tage gedauert und ich war ein einer Psychiatrie. Dann die erste Entwarnung: „Sie haben Zwangsgedanken!“
Ich blieb 10 Wochen dort und bin so unglaublich dankbar über diese Zeit. Es war die schlimmste Zeit in meinem Leben, aber endlich lernte ich zu verstehen, was in meinem Kopf passiert.
Ich bin überwiegend von dem Subtypen False-Memory-OCD betroffen. Typische Gedanken sind:
- Habe ich mich vergiftet?
- Habe ich irgendetwas verschluckt?
Anfangs hatte ich auch immer Angst, dass ich Menschen attackieren könnte oder unbemerkt überfahren hatte.
Lesefaul?
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Als ich die ersten Wochenenden zu Hause war, musste mein Freund die Küche abschließen, weil ich so panische Angst hatte, dass ich ihn mit Messern angreife. Dasselbe bei Putzmitteln: Ich habe alles weggesperrt. Jetzt weiß ich natürlich, dass das der komplett falsche Weg ist, aber wenn man so laute und schlimme permanente Gedanken hat, schenkt man diesen leider zu viel Glauben.
In der Klinik lernte ich viel über die Krankheit und wir machten auch viele Expositionen. Eine Pflegerin sagte zu Beginn direkt: „Stellen Sie nichts weg, der Zwang findet immer einen Weg“. Und so ist es auch! Ihr habt immer und überall die Möglichkeit, euch oder wem anders etwas zu tun, aber der Punkt ist doch, dass ihr es nicht wollt! Ich kann über mich selbst sagen, dass ich echt ein total lieber, hilfsbereiter Mensch bin und das Leben liebe. Ich habe mein Herz am rechten Fleck und genau deshalb treffen uns diese Gedanken so hart.
Mittlerweile kann ich sagen, dass ich mein Leben mehr genieße als all die Jahre nach der Pandemie. Ich kann wieder zur Arbeit fahren, ohne davor zu weinen. Ich kann Freundinnen besuchen, den Alltag meistern und meinen Hobbys nachgehen. Es ist so wichtig, dass ihr eine(n) gute(n) Therapeut(in) habt. Meine erste hat leider meine Zwangsstörung nicht erkannt. Jetzt habe ich eine neue, die sich super auskennt.
Meine Botschaft an euch
Ich möchte euch Mut machen - ich selbst kenne es, wenn man total am Ende ist. Die Psychiatrie ist ein warmer Ort und ich bedanke mich von Herzen für diese Zeit. Setzt euch an erste Stelle und lasst euch helfen. Niemand verurteilt euch. Ihr habt eine Krankheit und die kann man so gut therapieren, sodass ich zum Beispiel ein halbes Jahr später mehr Erfolge sehe als nach drei Jahren mit eigenen Versuchen und falscher Therapie (denn eine Angststörung habe ich gar nicht). Und wie schon gesagt: Früher oder später bahnt sich der Zwang eh einen Weg. Seid lieb zu euch. Ihr seid nicht eure Gedanken.
Es war mir schon seit November 2023 ein großer Wunsch, auf OCD Land etwas zu veröffentlichen und etwas zurückzugeben. Diese Seite hat mir in der schlimmsten Zeit Hoffnung gemacht. Danke an das gesamte Team!
Marie, 26 Jahre
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